Etwas über Elisabeth Langgässer
Manchmal sind selbst in einem scheinbar ewigen Entstehungsprozess endlich zum Buch werdende Literaturgeschichten einfach nur schlecht informiert. Band 12 der voluminös ehrgeizigen „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“, „Literatur der BRD“ (von einem Autorenkollektiv, Leitung Hans-Joachim Bernhard) liefert ein unklassisches Beispiel. Von Elisabeth Langgässer heißt es dort: „1936 erhielt sie Schreibverbot; ihre älteste Tochter wurde im KZ ermordet.“. Was natürlich nicht stimmt, denn Tochter Cordelia, zu Anfang 1929 geboren, wurde zwar nach Theresienstadt deportiert und von dort später nach Auschwitz, überlebte das Lager aber, was Mutter Elisabeth jedoch erst 1946 erfuhr. Das als Standardwerk gedachte Buch, 1983 in Berlin erschienen im Verlag Volk und Wissen Volkseigener Verlag, überging auch (großzügig oder unwissend) die Versuche der Dichterin, dem Schreibverbot zu entkommen, die bis zur persönlichen Kontaktaufnahme mit Joseph Goebbels gingen, aber von keinerlei Erfolg gekrönt waren. Auch das zweibändige „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart“ (VEB Bibliographisches Institut Leipzig 1968) schrieb glatt: „die älteste ihrer vier Töchter wurde im KZ Auschwitz ermordet“. Solch grobe Falschinformationen muss man im Westen Deutschlands suchen.
Und wird schneller fündig, als man hoffen wollte. Zum Beispiel Horst Krüger. Der schrieb für die sehr verbreitete Ausgabe „Ausgewählte Erzählungen“, Claassen Verlag Hamburg, ein Nachwort. Krüger (17. September 1919 – 21. Oktober 1999) fand sich dazu in einer vermeintlich privilegierten Lage, kannte er doch Elisabeth Langgässer seit Mitte der dreißiger Jahre, er war damals 16 Jahre alt. Folgt man nur dem Nachwort, wie ich es ganz naiv tat, dann hat man Grund sich zu wundern: wie kommt die Beziehung zwischen einem Sechzehnjährigen und einer volle zwanzig Jahre älteren Frau, die bequem seine Mutter hätte sein können, zustande? Sie gibt ihm Einblick in Briefe, sie weist ihn auf Bücher hin, sie kommt sogar zu ihm, Radio Beromünster hören, Feindsender hieß das damals, Krüger schreibt das, als wäre es der Normalfall der Zeit gewesen. Mitten im Nachwort aber verweist er auf sich selbst, auf das Kapitel „Wer will nach Theresienstadt?“ in seinem Buch „Ostwest-Passagen“ (Hamburg 1975). So greife ich zu diesem Buch, um das genannte Kapitel erst einmal nicht zu finden. Denn es ist, ich streite nicht über das Etikett, ein Abschnitt innerhalb eines Kapitels. Und dies trägt den Titel „Böhmische Melancholien. Aufzeichnungen aus Prag“. Das Buch mit dem Untertitel „Reisebilder aus zwei Welten“ gibt keine exakte Auskunft über die Reisezeit.
Auf alle Fälle ist sie nach dem August 1968 einzuordnen. „Jetzt kommt ein Schnitt. Erinnerungen an Berlin. Berliner Erinnerungen: Sie war damals vierzehn, ich siebzehn. Sie hieß Cordelia und wir waren befreundet. Wir wohnten Haus an Haus, Garten an Garten in Berlin-Eichkamp. Wir waren gemeinsam aufgewachsen, hatten Hopse und Himmel und Hölle, Räuber und Gendarm, später Federball zusammen gespielt, über den Gartenzaun weg.“ Cordelia, es soll hier kein Geheimnis suggeriert werden, das gar keines ist, ist die älteste Tochter von Elisabeth Langgässer, die seit der Heirat mit dem katholischen Philosophen Wilhelm Hoffmann eigentlich Elisabeth Hoffmann heißt. Die Familie wohnt im Nobelviertel Eichkamp und Zaun an Zaun eben die Familie Krüger. Die frühe Bekanntschaft mit Elisabeth Langgässer war also nichts weiter als ein schlichtes Bekanntsein mit der Mutter der drei Jahre jüngeren Spielgefährtin, die Hinwendung zu Horst eine mütterliche, die immer wissen will, mit wem die eigenen Kinder denn da spielen. Auch Horst Krüger macht sich, so ich sehe, nie Gedanken über den Namen Cordelia (sie hieß mit zweitem Vornamen Maria), darin allen anderen, die über die Mutter schreiben, verhaltensgleich. Dabei böte der Name der dritten Tochter von König Lear, gekoppelt mit dem Namen Maria, die Chance zu manch Gedankenspiel.
Noch bevor er das offene Geheimnis enthüllt, wer diese Cordelia („Sie war vorehelich. Ihr natürlicher Vater war ein jüdischer Professor gewesen“) nun wirklich war, steht dann der erste Krüger-Satz, der mir buchstäblich die Sprache verschlug: „Damals musste ja an jeder Haustür, hinter der ein Jude wohnte, der Judenstern angebracht werden. Cordelia belastete und bedrohte jetzt ihre Familie. Ihr Haus wurde zum Judenhaus deklariert.“ Das ist barer Unfug. Kein Haus trug je den Judenstern in Deutschland, die Verordnung zum Tragen aus dem Oktober 1941 galt für das äußerliche Anbringen an der Kleidung. An der Stelle in Berlin, wo das Haus stand, in dem die gelben Textilsterne hergestellt wurden, findet sich heute eine Gedenktafel. Wie kann ein angeblich so ausgewiesener, so dauergelobter Journalist und Autor solch vollkommene Ahnungslosigkeit präsentieren und niemand in Verlag oder Redaktion verweist es ihm? Krügers Ehrgeiz, nach Theresienstadt zu wollen, ist der zu sehen, wo Cordelia leben musste, ehe sie auf Transport nach Auschwitz ging. Nun hagelt es geradezu weiteren haarsträubenden Unfug bei gleichzeitigem Geständnis tiefster Ahnungslosigkeit. Cordelia ist („Man nennt das Passion des Opfergangs“), „allein und für sich, erst in ein Berliner Getto und dann nach Theresienstadt gegangen“. Ist sie das?
Es gab in Berlin zu keinem Zeitpunkt ein Ghetto, schon gar nicht mehrere. Es gab Wohngegenden, im so genannten Scheunenviertel beispielsweise, wo ganze Straßen überwiegend oder gar ausschließlich von Juden bewohnt wurden, Ostjuden hauptsächlich. Die wohlhabenden, die gern auch assimilierte Juden genannten, die lebten im Westen, Charlottenburg oder eben Grunewald, Eichkamp. Ohne Scham schreibt Krüger nun: „Bis dahin wusste ich gar nicht, das Theresienstadt nur sechzig Kilometer von Prag entfernt liegt. Ich hatte es in Polen vermutet.“ Setzen, Krüger, kann man da nur sagen, Sie haben das Klassenziel verfehlt. Aber es geht ja weiter: „Auch Auschwitz ist heute nur noch ein Schlagwort, das jeder benutzt. Es ist untauglich für Lokaltermine.“ Hat er das wirklich geglaubt? Oder einfach nur so hingeseiert? „Schon ab Sommer1942 war Theresienstadt nichts als eine Zwischenstation, ein Durchgangslager für die, die nach Auschwitz kamen.“ Ein bisschen hat er sich kundig gemacht, aber eben nur ein bisschen. Tatsächlich sahen Rot-Kreuz-Delegationen das „Muster-Ghetto“ noch 1944 und es war nie, wie Krüger dreist behauptet, das größte in Osteuropa. Da hätte er dann tatsächlich an Polen denken dürfen. Doch einen Korken lässt er noch knallen: im August 1968 sind wahrscheinlich DDR-Truppen durch Terezin einmarschiert.
Sind sie nicht. Sie sind weder über Terezin noch andernorts ein- und durchmarschiert. Abermals: Setzen, Krüger. Klassenziel verfehlt. Wie ist so einer Top-Mann bedeutender Medien geworden, dem die Süddeutsche das Weihrauchkesselchen schwenkt auf dem Rücktitel der „Ostwest-Passagen“: „Gründe genug, vom reinen Lesevergnügen zu schweigen, um diese Reisebilder zu lesen“. Soll das heißen: Ein Lesevergnügen für Ahnungslose? Krüger verrät immerhin, dass die in Schweden lebende Cordelia von Eichkamp und ihm nichts mehr wissen will. Nahezu gleichlautend bei Krüger und anderen der Befund: „Damals war sie die berühmteste Frau unseres literarischen Lebens, für wenige Jahre wenigstens.“ Niemand widersprach, so weit ich sehe: obwohl man doch Ricarda Huch hätte nennen können, oder ab 1947 auch Anna Seghers. Der Westen, man muss es deutlich sagen, delektierte sich an Länggässer. Der immer wieder behauptete große Erfolg: war er tatsächlich einer bei Leserinnen (und Lesern)? Oder jubelte nur das entnazifizierte Feuilleton? Bohrten sich die üblichen Interpretier-Verdächtigen in die Untiefen der beiden Spätromane? Sie kamen zu ähnlichen bis gleichen Einsichten, zogen nur keine oder die falschen Folgerungen daraus. Dabei wissen wir längst: es gibt eine Literaturgeschichte der ungelesenen Romane für Professoren.
Gleich zweimal erzählt Krüger in seinem Nachwort, die Kinder von Eichkamp hätten gerufen „Der Tuschkasten kommt“, wenn sie Elisabeth Langgässer erblickten. Das war nicht als Kompliment gedacht: Kindermund folgte Elternmund. Und auch im Nachwort präsentiert sich Ahnungslosigkeit. Langgässers Nähe zur Zeitschrift „Die Kolonne“ steht überall verzeichnet, nur wechseln die Namen, die damit gekoppelt sind. Die Zeitschrift existierte von 1929 bis 1932, Herausgeber waren A. Arthur Kunert (4. Juli 1905 – 1. August 1958) und Martin Raschke (4. November 1905 – 24. November 1943). Beide Namen kennt Krüger offenbar nicht, nennt aber Stefan Hermlin als zum Kreis gehörend, den sonst niemand in diesem Zusammenhang nennt. „Große literarische Erfolge kommen immer dann zustande, wenn bedeutende Werke im richtigen Augenblick das Zeitgefühl einer Generation treffen.“ Ist damit der Kurzzeiterfolg von Langgässer nach 1945 erklärt? Von welcher Generation ist die Rede? Krüger stellt sich keineswegs blind für die einstige Nachbarin: „Man kann sogar sagen, die Langgässer sei an ihrer großartigen Konzeption des christlichen Mysterienromans gescheitert. Aber das Scheitern der großen Begabungen in der Literatur ist natürlich immer noch fruchtbarer, wichtiger … als das serienmäßige Gelingen all der braven und bequemen Alleskönner.“
Doch weiter bis zum bitteren Ende: „Immer noch ist das Muster der klassischen Anekdote zu erkennen, aber jetzt ist es zur knappen, harten Short-Story verkürzt.“ Das wäre ein Thema für einen literarischen Workshop: Wie verkürzt man eine Anekdote zur Kurzgeschichte? Krüger nennt zwei Titel aus „Der Torso“ und einen aus „Späte Erzählungen“ als repräsentativ: „Untergetaucht“ und „Glück haben“ sowie „An der Nähmaschine“: „Sie wenigstens gehörten als Pflichtlektüre in jedes deutsche Schulbuch.“ Das scheint irgendwie geklappt zu haben, jedenfalls gibt es mehr Interpretationen für Unterrichtszwecke als sonstige zu Langgässer. „Sie starb im Sommer 1950 auf der Höhe ihres kurzen Ruhms. Sie war mit ihrer Familie 1948 in ihren hessischen Heimatort Rheinzabern zurückgekehrt.“ Das stimmt insofern, als sie wirklich nach Rheinzabern umzog von Berlin aus, nur war es nicht ihr Heimatort, aber wir wissen inzwischen schon: Horst Krüger eben. Weil der Name fälschlicherweise schon fiel, springe ich von Stephan Hermlin zu Luise Rinser. Ihm wies Carl Corino vor Jahren in einem leicht schnellschüssigen Buch seine große biographische Lebenslüge nach, überzeugte dabei durchaus, was Hermlin den Zug durch den Kakao des West-Feuilletons einbrachte. Rinsers sehr ähnliche Lebenslüge zog weniger Sturm im Wasserglas nach.
Obwohl das, was an Nazi-Nähe aus ihrem Leben nach 1933 inzwischen zweifelsfrei nachgewiesen ist, sehr viel schwerer wiegt als Hermlins unheldische Heldentaten für den Kommunismus. Auch sie hat einige Seiten über Elisabeth Langgässer gefüllt. Die sollen ein wenig nach Frauensolidarität duften, riechen aber an etlichen Stellen eher nach Bosheit. Luise Rinser war 1988 die erste Trägerin des Elisabeth-Langgässer-Literaturpreises der Stadt Alzey; worauf ich mich hier beziehe, findet sich in Rinsers Buch „Der Schwerpunkt“ von 1960. Ich zitiere zuerst ihr Fazit: „Alles ist in dieser unerhört komplexen Person: die übergebildete Schulmeisterin, die dilettierende Theologin, die überaus scharf beobachtende, hart zupackende und sprachmächtige Schriftstellerin, die erotisch zumindest potentiell bis in die Perversität hinein erfahrene Frau, die Mystikerin, die asketische Einsiedlerin, die fast hybride Intellektuelle, die besorgte Mutter, die den Alltag bewältigende Hausfrau, die demütige Nonne, die versucherische und vom Teufel versuchte Magierin – dies alles ist in ihr, schauerlich divergierend und doch – mit Anstrengung – zusammengehalten von dem, was sie „Glaube“ und Gnade“ nennt.“ Es ist zu vermuten, dass Rinser mit diesem langen Satz und sich selbst sehr zufrieden war, nachdem sie sich zuvor schon als seltene Eingeweihte präsentiert hatte.
Denn, so ihre mehrfach mehr oder minder deutlich ausgesprochene Botschaft: nicht jeder kann die beiden Spätromane „Das unauslöschliche Siegel“ und „Märkische Argonautenfahrt“ einfach so verstehen. Es gehört ein gewisses Sondersensorium dazu, man könnte hier schon sagen, des Kaisers neue Kleider müssen einem tatsächlich erscheinen, damit man sie sichtbar nennen kann. Zum Beispiel Rationalisten können die Langgässer nicht verstehen, sagt Rinser, ohne sich näherhin auszulassen, wer denn solche Rationalisten seien nach 1945. Den Beitrag des Irrationalismus zur Vorbereitung und Fundierung des deutschen Faschismus haben kluge Köpfe herausgearbeitet. Es ist schlechterdings unerlaubt, fundamentale Weltdeutungen derart als gleich zu werten, dass die einen erkennbare Gesetze voraussetzen, und die anderen annehmen, Gott würfle oder wette mit Satan oder befinde sich in einem schaukelnden Verfahren mit dem gefallenen Engel. Langgässer hat sich mehrfach und nachlesbar unmissverständlich gegen Aufklärung, gegen Luther und alles, was von ihm in Deutschland ausging, ausgesprochen, sie hat es als Teufelszeug deklariert. Das stand ihr natürlich frei, nur nach 1945 war es eine alles andere als kluge Idee, dem Teufel in die Schuhe zu schieben, was eben an Krieg und Massenmord geschehen. Es war Verschleierung. Blind oder aktiv.
Rinser lobt Naturschilderungen und Nebenfiguren bei Langgässer, was zugleich natürlich bedeutet: Hauptpersonen und Gesellschaft wie Geschichte in ihrer Darstellung sind nicht zu loben. Falls sie das nicht so meinte, hätte sie sich anders ausdrücken müssen. „Ein großer Teil der Leser des „Unauslöschlichen Siegels“ gibt unumwunden zu, das Buch nicht zu verstehen und nicht zu lieben.“ Woher um alles in der Welt weiß Luise Rinser das? Hat sie Befragungen durchgeführt, Leser-Soziologie betrieben, wirkungsästhetische Studien gelesen? Natürlich nicht, sie verallgemeinert einfach nur dreist auf typisch intellektuelle Weise. Wenn einer schreibt: Man fühlt sich erinnert, dann meint er immer sich, er ist der belesene Schlaumeier, dem ständig Paralellen und Vorbilder einfallen, die 99 Prozent aller Normalleser gar nicht einfallen können, weil sie sie nicht kennen. Rinser zählt auf, was man alles kennen und wissen müsste, um Zugang zu finden. Das befindet sie: „Dies alles müsste man haben, nicht nur um jedes der vorkommenden Gleichnisse, jede der hundert Anspielungen zu verstehen, sondern auch um zu beweisen, wie willkürlich sie Fakten deutet, wie schief oft ihre Bilder sind und wie sie dennoch in der Mitte des Irrtums den eigentlichen Sinn mit Sicherheit trifft.“ Das ist sehr schräg: Willkür, schiefe Bilder plus Sinn in der Mitte des Irrtums.
Vom schöpferischen Menschen meint Rinser: „Vom Hitzegrad seiner inneren Bereitschaft hängt das Maß der Gnade ab, und von seiner Redlichkeit und seinem Fleiß die Vollendung des Werks.“ Eckhard Henscheid würde vielleicht an dieser Stelle fragen, ob man sich Gott hier als potentiell Gnädigen mit einer Art Badethermometer vorstellen müsse, welches er intravenös (oder rektal) in die Hitze führt, ehe er dann den Gnadenhahn aufdreht. Henscheid, für diejenigen, die ihn nicht kennen, hat seine zweite Jugend inzwischen auch hinter sich, war weniger ein Gottes- als ein Rinser-Lästerer. Seine nach dem Vorbild von Lichtenberg verfassten „Sudelblätter“ ließen einst keine Gelegenheit aus, einen Verbalschlag gegen Luise Rinser zu führen, die 1984 sogar deutsche Bundespräsidentin werden wollte, aber gegen Richard von Weizsäcker nicht genügend Stimmen auf sich vereinte. Sie deutet nun emsig an den beiden schwer- bis unverständlichen Romanen herum und sammelt nebenher immer Negativa: „Die Hauptpersonen der Langgässer sprechen alle, ob Mönch oder Stallknecht, die gleiche bilderreiche sibyllinische Sprache von Leuten, die viel in den Psalmen gelesen haben … Das ist ermüdend für den Leser, doch folgerichtig im Werk der Langgässer“. Was alle Psalmenleser gefreut haben dürfte, der Rest war eben einfach ausgegrenzt.
Doch Rinser weiß, wem Leser-Gnade blüht: „Man wird diese Behandlung als Gewinn buchen, wenn man Spürsinn für notwendige Experimente hat. Man mag es als Verlust bedauern und als Fehler ankreiden, wenn man an den Maßstäben des traditionellen Romans festhalten will. Und man muss zugeben, dass auf solche Weise der Roman an Lebensbreite verliert ...“. Es macht freilich den antitraditionellen Roman nicht besser oder auch nur lesbarer, wenn man ihn aggressiv in eine Frontstellung bringt, die ihm nicht hilft. Es sind immer nur selbstverliebte Intellektuelle, die sich von allem und allen unterscheiden wollen und für diese Selbstwerttherapie sich Katzenmusik anhören, Geschmiere und Gekritzel als Kunst genießen und Experimentalromane durchblättern in der Hoffnung auf das Ende eines 59-Seiten-Satzes oder ein Semikolon nicht an der falschen Stelle. „Elisabeth Langgässers Hang zur Abstraktion steht in stark gespanntem Verhältnis zu ihrer Sinnlichkeit.“ Die wirkliche, nicht die eschatologische Geschichte der Welt hat leider einen sehr fatalen Zusammenhang von katholischer Sinnlichkeit und Kindesmissbrauch in vielen Ländern der Erde erwiesen. Die Kasper der sexuellen Revolution der sechziger und siebziger Jahre haben sich über Katholiken lustig gemacht, die niemals im Leben ihren Partner nackt sahen. Lang ist es her.
Alt ist auch die Tradition, dass man möglichst heftig gesündigt haben muss, um möglichst noch heftiger Buße tun zu können. Im Mittelalter waren Geißler unterwegs mit blutigen Rücken und die Folterknechte der Inquisition folterten am liebsten nackte Frauen. Selbst die Einsatzgruppen der SS erschossen lieber nackte als angezogenen Jüdinnen. Die beschreibende Verklemmung auch von Luise Rinser, die, wie man lesen kann, eine Kritikerin der katholischen Kirche war, ohne ihr je den Rücken per Austritt zu kehren, ist groß: wo in der Langgässer-Geschichte „Mars“ aus „Triptychon des Teufels“ von 1932 eine Vergewaltigung geschieht, redet sie von einer „tödlich endenden Ausschweifung“. Die eine Szene findet Rinser „abscheulich gut“, die andere „schauerlich schön“ und zwar ist das die „Beschreibung der nächtlichen Begattung zweier großer weißer Schwäne“. Leda, Leda, du entschwandest! „Das Gespinst ausgeklügelter Fabeln langweilt mich und ödet mich an als ein Atavismus ...“, verstanden wohl als Rückfall in primitive Zustände aus uralten Zeiten von Langgässer. Sie tat sich, glaube ich, keinen Gefallen mit ihren Selbstverteidigungen und -deutungen, ich lasse mich im Zweifelsfall sehr gern belehren. Rinser jedenfalls erfindet noch den „intensiv begreifenden Leser“ als Begnadeten, das ist die gesteigerte Form des gewöhnlichen Begreifenden.
„Die Zeit ist in einem solchen akausalen Weltbild ohne Bedeutung.“ Doch bleibt auch dann die dumme Wahrheit bestehen, dass für jeden einzelnen, was immer er denkt oder blind glaubt, am Ende die Welt wirkmächtiger ist als das Weltbild, die Zeit einfach dickfellig tut, was sie seit dem Urknall tut: sie vergeht. Denn die Welt gab es, als noch niemand ein Bild von ihr hatte, und sie wird es geben, wenn die letzte Generation ausgestorben ist mitten im Klimawandel. „Zu scheitern ist eigentlich das Zeichen der Auserwählung.“ Zitiert Rinser aus Langgässer. Das abstrakt-allgemeine Geschwafel führt in erschreckende Konsequenzen: „Dem feineren Gefühl aber ist jeder Sieger in seinem Triumph suspekt. Es ist edler, einem großen Gegner zu erliegen; nichts Entwürdigendes ist darin. Wer sich einen kleinen Gegner wählt, mag siegen; sein Triumph ist eitel und dumm.“ Solche Küchenphilosophie, die von Rinser offenbar Langgässer abgewonnen oder unterstellt ist, wirft die Frage auf, ob Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion und gegen die USA zugleich deshalb edel war, die Niederlage eben traurig? Zeichen scharfen Denkens ist es nie, wenn es die Konsequenzen der eigenen Thesen nicht zu überschauen vermag, geschlechtsunabhängig natürlich. Sollte Rinser gemeint haben, Langgässer posthum zu helfen, dann griff sie nur in den Kübel aus „Glück haben“.
Nicht viel anders wirkt ihr Griff zu den Briefen Langgässers. Sie zitiert ohne Zeitangabe einen, in dem es heißt: „Ich bin seit vierzehn Tagen ohne Mädchen … und an mir hängt einfach alles: Putzen, Kochen, Einholen, Feuern, Wäsche – alles, alles“. Ja, Kruzitürken, die Dame hatte anders als Millionen Frauen in Deutschland und der Welt ein Mädchen für das alles, während der katholische Professor offenbar keinen Finger rührte im Hause. Dann zitiert Rinser, wieder ohne Datum, vermutlich, um es nicht noch schlimmer zu machen: „Ich habe mir (in Paris) ein ganz kleines Fläschchen Parfüm gekauft und einen zauberhaften Schmuck auf meinen schwarzen Pullover“. Fuhr man also zum Einkauf ins besetzte Paris? Heinrich Böll schickte seiner späteren Gattin Annemarie als Besatzungssoldat immer französische Kleinigkeiten, was er nie komisch fand (und erbat sich im Gegenzug Pervitin, das nur am Rande). Ist solches Zitieren tatsächlich nur das Vorzeigen von schlichter Menschlichkeit oder schnöde weibliche Infamie? „Zugegeben: für Nichtkatholiken, für Rationalisten, für alle Ahnungslosen eine chiffrierte Botschaft ohne Schlüssel.“ Arroganter geht kaum, Luise Rinser. Ich hätte gern noch Ursula Krechel und Karl Korn herangezogen, auch Krechel war Trägerin des Elisabeth-Langgässer-Preises: 1997 nach Wulf Kirsten und vor Christa Wolf.
Ich breche lieber ab und zitiere mein altes Tagebuch vom 26. Juli 2020: „Als sie am 25. Juli 1950 an den Folgen ihrer Erkrankung an Multipler Sklerose starb, war sie 51 Jahre alt. Was immer sie an Seltsamkeiten ihres religiösen Weltbildes ausgeprägt hatte, zu welchen teils haarsträubenden Konsequenzen ihr Denken führte: die sehr kurze Geschichte „Saisonbeginn“ ist ganz große Literatur. Und wenn sie nur diese dreieinhalb bis vier Druckseiten geschrieben hätte, müsste sie in jeder deutschen Literaturgeschichte exponiert genannt werden. Gemeint ist Elisabeth Langgässer, deren Ruhm nur sehr kurz währte und sich nie erneuerte.“ Heute, am 125. Geburtstag Langgässers, nehme ich es allen übel, die an den kurzen Geschichten aus „Der Torso“ einfach vorbeigehen und stattdessen Felgaufschwünge an den Romanen zelebrieren. Selbst der vermeintliche Experte für deutsche Kurzgeschichten, Manfred Durzak, 85 Jahre alt inzwischen, hat von zehn Seiten zu ihr mehr als die Hälfte über alles Mögliche geschrieben, nur nicht über ihre Kurzgeschichten. Dass es inzwischen mehrere monographisch-biographische Arbeiten über Langgässer gibt, wissen die wenigen Experten ohnehin, zuletzt war es Sonja Hilzinger, davor Frederik Hetmann, davor Ursula El-Akramy. Und es gibt: „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ von Cordelia Edvardson, der Tochter.