Italo Calvino 100

Sammler der Reihe „Volk und Welt Spektrum“ in der verblichenen DDR begegneten ihm, ob sie wollten oder nicht. „Herr Palomar“ hieß das Büchlein von 1987, nur 140 Seiten stark, aus dem Italienischen übertragen von Burkhart Kroeber, gedruckt in Lizenz des Carl Hanser Verlags. Es war die Nummer 220 der schwarz-weißen Bände, für deren Gestaltung Lothar Reher (29. Juni 1932 – 6. April 2018) zuständig war. Bei Volk und Welt Berlin war es, wenn ich mich nicht verzählt habe, seit 1962, als „Der Baron auf den Bäumen“ erstmals erschien, der später innerhalb der Trilogie „Unsere Vorfahren“ erneut gedruckt wurde, der zwölfte Titel, die drei Bände Erzählungen von 1979 einzeln gezählt. Calvino fehlte auch in Anthologien nicht, etwa in „Erkundungen. 27 italienische Erzähler“ oder in der zweibändigen Sammlung „Italienische Erzähler aus sechs Jahrzehnten“, deren zweiter Band „Die Smogwolke“ aus dem Jahr 1958 präsentierte, immerhin 50 Seiten lang. Natürlich hat die auffallend gute Präsenz Calvinos in der DDR damit zu tun, dass er über einen längeren Zeitraum Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens war und auch nach seinem Austritt 1957 nicht zum bellenden Anti-Kommunisten mutierte. Anderen „Renegaten“, so über lange Zeit die DDR-Nomenklatur, erging es deutlich schlechter, bisweilen wurden sie einfach nur zu Unpersonen.

Meine früheste Begegnung mit Calvino hatte ich, ohne zu ahnen, dass es eine war. Ich sah den Film „Boccaccio 70“ von 1961, wann genau, weiß ich natürlich nicht mehr, es war ein Episodenfilm, in dem Mario Monicelli (16. Mai 1915 – 29. November 2010) für die erste Episode verantwortlich zeichnete. Die deutsche Fassung war, wie ich heute weiß, heftigst gekürzt. Neben Monicelli waren auch Federico Fellini, Vittorio de Sica und Luchino Visconti beteiligt. Mehr ging nicht, müsste man rückblickend sagen. Monicelli aber nahm sich das „Abenteuer zweier Eheleute“ (italienisch: L'avventura di due sposi) als Vorlage, enthalten im Band 3 „Racconti“ in der Fassung von 1969. Dass Calvino seine Erzählungssammlungen immer wieder einmal revidierte, neue dazu nahm, alte Texte aussonderte, ist ein Fall für Sammler und Vollständigkeitsfanatiker, zu denen ich nicht gehöre. Man liest von etwa hundert Erzählungen, bekommt aber frei Haus dazu den Hinweis geliefert, dass Calvinos „Gattungsnomenklatur mithin einer gewissen Willkür nicht entbehrt“. (Dietmar Frenz) Das ist freundlich formuliert, bedenkt man, was heute alles als Roman firmiert, nur, weil sich das besser verkauft. Bei Calvino heißt ein Unterschied „romanzi brevi“ und „racconti lunghi“, was, wenn man ehrlich sein möchte, auch niemandem wirklich weiterhilft beim Lesen.

In einem Fragebogen gab Calvino diese Auskunft: „Geboren wurde ich am 15. Oktober 1923 in Santiago de las Vegas, einem Dorf in der Nähe von Havanna, wo mein Vater, ein aus San Remo stammender Agronom, eine landwirtschaftliche Versuchsstation leitete und meine Mutter, eine Botanikerin aus Sardinien, seine Assistentin war.“ In einem „Porträt nach Maß“ überschriebenen Text heißt es: „Ich komme aus einer Familie von Naturwissenschaftlern; mein Vater war Agronom, meine Mutter Botanikern, beide Universitätsprofessoren. … Ich bin das schwarze Schaf, der einzige Literat der Familie. … Von Cuba habe ich leider nichts in Erinnerung, denn mit weniger als zwei Jahren war ich bereits in Italien, in San Remo, wohin mein Vater mit meiner Mutter zurückgekehrt war, um eine Versuchsstation für Blumenzucht zu leiten.“ Wer heute die Blumenriviera besucht, 80 Prozent aller Schnittblumen Italiens stammen von da, sieht möglicherweise an diesem oder jenem Stand Blüten, die dem Hause Calvino entstammen. Sohn Italo blieb bei Mama und Papa, bis er 20 Jahre alt war, wurde Partisan in den Wäldern, die er bestens kannte, um dann, ab Herbst 1945, zu schreiben und zu publizieren. Er hatte das große Glück, früh von Cesare Pavese (9. September 1908 – 27. August 1950) und Elio Vittorini (23. Juli 1908 – 12. Februar 1966) entdeckt zu werden.

Pavese war es, der gleich den ersten Roman Calvinos freundlich besprach, „Wo Spinnen ihre Nester bauen“ ist der deutsche Titel: „Ihm machen die Worte keine Angst, aber sie steigen ihm auch nicht zu Kopf: solange sie einen Sinn haben, solange sie Nutzen stiften, spricht er sie aus, gebraucht sie hemmungslos, wirft mit ihnen herum, so wie man Zweige aufs Feuer wirft.“ Ich bezweifle vorsichtig, dass diese Beschreibung eine Vorstellung vermittelt, die zum Buch führt: aber es klingt gut. Aufs Feuer beispielsweise wirft man Zweige eher gezielt als herum, sie landen sonst daneben. Immerhin steht in dieser Kritik auch „Calvino, dieses Eichhörnchen der Feder“, was gern zitiert wird. „Wenn man den Roman liest, so glaubt man nach einem windigen Tag weit entfernt liegende Berghänge zu betrachten.“ Auf dem flachen Land, hieße das, erweckt Calvino also die falschen oder gar keine Assoziationen. „Eine Buchseite soll nicht ein Duplikat des Lebens sein, das wäre unnütz; aber sie soll diesem Leben gleichwertig sein.“ Auch das klingt gut, bis man anfängt, es zu durchdenken. Wenn schon eine einzige Buchseite dem Leben gleichwertig sein kann, was machen dann die restlichen 199 Seiten eines 200-Seiten- Buches, ersetzen sie das Leben vollständig, machen sie alle weiteren Bücher und alle andere Autoren überflüssig? Natürlich meint es Pavese anders!?

„Fenster zur Welt“ heißt ein großformatiges Buch des Ch. Links Verlags Berlin, das im Oktober 2003, vor 20 Jahren also auch schon wieder, als Begleitbuch zu einer Ausstellung herausgegeben wurde, Untertitel „Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt“. Herausgeber waren Simone Barck (10. Juli 1944 – 16. Juli 2007) und Siegfried Lokatis, der Anfang des Monats 67 Jahre alt wurde. Dort fiel Magda Martini (Jahrgang 1975) die Aufgabe zu, zur italienischen Literatur im Haus an der Glinkastraße zu sondieren. Es entstand eine leider schematische, leider nicht von Vorkenntnissen zehren könnende Übersicht, der auf so schmaler Basis auch keine differenzierende Sicht gelingen konnte. Immerhin spielte Calvino bei ihr eine leicht exponierte Rolle: „Die Bücher Italo Calvinos waren Thema vieler Debatten im Verlag: Sein erstes angenommenes Werk, „Der Baron auf den Bäumen“, kam erst nach einigen Diskussionen heraus. 1962 dominierte die Meinung, das Buch biete „ein buntes Bild des italienischen Spätfeudalismus mit seinen dünkelhaften, meist verarmten Adligen und den in ihren Häusern lebenden Schmarotzern“. Auch in den folgenden Jahrzehnten wurden Calvinos Werke nicht mit Einstimmigkeit angenommen.“ Da wäre es sehr interessant gewesen zu erfahren, ob es solche Einstimmigkeit je gab und wenn ja, wen sie traf.

Martini, inzwischen eine namhafte Autorin und in Bozen wirkend, zitiert noch den Lektor Andreas Klotsch, der „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ ablehnte (1985 erschien es dennoch): „Calvino gehört für uns zu jenen Autoren, deren jeweils neuestes Buch der Gutachter mit erwartungsvoller Spannung und zugleich dem bangen Gefühl in die Hand nimmt, daß er nach selbstquälerischem Hin-und-her-Urteilen während der Lektüre am Ende trotz auf den Hand liegenden Qualitäten des Textes möglicherweise dennoch nicht für seine Publizierung in der DDR plädieren kann.“ Es galt immer, einer jeweils aktuellen, nie aber irgendwo verbindlich fixierten Linie zu folgen, die sich oft änderte. Grundlegend und nie eingestanden war aber die ihren eigenen Grundsätzen heftig widersprechende Annahme der SED und ihrer Vollzugsorgane, dass dem Volk, sprich: den Arbeitern und Bauern nebst Bündnispartnern mangels Mündigkeit nicht alles zugemutet werden dürfe. Das Volk war in den Augen seiner Partei- und Staatsführung nicht fähig, sich eigene Urteile zu bilden, es musste, je nachdem, mit heftiger Behutsamkeit oder mit behutsamer Heftigkeit auf die aktuell wahre Wahrheit verwiesen werden. Das führte zu endlosen Vor- und Nachworten, deren Abwesenheit in aller Regel eher auffiel als dieser oder jener Tabubruch im Nanobereich.

Joachim Meinert, Übersetzer, Herausgeber, Nachwortautor, plaudert unmittelbar nach Martini im genannten Buch aus seinem Nähkästchen: „Ich selbst fand die „Erkundungen“ nicht so gut lesbar. Einen Band von 30 Kurzgeschichten zu lesen, das ist nicht die reine Freude. Man springt von einem Thema zu anderen, nach acht Seiten ist es wieder aus, und man muss sich in die nächste Geschichte hineinversetzen.“ Das führt dann bei Volk & Welt dazu, dass die Herausgeberin Thea Meyer neun Seiten Calvino aufnimmt, während Meinert als Freund längerer Novellen fünfzig Seiten bringt. Wir lernen, von welchen Vorurteilen und Zufällen Editionen abhängig sein können. Natürlich ist kein Mensch gezwungen, eine Anthologie, einen Sammelband in fortlaufender Lektüre zu lesen. Ich kenne sehr gute Leser, die geradezu froh sind, nicht zu lange an einen Band gezwungen zu werden, was sicher dazu führt, dass manche Bücher nie oder erst nach Jahren endlich vollständig gelesen sind. Meinert aber hat die Sicht des Übersetzers und auch die des Kritikers, der ohnehin mit allem fremdelt, was nicht Roman heißt, weil der Irrtum zu seinen Grundüberzeugungen gehört, man müsse alles, was zwischen zwei Buchdeckeln sich findet, auf dubiose gemeinsame Nenner bringen. Das führt zu absurden Lyrik-Kritiken und zu selten besseren für Kurzprosa-Bücher aller Art.

Denis Scheck, der Mann, dem die Bücher vom Laufband purzeln und der sich gelegentlich als Stichwort-Lieferant für einen Autorinnen-Monolog nicht zu schade ist, der als Interview getarnt erscheint, ist auch für andere Zuspitzungen gut. Als er den von Andreas Klotsch noch abgelehnten Roman „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ für seine Kolumne „Schecks Kanon“ bejubelte, schrieb er erst: „Italo Calvino ist der abgebrühteste Zocker unter den großen Spielern der Weltliteratur.“ Um dann den Schluss umstandslos „das schönste Happy End der Weltliteratur“ zu nennen. Solche Aussagen sind seriös nicht nachprüfbar. Was das für ihren Wert bedeutet, falls er nicht für den Schutzumschlag des Buches als Werbung gedacht ist, will ich mit Schweigen kommentieren. Wer bitte liest ein Buch, das ein Kritiker als „Irrlauf durch die Spiegelgärten der Postmoderne“ bezeichnet? Und von dem eine Kritikerin gar für ein Lexikon zusammenfasst: „Kritiker warfen Calvino vor, er habe sich in Paris, wo dieser Roman entstand, zu sehr mit den avantgardistischen Semiologen eingelassen, und daher stehe die Beobachtung des eigenen Schreibens, das Essayhafte, das Experiment, zu sehr im Vordergrund.“ Es ist herrlich, wenn sich ein Kritiker hinter dem anderen/der anderen verstecken kann, das Buch ist damit, wie schön, umstritten.

Dass Calvino ganz offensichtlich Zeit seines nicht sonderlich langen Lebens ganz privat Vergnügen an Experimenten, an Versuchsanordnungen, an Parodien, Nacherzählungen hatte, dass er dem Zeitgeist keineswegs absichtsvoll aus dem Weg ging, sondern eher dessen Angebote für sich selbst testete, war ihm und ist ihm zu gönnen. Liest man knappe Inhaltsangaben zu seinen zahlreichen Erzählungen, dann hat man phasenweise den Eindruck, es handle sich um Prosa gewordene Produkte des absurden Theaters. Inhalt aber ist für Strukturalisten, Poststrukturalisten, Semiotiker, Semiologen und andere -logen Gift. Man müsste auf Kommunismus kommen, auf Partisanen, man hätte die Frage zu beantworten, warum ausgerechnet sein Bericht über seine Sowjetunion-Reise 1951 nie ins Deutsche übersetzt wurde. Zum 90. Geburtstag Calvinos füllte Thomas Schmid eine ganze Seite, die erste sogar, in der „Literarischen Welt“, die einst Willy Haas begründet hatte. Ein Magier“ stand oben links auf der Seite und darunter: „Damals wurde noch gezaubert: Ein Plädoyer für Italo Calvino und sein Italien“. Für mich als einschlägig Geschädigten wäre es eine Gelegenheit zu erkennen: es gibt doch Chefredakteure, die schreiben können, auch wenn sie dann einmal keine Chefredakteure mehr sind. Nur ein Satz von ihm: „Er machte sich immer wieder zu einem anderen.“

Einmal hat Calvino sich die Frage vorgelegt „Warum Klassiker lesen?“ Bei Fischer ist daraus ein Taschenbuch der Reihe „Fischer Klassik“ geworden, bei Hanser in München war es zehn Jahre früher in der „Edition Akzente“ zu haben. Darin trägt Calvino Definitionsvorschläge vor, die sagen wollen, was Klassiker sind, am Ende sind es vierzehn, die hier weder zitiert noch kommentiert werden sollen. Zumal meine Definition einerseits nicht vorkommt und andererseits durch seine in Frage gestellt wird. Denn er bleibt konsequent bei Büchern, ich beziehe für mich Film und Musik ein: Klassiker sind Werke, die ich immer wieder genießen kann, auch wenn ich sie längst kenne. Das empfinde ich freilich im Theater zuerst, wenn ich „Kabale und Liebe“ fast so oft gesehen habe wie Fontane oder „Was ihr wollt“. Es gibt Filme, da ich die Dialoge mitsprechen kann. Bei Büchern würde ich es nicht verifizieren wollen: auch wenn mich „Der Idiot“ umwarf wie „Der Zauberberg“, würde ich sie nie erneut lesen, weil mir die Zeit fehlt angesichts alles dessen, was ich noch nicht gelesen habe. Calvino aber tut mir unendlich wohl, wenn er die Aufmerksamkeit auf eine kleine intellektuelle Verlogenheit lenkt: „Der Ausdruck „wiederlesen“ kann eine kleine Heuchelei derer sein, die sich schämen zuzugeben, dass sie ein berühmtes Buch nicht gelesen haben.“ Das ist so.

„So stellt sich also heraus, dass die Lektüre der Klassiker für den am „ergiebigsten“ ist, der es versteht, sie fein dosiert mit aktueller Lektüre abzuwechseln.“ Dass unter Calvinos eigenen Klassikern Joseph Conrad einen stabilen Platz einnimmt, hat keineswegs nur mit seiner frühen Doktorarbeit über den Engländer mit polnischem Migrationshintergrund zu tun, die er bald sehr kritisch sah. Conrad starb, als Calvino noch kein Jahr alt war. „Ich glaube, bei vielen von uns war es ein Rückfall in die Jugendliebe zu Abenteuerschriftstellern, was uns Conrad nahegebracht hat, aber nicht zu reinen Abenteuerschriftstellern, sondern solchen, bei denen das Abenteuer dazu dient, etwas Neues über den Menschen auszusagen, und die Ereignisse und fremden Länder dazu dienen, ihre Beziehung zur Welt deutlicher erkennbar zu machen.“ 1959 wäre beinahe Günter Grass der Reisegefährte von Calvino in Amerika geworden, doch Grass „hat die medizinische Prüfung nicht bestanden und musste wegen des barbarischen Gesetzes, dem zufolge man für die Einreise nach Amerika eine gesunde Lunge haben muss, auf das Stipendium verzichten.“ Gesund genug war der Spanier Fernando Arrabal, wie auch Hugo Claus, der Flame. Allein was Calvino über Arrabal ins Reisetagebuch schrieb (im Fischer-Band „Eremit in Paris“), lohnt die Lektüre. Heute wie morgen.


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