Volker Braun 85
Es mag in den frühen sechziger Jahren und in Leipzig anders gewesen sein als in den späten siebziger Jahren und in Berlin. Der Philosophiestudent, der Volker Braun in Leipzig war, und der Philosophiestudent, der Eckhard Ullrich in Berlin war, hätten feindlichen Lagern angehört. Denn Volker Braun war in Leipzig Parteigruppenorganisator, Eckhard Ullrich war in Berlin einer von vier parteilosen weißen Raben. Der Parteigruppenorganisator war dem Berliner Parteilosen eine Figur, die mit suspekt freundlich beschrieben wäre. Er war Vollzugsideologe mit Drohpotential. Er war involviert, wenn es darum ging, den Einfluss des Klassenfeindes auf „unsere“ Philosophiestudenten zu minimieren. Tauchte er später in entsprechenden Akten als inoffizieller Aktivist auf, wunderte das niemanden, der Einsicht nahm. Fehlte er dort, fragten sich die Einsichtnehmer, wie das möglich sei. Vielleicht ist Volker Braun der deutsche Lyriker (und Dramatiker), dem man sein Studienfach am meisten anmerkt. Lese ich heute das Interview, das Silvia Schlenstedt (10. April 1931 – 16. März 2011) 1972 mit ihm führte, dann denke ich, kein sterblicher Mensch käme bei der Lektüre auf die Idee, dass vor allem von Gedichten die Rede sei, von Lyrik. Das Interview ist freilich keines, es ist ein protokollierter Experten-Dialog auf leserferner Ebene. Deshalb in den „Weimarer Beiträgen“.
Gedichtbände lese ich, wenn ich welche lese, wegen der Gedichte darin. Das klingt dämlicher als es ist, denn ich lese Gedichtbände bisweilen auch wegen der Fotos darin. Etwa den Band „Auftakt 63. Gedichte mit Publikum“, 1963 im Verlag Neues Leben Berlin erschienen und herausgegeben vom Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Das klingt heute abenteuerlich, war aber so. Später entsandte dieser Zentralrat Blauhemdträgerinnen in die Provinz, um dort sorgsam ausgesuchten potentiellen Rednern für hochangebundene Konferenzen Inhalt und Text ihrer Reden vorzubereiten. Exkurs: Ich war 1987 Zeuge einer Konferenz in Jena, deren vorbereitete Reden acht volle Monate in Arbeit gewesen waren. In seinem Schlusswort lobte der oberste Führungsgenosse just den Redner, der am Pult spontan sein Manuskript beiseite gelegt hatte, den Blauhemdträgerinnen ein Hieb ins Gesicht, den Abwicklern des Redner-Castings ein guter Grund, DDR-Welt noch zynischer zu sehen. Also, in „Auftakt 63“ sehen wir auf Seite 70 einen sehr jung aussehenden jungen Volker Braun mit darunter stehender Kurzbiographie: „Jahrgang 1939. Nach dem Abitur Tiefbauarbeiter und Maschinist im Kombinat Schwarze Pumpe. Jetzt Studium der Philosophie an der Karl-Marx-Universität, Leipzig.“ Der Zentralrat hat zwei Gedichte von Braun ausgewählt, mehr vorerst nicht.
Im Folgeband „Auswahl 64. Neue Lyrik. Neue Namen“, immer noch in der Regie des Zentralrats, waren die Lyriker alphabetisch sortiert, deshalb Volker Braun nach Johannes Bobrowski und vor Günther Deicke. Jetzt zeigt das Foto ihn mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Augenbrauen, der biographische Vermerk weiß schon vom Kunstpreis der Freien Deutschen Jugend 1964. Die Publikumsfotos sind nicht mehr so schön wie im Vorjahr, immerhin sieht man aber auf Seite 77 den jungen Bernd Jentzsch mit Krawatte neben dem jungen Wolf Biermann ohne Krawatte. Ganz hinten der kleingedruckte Hinweis: „Leider erhielten wir von Wolf Biermann nicht die Zustimmung zum Abdruck seiner Gedichte „Wartet nicht auf bessere Zeiten!“ und „Der Volkspolizist“, die er auf dem IV. Lyrikabend am 2. Dezember 1963 in Berlin vorgetragen hatte.“ 1963, das noch kurz, saßen im Publikum ganz unauffällige Persönlichkeiten des öffentlichen Parteilebens wie Alexander Abusch direkt neben Werner Lamberz. Den Band eröffnete Werner Bräunig, fünf Jahre älter als Volker Braun, am 12. Mai wäre sein 90. Geburtstag, doch ist er seit fast 50 Jahren tot. „Auseinandergehn“ heißt das erste, „Provokation für mich“ das zweite Gedicht von Braun, beide gehen ein in den ersten eigenen Gedichtband Brauns im Mitteldeutschen Verlag Halle 1965, das zweite liefert gar den Titel.
Als Verfasser eines eigenen Gedichtbandes war Volker Braun natürlich kein Kandidat mehr für die „Auswahl 66“, die nicht mehr im Zugriff der FDJ stand, sondern zusammengestellt wurde von Bernd Jentzsch und Klaus-Dieter Sommer. Bernd Jentzsch wurde bald zum Begründer der Lyrik-Reihe „Poesiealbum“, deren Heft 115 erst 1977 endlich Volker Braun präsentierte. Da aber war Jentzsch nach der Biermann-Ausbürgerung schon in der Schweiz geblieben, Richard Pietraß führte die Reihe fort. 1972 im Gespräch mit Silvia Schlenstedt gab sich Volker Braun als Mann, der in den allergrößten Dimensionen dachte und dabei offenbar von einer gesellschaftlichen Dynamik des Sozialismus ausging, die diese in der Realität zu keinem Zeitpunkt jemals erreicht hatte. Alles Reden von neuen Verhältnissen und neuen Beziehungen, auf deren Basis nichts mehr sei, wie es war, und deshalb auch Lyrik wie Dramatik nicht mehr sein könnten, wie sie waren, selbst Shakespeare und Moliere wurden da tapfer unter den Tisch geredet, war nichts anderes als purer Voluntarismus, den sich Philosophie-Absolventen eigentlich stets vom Leibe halten sollten. Die freundlichere Bezeichnung für Voluntarismus hieß in der DDR fast immer „Verkürzung der revolutionären Perspektive“. Je verkürzter die, um so gravierender der Katzenjammer 1989/1990.
Manche, die sich allmählich daran gewöhnten, den implodierten Sozialismus in den Farben der DDR, wie die Phrase lautete, auch geistig verabschieden zu dürfen, entdeckten in einer Art von ideologischem Metadon-Programm „die Idee des Sozialismus“ für sich, was bei Absolventen des Philosophiestudiums in Leipzig oder Berlin natürlich sämtliche Alarmglocken in Schwingung versetzen muss. Es gibt kluge Menschen, die Volker Braun in den Reihen derer sehen, die an dieser Idee haften, was Unverbesserliche an die Ideenlehre eines gewissen Platon denken lässt, weil ihnen dereinst im ersten oder zweiten Semester das Höhlengleichnis ans pochende Herz gelegt wurde. Seis drum. Die erste Auflage der Sammlung „Gedichte“ des Leipziger Reclam-Verlages von 1972, Silvia Schlenstedt kannte den schmalen Band schon, als sie ihr Interview vorbereitete, endet mit „Der Lebenswandel Volker Brauns“ (S. 111/112). Das lyrische Ich kann sich in diesem Falle nicht herausreden: Ich meint Ich. „Und ich ahne, versessen in meine Provinz / Daß hier der Welt ein Beispiel geschieht an Milde / An unerbittlicher Milde, an milder Entschlossenheit.“ Damit es der letzte auch sieht, ist es kursiv gedruckt: „An ein Land nur verschwend ich mich länger nicht.“ Später flutet Volker Braun seine Bücher mit Versal- oder Majuskelschrift, also Großbuchstaben.
Die zweite veränderte Auflage des genannten Reclam-Buches (RUB 51) von 1976 endet mit dem Gedicht „Die Austern“, dem französischen Altersgefährten Alain Lance gewidmet, der auf seinen 85. Geburtstag sieben Monate länger warten muss als Braun. Im Bezahlfernsehen müsste ich dem Gedicht eine Triggerwarnung voranstellen, denn da steht tatsächlich: „Schlürfst mit Wollust und Ekel, die kleinen / Fotzen der See. So, sage ich nun, das // Leben zwischen Gier und Abscheu / Zergehen lassen auf der Zunge, ja.“ Auch von „Wolfs“ ist im Gedicht die Rede: … an nichts mehr / Denken die da als ans Fressen … / … Das sind noch Menschen.“ Wir können uns zwanglos Christa und Gerhard Wolf dabei denken, die eingereiste Austern schlürften in Volker Brauns Wohnung. Da sage noch einer, bei Dichters sei Schmalhans Küchenmeister. Und mir fällt Hermann Axen ein, Mitglied des Politbüros des ZK der SED mit gern verschwiegenem jüdischen Familienhintergrund, der wenig nach dem Krieg einem späteren Kollegen von mir, der ihn fressend am Buffett beobachtete und genau das bemerkte, sagte: „Jetzt sind wir dran mit Fressen.“ Brecht wusste das bekanntlich längst: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Und ausdrücklich nicht: „Erst kommt das vegane Viergänge-Menü aus der Lean Cuisine, dann die wertebasierte Außenpolitik.“
Gegen Ende des sehr hochgestochenen Gesprächs zwischen Silvia Schlenstedt und Volker Braun ist überraschend Deutliches zu lesen: „Ich sehe aber, unsere Dramatik wie unsere Literatur überhaupt, hat es meist nur mit Symptomen der Widersprüche zu tun statt mit ihnen selbst. Das kommt, weil wir immer sehr feierlich an die Verhältnisse herantreten und eine Scheu haben, in die Tiefe zu gehen.“ Volker Braun war, würde ich meinen, ein Rufer in der Dialektik-Wüste DDR, die im Alltagsgebrauch Widersprüche immer als etwas Negatives, widersprüchliche Persönlichkeiten mit großer Regelmäßigkeit als Verdachtsfälle sah. Manche, sich schlauer dünkend, beriefen sich auf eine vermeintlich auf Marx/Engels zurückzuführende Theorie von wesentlich zu unterscheidenden antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen. Ein wenig scheint auch Braun von dieser Lesart angesteckt, die letztlich instrumentalisiert auf Verharmlosung und Verniedlichung der „nichtantagonistischen“ Widersprüche unter den „neuen“ Verhältnissen hinauslief. 1972 gab Braun noch ein Interview. Diesmal besuchte ihn der vier Jahre jüngere Joachim Walter in seiner Wohnung in Berlin Mitte, gegenüber Marienkirche und Fernsehturm, es war der 20. Oktober. Braun öffnete in Jeans und rotem Hemd, Walther registrierte umgehend Bücherreihen mit Marx, Brecht und Hegel.
„Nur die Dummheit hat für alles immer eine Antwort parat. Naivität dagegen bedeutet, eine Sache aus sich selbst heraus zu sehen. Naivität verlangt Selbstlosigkeit, die das Resultat von Kenntnissen ist.“ Sagte Braun auf Walthers Frage nach einer begehrenswerten Naivität. Dass Walthers Gespräch viel eher ein Interview ist als das von Silvia Schlenstedt, erhellt allein daraus, dass der Fragende rasch fragt und nicht erst des Länglichen und des Breiteren selbst referiert. So fragt Walther auch, ob Braun Gegenstände kenne, die nicht zu gestalten wären. Die Antwort: „Die Literatur aber muss sich allen Dingen stellen, sie arbeitet mit einem Vorlauf. Sie nimmt sich ihr Recht aus ihrer Unbestechlichkeit und verlöre es mit ihr.“ Ob er Tagebuch führe? „Nein, ich mache nur Notate. Das sind zugespitzte Dinge. So etwas zu publizieren ist nicht ungefährlich, denn manche Kritiker hängen an solchen Kontexten und beurteilen dann alles nur von ihnen her – statt in den Text zu steigen.“ Eine treffendere Antwort wäre sicher nicht gedruckt worden, denn von den Kritikern drohte weniger Gefahr als von anderen Hintergrundfiguren des sozialistischen Literaturbetriebs. Es sei denn, die Kritiker hätten im Nebenberuf als Experten-IM gearbeitet. Oder wären gleich selbst Verlagsleiter mit IM-Nebenjob gewesen wie Eberhard Günther im Mitteldeutschen Verlag Halle.
Ich war noch ein Berliner Philosophiestudent, als ich Anfang Januar 1977, zwei Monate später überlegte ich, das Studium abzubrechen, was ich dann vor allem aus familiären Gründen nicht tat, die Rede von Max Walter Schulz auf dem VI. Deutschen Schriftstellerkongress las, Titel: „Das Neue und das Bleibende in der Literatur“. Es gibt nichts Gedrucktes aus DDR-Zeiten, ein Lehrbuch des Dialektischen und Historischen Materialismus ausgenommen, das ich mit mehr Randglossen, mehr Fragezeichen versah, ich war final entsetzt. Meine Schlussnotiz, nunmehr 47 Jahre alt: „Das manchmal aufbrodelnde Lachen wird jäh erstickt, da ist eine ganz reale Bedrohung, diese Menschentypen sind bereit zuzuschlagen, wenn ihre heilige dogmatische Ruhe gestört wird, und dann taucht alles auf: grenzenlose Ideenarmut, Phrasen, Nachgeplapper von Politklischees, ekelerregende Ignoranz, dreiste Selbstüberhebung, Nationalismus feinster Prägung, dazwischen 4 oder 7 vernünftige Gedanken. Dass diese Rede Wolf und Fühmann und Braun u.a. den Magen wenden musste, ist nicht verwunderlich. Traurigerweise offenbaren sich auch fundamentale philosophische Schwächen, das Geschwätz von Sachwissen entlarvt sich selbst.“ Selbst die großen Freundlichkeiten von Brigitte Reimann zu Schulz kann ich bis jetzt als entlastend nicht anerkennen.
Darauf komme ich, weil in einem schmalen Buch mit dem Titel „Es genügt nicht die einfache Wahrheit“ (Reclam Leipzig 1975 = RUB 640) Volker Brauns Notat „Die Anspruchslosen“ auf Seite 65 abgedruckt ist, es endet so: „Ist das eine sozialistische Theorie, oder Scholastik? Ja, ist die Hörigkeit, die da redet, nicht finsteres Mittelalter? Na also, ist das nicht dummes Geschwätz? - Und das wird gequasselt unterm stupiden Beifall des Auditoriums und sogleich mehrfach wiedergekaut. So schnell geht die Eskalation des Blödsinns.“ Noch zum 100. Geburtstag von Volker Braun fiele mir diese Herrlichkeit ein, falls ich in die Verlegenheit käme, Einfälle für einen Blick auf ihn zu brauchen. Brauns Stück „Schmitten“ endet mit einer Knast-Szene. Die Schließerin antwortet der für sechs Jahre Inhaftierten, die nicht mit der Feile entgraten will, lieber Bretter entnageln: „Das führn wir nicht. Die Plaste braucht die Leute / Bei jeder Amnestie wankt die Chemie:“ Aus meiner Armeezeit weiß ich:auch der Zement wankte nahe Schwedt, als 1972 eine Amnestie ausgerufen wurde. Die Kaderleiterin sagt über drei Frauen, die Schmitten dabei: „Das ist nicht kriminell, gibt’s bei uns nicht. Das ist der Klassenfeind. Das ist der Einfluss, das sind die Rudimente.“ Klar, dass Brauns Manuskripte oft lange lagen, Sicherheitsverwahrung. Der Klassenfeind ist da großzügiger.