Karl Kraus 150

Zuallererst ist Karl Kraus ein Sätze-Mann. Einer, für mich maßgebend, der Sätze zu schreiben vermochte, vor denen ich, im Geiste natürlich nur, auf die Knie gehen kann und sagen: das hätte sehr gern ich geschrieben. Seine Sätze über Heinrich Heine gehören für mich nicht dazu. Seine Tiefschläge gegen das Feuilleton auch nicht. Wer aber konnte sagen: „Wer etwas zu sagen hat, stehe auf und schweige!“ Das muss einer sagen können. Wer etwas dagegen meint, stehe auf und schweige nicht. Mein alter Lateinlehrer, der inzwischen wirklich ein alter Lateinlehrer ist, lebend, mobil auf der Erde und im Kopfe sowieso, hörte einst mit skeptischer Verwunderung von meinen Affinitäten bezüglich Kraus. Da kannte ich die hübschen Bekenntnisse von Elias Canetti noch nicht, der entwaffnend schrieb: „Alles hätte ich eher von ihm geglaubt als seinen Namen und dass ein Mensch dieses Namens zu dem imstande war, was man ihm zuschrieb.“ Das steht in dem Abschnitt des zweiten Teils von „Die Fackel im Ohr“, der mit „Karl Kraus und Veza“ überschrieben ist, wo eben auch nachzulesen ist, wie er während der 300. Vorlesung von Kraus im Großen Konzertsaal am 17. April 1924 (kleines Jubiläum) jene Veza kennenlernte, aus der später Veza Canetti wurde.

„Die Fackel im Ohr“ findet man als Buchtitel womöglich seltsam, wenn man denn über Buchtitel nicht überhaupt schnell weg sieht. Man kann aber auch den Ungarn János Szabó ernst nehmen mit seinem schlicht wahren Satz: „Von Karl Kraus sprechen, heißt also eigentlich von der „Fackel“ sprechen.“ Karl Kraus war „Die Fackel“, auch wenn er sie erst ab 1911 vollkommen allein schrieb. Um noch einmal Canetti zu zitieren, der Kraus zunächst im Konjunktiv begegnet, ehe er ihn selbst erlebt: „Das sei der strengste und größte Mann, der heute in Wien lebe. Vor seinen Augen finde niemand Gnade. In seinen Vorlesungen greife er alles an, was schlecht und verdorben sei. Er gebe eine Zeitschrift heraus, die er ganz allein schreibe. Alle Zusendungen seien unerwünscht, von niemandem nehme er einen Beitrag an, auf Briefe gebe er keine Antwort.“ Klänge es nicht so sehr abgedroschen, dass Kraus Anstoß genommen hätte, müsste man sagen: „Die Fackel“ war eine Institution in Wien, aber das war und ist eben auch der Wiener Zentralfriedhof. „Die Fackel im Ohr“ ist anders als der Floh im Ohr, den man, laut Überlieferung, dorthin gesetzt bekommt, was ihn vom Ohrenkriecher unterscheidet, der sich eigenfüßig hinein begibt zu höchst eigennützigen Zwecken.

Franz Blei, wenn ich es nicht missverstanden habe, nahm in sein berüchtigt-berühmtes „Bestiarium literaricum“ auch „Die Fackelkraus“ auf, von der man im Dickicht der Fußnoten erfährt, dass gar nicht der Doktor Blei, den wiederum Ferdinand Hardekopf so sehr liebte, dass er von seinem Stil „ich bete ihn an“ schrieb, diesen Gallenextrakt zu Papier brachte, sondern Carl Schmitt (11. Juli 1888 – 7. April 1985), der ein Nazi war und ein so genannter Klassiker des politischen Denkens, was auf die, die so denken, ein bedenkliches Licht schleudert. Von Blei zweifelsfrei selbst sind fünf Druckseiten „Karl Kraus“. Dort lesen wir: „Karl Kraus hat es immer abgelehnt, ein Kritiker von irgendetwas zu sein. Mit Recht. Seine schreibende Tätigkeit hatte keinerlei bestimmtes Wissen zur Voraussetzung, das ein kritisches Ziel fixiert. Alles Kritische ist diskursorisch und das war Kraus in keiner Minute seiner apodiktischen Karriere.“ Die DDR-Sammlung „Polemiken Glossen Verse und Szenen“, 1971 im Leipziger Reclam-Verlag erschienen, eröffnet mit einem Text, der sich als „Offener Brief an das Publikum“ vorstellt unter der Überschrift „Apokalypse“. Es ist der einzige Text, in dem der Vorbesitzer meines antiquarischen Exemplars Spuren hinterließ, mit Bleistift.

„Wer von sich selbst spricht, weil kein anderer von ihm spricht, ist lästig.“ Das ist unterstrichen. „Ich sage, dass der einzige öffentliche Übelstand, den noch aufzudecken sich lohnt, die Dummheit des Publikums ist.“ Da findet sich nur ein Kreuzchen an der Seite. Es wäre schön, wenn es das homogen dumme Publikum gäbe. Gefährlicher scheint mir heute das homogen hyperschlaue Publikum, noch gefährlicher alle schreibenden und öffentlich denkenden Strategen, die die homogene Dummheit des Publikums voraussetzen. Karl Kraus hätte an heutigen Medien seine dunkle Freude. „Ich habe manchen Gedanken, den ich nicht habe und nicht in Worte fassen könnte, aus der Sprache geschöpft.“ Man soll nicht blättern im Kraus, man kommt vom hundertsten ins hunderterste. Also: „Der Journalismus dient nur scheinbar dem Tage. In Wahrheit zerstört er die geistige Empfänglichkeit der Nachwelt.“ „Sozialpolitik ist der verzweifelte Entschluss, an einem Krebspatienten eine Hühneraugenoperation vorzunehmen.“ Was wäre gewonnen mit dem Nachweis, dass Karl Kraus nicht Dichtung schrieb, dass Aphorismen auf keinen Fall Dichtung sind?Als wäre Dichtung direkt unterm Wort Gottes angesiedelt, wo die Luft vermutlich sehr dünn ist.

Als ich am 26. April 1997 (Zufall des Datums) „Karl Kraus, sein Hass, seine Liebe“ von Marcel Reich-Ranicki las, in gekürzter Fassung zuerst in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 5. Februar 1977, notierte ich mir am Ende: „So fast ausschließlich über den Mann und nicht über das Werk hat MRR selten geschrieben.“ In der Tat, MRR hielt sich am ausführlichsten auf bei der im Kösel-Verlag München 1974 erschienenen zweibändigen Edition „Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin“. Mit einigen Zitaten aus diesen sehr privaten Briefen, die dennoch von ihrem Verfasser durchaus mit Blick auf eine spätere Veröffentlichung geschrieben und deshalb vor allem auch von der Adressatin kopiert wurden, belegt er vor allem: „Was zunächst auffällt, ist das keineswegs vorbildliche Deutsch.“ Reich-Ranicki räumt ein, dass es Zeitgründe gewesen sein könnten, die den mit Arbeit tatsächlich überlasteten Kraus davon abhielten, sich selbst hierbei so sorgfältig zu redigieren wie all seine sonstigen eigenen Texte. Dass es auch von Rainer Maria Rilke einen Briefband gibt an genannte Sidonie, nutzt Reich-Ranicki, um den Dichter als denjenigen zu entlarven, der den Konkurrenten Kraus gar mit einem antisemitischen Argument ausbooten wollte.

Die Briefe an Sidonie kannte auch Wolfgang Koeppen schon, als er am 27. April 1974 seinen Beitrag zum bevorstehenden 100. Geburtstag von Karl Kraus in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erscheinen ließ. Er verwies auf jenen (ungenannten) Brief, „der einer Geliebten gemeldet hatte, in Liebesnot, sein Zimmer sei voll Galgen“, es ist der Brief vom März 1914, den auch Reich-Ranicki erwähnte und zitierte. Koeppens Beschreibung des Vortragskünstlers Karl Kraus geht so: „Rebellische Intellektuelle saßen zu seinen Füßen andächtig wie Wagnerianer im Festspielhaus zu Bayreuth. Auf dem Podium tobte Rumpelstilzchen. Man glaubte, es zerreiße ihn, dass vielleicht noch einer nicht wusste, wer Karl Kraus war.“ Ohne den ersten Satz kehrt das bei Reich-Ranicki wieder. Für Wolfgang Koeppen war Karl Kraus „ein Narr, der sich mit Narren einließ, ein Mensch, der Hunde mochte und sich wie ein Hund in andere verbiss, ein Jude, der gegen Juden schäumte, ein Deutschlehrer, der in den Jargon stieg, um an die Kehle zu gehen.“ Koeppen erinnerte auch an jene berühmte Rede von Kraus aus dem Jahr 1914, betitelt „In dieser großen Zeit“. Dort steht, im Druck auf der erste Seite, mit Ausrufezeichen am Ende, der oben zitierte Satz vom Schweigen.

Ein besonders krasser Fall von absichtsvollem Missverständnis darf auch am 150. Geburtstag von Karl Kraus noch in Erinnerung gehalten werden. Am 30. März 1923 veröffentlichte „Die rote Fahne“, von Beginn an als „Zentralorgan“ ausgewiesen in unterschiedlichen Untertitel-Fassungen, den Beitrag „Eine Kampfschrift gegen den Krieg der Bourgeoisie“, der weder im Titel noch in der ersten Hälfte des Textes erkennen ließ, dass es um das 800-Seiten-Buchdrama „Die letzten Tage der Menschheit“ von Karl Kraus gehen sollte. Geschrieben hatte das seltsame Werk der Ungar Georg Lukács (13. April 1885 – 4. Juni 1971), der 1923 auch sein in mancher Hinsicht folgenreichstes Werk veröffentlichte: „Geschichte und Klassenbewusstsein“, dem heute attestiert wird, ein Grundlagenwerk des Neomarxismus über das Klassenbewusstsein zu sein. Man dürfte darüber trefflich streiten, hier aber geht es um Karl Kraus. Dessen Drama Lukács besondere Qualitäten zuschreibt: „Es gibt ein photographisch und phonographisch treues Abbild von dem Krieg, wie er wirklich gewesen ist.“ „Und immer monumentaler werden die Bilder. Ohne ihre Naturwahrheit einzubüßen lösen sie sich immer mehr vom Boden der bloßen Nachahmung der Wirklichkeit ab“.

„Wer wissen will, wer sich erinnern will, wie dieser Krieg wirklich war, der lese dieses Buch.“ Das war knapp fünf Jahre nach dem Ende des Krieges eine abenteuerliche Empfehlung. Den Beinlosen, die eine Lizenz zum Leierkastenspiel erhalten hatten als Ausgleich ihres Verlusts, musste niemand ein phonographisch treues Abbild vorhalten. Denen, die noch den Geschmack der Kohlrübensuppe und der Margarine-Ersatzschmiere auf der Zunge lag, musste niemand auf die Erinnerungssprünge helfen. Das war nun einfach nur nackte (und dumme) kommunistische Propaganda, die ein über jedes Maß monumentales Werk benutzen zu dürfen glaubte. „Denn trotz alledem bleibt dieses Buch die beste Kampfschrift gegen den imperialistischen Krieg, die wir besitzen“, einige Zeilen weiter oben war es „die beste Propagandaschrift“. Man stelle sich die proletarischen Lesezirkel vor, die statt der Schriften von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, von Clara Zetkin und sogar noch Franz Mehring, der erst 1919 starb, nun zu 800 Seiten Karl Kraus griffen, obwohl, wie Lukács natürlich wusste und mitteilte, „die Stimme des revolutionären Proletariats“ im Drama fehlt. Das Fehlen solcher Stimmen wurde später im real existierenden Sozialismus Auslöser für Zugriffe.

Natürlich hat sich auch der Österreicher Alfred Polgar des Österreichers Karl Kraus angenommen. Seinen Nachruf begann er: „Das Einzigartige an der Erscheinung des großen Wiener Publizisten Karl Kraus – von dem Genialischen dieser Erscheinung abgesehen – war die vollkommene Deckung von Mann und Werk.“ „Kraus hatte den schärfsten Blick für das Niedrige, Lächerliche, Verlogene, Armselige, das sich in Drucklettern, in Buch und Zeitung, manifestiert und eine überlegene Kunst, es in satirisches Licht zu rücken, in ein Licht von erbarmungsloser, zerstörender Grellheit.“ Auch hier Polgars unschlagbare Kunst, in einen Satz zu packen, wofür andere Seiten brauchen würden, ohne am Ende auch nur einen halben Gedanken mehr formuliert zu haben. „Tiefer als er ist kaum ein Zeitgenosse in den Zaubergarten der Sprache eingedrungen.“ Zu „Die Sprache“ vermutete Polgar im August 1937: „Hätte ein zu früher Tod ihn nicht gehindert, seine Sprachlehre weiterzubauen, er wäre der Schöpfer einer rechten Biologie der Sprache geworden.“ Der schon zitierte Ungar János Szabó dachte in ganz anderer Richtung: „Vielleicht bewahrte ihn der Tod davor, mit seinen Urteilen weiter in die Irre zu gehen“. Karl Kraus starb an Gehirnblutung.

Am 6. Dezember 1952 schließlich äußerte sich Alfred Polgar zu „Die Dritte Walpurgisnacht“, deren erster Satz gern gegen Karl Kraus verwendet wurde: „Mir fällt zu Hitler nichts ein“, lautet dieser erste Satz. Dazu Polgar: „Das heißt wohl: es gibt keine Worte, die nicht zu eng und zu kraftlos wären, das deutsche Unglück in sie zu fassen.“ Dafür jedoch „gelingt ihm ein anderes, nämlich: dem Versagen des Worts Worte zu geben, die tiefer treffen als beredteste Klage und Anklage es könnten.“ Offen ist für Polgar: „Bleibt die Frage, ob sein Stil nicht zu feinfadig, zu reich mit Geist gesättigt war für den blutig rohen Stoff.“ Das führt in Richtung der groben Keile für grobe Klötze. Auch Polgar war sicher in ähnlichen Fälle ähnlich „zu reich mit Geist gesättigt“. In seiner zwei Bände umfassenden Geschichte der deutschen Literatur würdigte Arthur Eloesser Karl Kraus mit keiner Silbe. In seinem Beitrag zum Sammelwerk „Juden im deutschen Kulturbereich“ dagegen, das erst 20 Jahre nach seinem Tod erscheinen konnte, kennt er dann Kraus, „dessen unbestreitbares Verdienst es ist, durch lange Jahre unerbittlichen Kampfes, dessen Zweck und Bedeutung wir jetzt kaum noch ermessen können, gegen jede Art von Pseudo-Publizistik aufgetreten zu sein.“

Gerade der Feldzug gegen die Wiener „Neue Freie Presse“ sei sogar belächelt worden, „weil man das Maß des Angegriffenen niemals so ganz in Einklang mit dem Maß des Angriffs zu bringen wusste“. „In seinem sicher auch manchmal überspannten Bestreben, durch unermüdliche Hinweise im kleinen und großen die deutsche Sprache vor ihren Verfälschern und vor Missbrauch zu bewahren, steckt ein Stück ethischer Sprachphilosophie, ein Wissen um Wert und Wirkung des Wortes und damit um die große Verantwortung des Umgangs mit der Sprache.“ Eloesser fand Kraus gehüllt „in den Stachelpanzer eines gewiss übersteigerten, von allzu viel Polemik besessenen Selbstgefühls“. Das haben andere in anderen Worten ähnlich ausgedrückt. Wie die Tatsache, dass von Berlin aus, wenn es nicht gerade um das Burgtheater ging, die alte Hauptstadt des „Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“ dann doch schon milde nach Provinz duftete. In den Worten von Karl Kraus: „Was Berlin von Wien auf den ersten Blick unterscheidet, ist die Beobachtung, dass man dort eine täuschende Wirkung mit dem wertlosesten Material erzielt, während hier zum Kitsch nur echtes verwendet wird.“ Oder: „In Berlin wächst kein Gras, in Wien verdorrt es.“


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