Eugène Ionesco: Der Herrscher

Jedes Jahr, ich weiß, werden in 163 Feuilletons Stoßseufzer und ähnliche kolumnistische Ergüsse der Öffentlichkeit präsentiert, soweit diese das noch wahrnimmt, die den Umstand beklagen, dass wir alle uns ständig von Jahrestagen zu Jahrestagen hangeln. Selbst die Hauptnachrichten in der an Nachrichten ärmsten Zeit zwischen den Feiertagen, oder, wie man im Westen sagt, zwischen den Jahren, sind froh, dass es einmal einen wunderschönen Tsunami gab, zu dem auch noch reichlich Bildmaterial vorliegt sowie echte Überlebende herumlaufen. Also: 2019 stand Ende März der 25. Todestag von Eugène Ionesco bevor. Ich griff, ganz sicher unter mildem Zeitdruck, zu seinem Band „Theaterstücke II“, fand dort „Der Herrscher“, ideal kurz, folglich sehr schnell zu lesen. Das tat ich. Dann aber nichts mehr. 2021 schrieb ich für meine Rubrik BÜCHER BÜCHER „Eugène Ionesco: Die Unterrichtsstunde“, leicht nachlesbar also. Dann aber nichts mehr. Und nun ist schon der 30. Todestag im Arbeitskalender markiert, am Ende von „Der Herrscher“ steckt immer noch das nun fünf Jahre alte Lesezeichen, es gibt keinen Grund, die Gelegenheit nicht beim Schopfe zu packen.

„Der Herrscher“, tut mir leid, das sagen zu müssen, ist keiner. Meine Kenntnisse des Französischen sind jämmerlich, meine Fähigkeit, nachzuschlagen, kann sich dagegen durchaus beobachten lassen. Und da finde ich, dass man „Le Maître“ natürlich auch mit „Der Herrscher“ übersetzen kann, die Variante aber steht in der Reihe der Möglichkeiten mal auf Platz 5, mal knapp davor. Nach nunmehr zweimaliger intensiver Lektüre der Szene, der Stücktextes lässt sich kaum sagen, bin ich sicher: der Text selbst spricht gegen seine Überschrift. Nun kann man das der Übersetzerin Erica de Bary kaum noch vorwerfen, sie ist zwar tatsächlich hundert Jahre alt geworden, doch ging auch dieses lange Leben den Weg allen Lebens. Es endete am 17. April 2007. „Le Maître“ ist 1951 oder auch 1953 entstanden, die zweite Zahl stammt von Wikipedia und ist deshalb vielleicht eher zu bezweifeln. Ich fand keinen Hinweis auf eine Uraufführung, die es doch wahrscheinlich gegeben hat, dafür einen auf eine Laien-Aufführung an der Katholischer Hochschule Mainz anno 1995. Was mir wenig half. Ernst Wendt (12. Juli 1937 – 12. August 1986), Theaterkritiker, Theaterregisseur (später) und Mitbegründer von „Theater heute“, kennt „Le Maître“ in seinem Ionesco-Buch von 1967 gar nicht.

Das sieht bei Martin Esslin (6. Juli 1918 – 24. Februar 2002) anders aus. In seinem Standardwerk „Das Theater des Absurden“ heißt es: „Dasselbe Prinzip des Komischen kommt in „Le Maître“ zur Anwendung. Ein Rundfunkreporter und zwei junge Paare fiebern dem Augenblick entgegen, da sie einen berühmten Mann in persona sehen werden (in der deutschen Übersetzung heißt er „Der Herrscher“, was aber vielleicht irreführend ist. Es kann sich auch um eine literarische Größe handeln, die man in Frankreich ja mit Maître anzureden pflegt). In den höchsten Tönen ekstatischer Bewunderung wird verkündet, was der berühmte Mann alles tut, bevor er auf der Bühne erscheint – er küsst kleine Kinder, isst seine Suppe, gibt Autogramme, lässt sich die Hosen bügeln und so weiter. Als er schließlich auftritt, ist er ein Mann ohne Kopf.“ Da sind wir, Esslin hat sich höflich ausgedrückt, mitten im Problem. Erica de Bary hat aus dem Rundfunkreporter einen Ansager gemacht, den sie vielleicht von Thornton Wilder her kannte, der dort aber eine andere Funktion hatte als ihr Ansager. „Le Maître“ erscheint tatsächlich erst ganz am Ende überhaupt auf der Szene.

Bei Ionesco stehen sechs Personen im Verzeichnis, alle namenlos. Es sind: Der Herrscher, Der Ansager, Der Bewunderer, Die Bewunderin, Der Liebhaber, Die Liebhaberin. Im Text selbst wird der Liebhaber zum jungen Liebhaber, die Liebhaberin zur jungen Liebhaberin. Es ist kaum nachzuvollziehen, warum das Personenverzeichnis nicht das aufführt, was dann auftritt. Völlig überraschend aber hat die junge Liebhaberin auf einmal einen Namen für den jungen Liebhaber, was weder zum gesamten Szenentext noch zu den Eigenheiten Ionescos passen will. Vielleicht steht ja alles so im Original, dann wäre es eine unerklärliche Autorenschwäche. Vielleicht aber wollte die Übersetzerin, nachdem sie sich schon einmal inhaltswidrig für „Der Herrscher“ entschieden hatte, ein zusätzliches Signal einbauen: Adolf ist spätestens seit 1933 nicht irgendein Name. Wer 1932 seinen Sohn Benito nannte, hat vermutlich auch nicht damit gerechnet, dass dieser eines Tages in der DDR Mitglied der SED sein würde und ein eifriger Parteigänger. Der Ansager tut Untypisches für einen Ansager, denn er fungiert bei Ionesco eben nicht als Träger dieser oder jener Form von epischem Theater a la Brecht. Sein Reportage-Text ist dramaturgisch nicht mehr als Mauerschau.

Alles, was dieser „Ansager“ dem Bewunderer und der Bewunderin mitteilt, geschieht unsichtbar im Hintergrund, in den Kulissen, von allerlei Geräusch begleitet, von Jubel, Hurrageschrei. Wenig davon wäre einem Herrscher zuzuordnen, weil der es keinesfalls öffentlich tun würde. Sich seine Hose bügeln lassen etwa, was ja nur bedeuten kann, dass er derweil unten ohne agiert, „sans culottes“ gewissermaßen. Personenkult um einen Stalin, Massenhysterie um einen Hitler, das sah anders aus, selbst wenn Ionesco daran gedacht haben sollte und die Übersetzerin das bemerkt hätte. „Der Herrscher streichelt einen Igel, einen herrlichen Igel!“ Ein Reporter könnte das gut sagen, der spricht ja nicht zwei zu spät gekommene oder am falschen Platz stehende Bewunderer an, sondern ein großes Publikum. Bei Ionesco ist dieser Ansager-Reporter selbst ein Dauerläufer, er rennt nach hinten, lässt die Bühne leer, rennt nach vorne und wartet abermals vergeblich mit seinem Mini-Fanblock. Immer ist zwischendurch kurzzeitig die Bühne leer, rechtzeitig tauchen Liebhaber und Liebhaberin auf, schließlich begegnen sich alle sogar und es gibt einen Partnertausch. Die Dialoge, soweit man sie so nennen kann, sind haarsträubend, sie sind, das Schlagwort zu nutzen: absurd.

Ionesco lässt den Reporter sagen: „... ein Strohhalm wird ihm gereicht, er weiß, es ist Spaß …“. Für pfiffige Blitzmerker will das heißen: Der greift nach jedem Strohhalm, befindet sich also in einer Lage, aus der es wenig Rettung zu geben scheint. Vielleicht aber braucht auch nur irgendein schlauer Fotograf ein Motiv, zu dem sich tiefsinnige Bildtexte verfassen lassen. Die er sich selbst extra bezahlen lässt. „Er riecht an Blumen und Früchten, die im Bach wachsen. Er knabbert auch an Baumwurzeln. Er lässt die ganz kleinen Kindlein zu sich kommen. Er hat Vertrauen zu allen Menschen. Er führt die Polizei ein. Er begrüßt die Gerechtigkeit. Er ehrt die großen Sieger, ehrt die großen Besiegten. Und jetzt sagt er Verse her.“ Nein, ein Herrscher ist das nicht. Was aber ist es? „Der Herrscher lutscht am Daumen!“ Die Antwort ist vermutlich einfach: Es ist Eugène Ionesco. Als nämlich der Nämlich endlich sichtbar wird, hat er keinen Kopf und der Autor erläutert im Regietext, wie das ganz einfach gespielt werden kann: Mantelkragen hoch und so weiter. Die Bewunderin sagt wie in „Des Kaisers neue Kleider“: „Aber, aber … er hat keinen Kopf, der Herrscher!“ und der „Ansager“ antwortet ihr schlagend: „Er braucht keinen, denn er hat Genie.“

Die Szene endet, indem sich alle Beteiligten nach ihrem Namen fragen. „Das Abenteuer Ionesco“ hieß ein Büchlein aus dem Züricher Stauffacher Verlag, 1957 erschienen. Es begann mit dem Text einer Rede, die Albert Schulze Vellinghausen (30. Mai 1905 – 23. Mai 1967) am 4. Mai 1957 in Darmstadt hielt, wo es die deutschsprachige Erstaufführung von Ionescos „Opfer der Pflicht“ gab, Regie Gustav Rudolf Sellner (25. Mai 1905 – 8. Mai 1990). Sellner inszenierte „Opfer der Pflicht“ zusammen mit „Die Unterrichtsstunde“ an diesem Abend, später „Mörder ohne Bezahlung“ sogar als Uraufführung, dann „Jakob oder Der Gehorsam“ an einem Abend zusammen mit Max Frisches „Biedermann und die Brandstifter“, fürs Fernsehen 1961 noch die „Nashörner“. Ein Statement von ihm nach der genannten Rede im Buch scheint mir arg überambitioniert. Während der Kritiker mit dem Kürzel ASV Sätze formulierte, die das Urteil von Ernst Wendt (siehe oben) rechtfertigen: „Schule Vellinghausen hat wie kein anderer durch seine Kritiken in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Verständnis für den Autor in Deutschland beigetragen und vielleicht sogar geholfen, ihn auf dem deutschen Theater durchzusetzen.“ Einige der Kritiken sind gesammelt nachzulesen.

In Bochum sah er „Amédée“, in Darmstadt „Die Unterrichtsstunden“ und „Opfer der Pflicht“, in Köln „Die Zukunft liegt in den Eiern“. Seine Rede aber begann er so: „Ein englischer Kritiker hat gesagt, Ionesco empfehlen sei genau so gefährlich, wie seinen Freunden ein Lieblingshotel empfehlen. Man laufe Gefahr, die Hälfte seiner Freunde zu verlieren.“ Wobei zu beachten wäre, dass bisweilen das Lieblingshotel nur deshalb eins ist, weil es am Ort zugleich das einzig bekannte oder gar das einzige ist. Ich verweile bei der Mai-Rede nur, weil sie mir den überraschenden Zweitbeleg der Tatsache bot, dass die sattsam bekannte „Banalität des Bösen“, verbunden mit dem Namen Hannah Arendt wie Müller mit Thurgau in der verbreiteten Rebsorten-Bezeichnung, eben schon da war, ehe sie zur stehenden Wendung wurde. „Daher ist es – scheint mir – außerordentlich ahnungslos, die Achseln hochmütig zu zucken, wenn dieser Dramatiker Ionesco die Todesgewalt der Banalität enthüllt.“ „Ihm gilt“, so Schulze Vellinghausen, „das Wort als echtes Element eines Theaterschocks. Gerade auch das abgegriffene Wort.“ Im Büchlein aus Zürich folgen Ionescos „Ganz einfache Gedanken über das Theater“. Aus denen ich nur dies zitieren will: „Es ist wahr, dass alle Autoren Propaganda machen wollten. Die Großen sind die, welchen das nicht gelungen ist“.


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