Richard Schaukal: Wilhelm Busch

Wer sich mit Richard Schaukal befassen möchte, aus welchem Grunde auch immer, sieht sich nicht eben von Fundgruben umzingelt. Sehr oft könnte er sich gar zu einer Schnell-Diagnose verführt sehen, die in Worten wie Ignoranz oder Boykott zusammenflösse. Dagegen steht seit 1996 die Richard-von-Schaukal-Gesellschaft, an der Universität Kassel gegründet, die sich vor allem mit der Herausgabe eines Jahrbuchs befasst, das den Titel „Eros Thanatos“ trägt. Im Titel sind, für alle, die ihren Bachelor in griechischer Mythologie dann doch nicht gemacht haben, zwei Figuren vereint, die normalerweise immer durch das Wörtchen und verbunden werden, Eros, Gott der Liebe, der mit Pfeil und Bogen unterwegs ist, und Thanatos, Gott des Todes, der bisweilen neben seiner Schwester Ker für den sanften Tod stehen darf und, wenn mit Eros auf Pirsch, auch Pfeile verschießt. Wie auch immer: eine überschaubare Menge Menschen befasst sich nun professionell und vielleicht sogar von Drittmitteln befeuert mit Schaukal, dem sein Adel erst 1918 zuteil wurde von Kaiser Karl I., der dann sehr bald gar kein Kaiser mehr war. Eros und Thanatos bewährten sich im Kernkompetenz-Feld des Wieners mit der Analyse-Couch, der ebenfalls in Mähren geboren wurde: Sigmund Freud.

Womit der Geburt Schaukals schon gedacht ist: am 27. Mai 1874 in Brünn, welches heute als Brno firmiert und von mir sehr nahe stehenden Menschen als unbedingt besuchenswert geschildert wird. Ich war noch nicht dort, bin aber hie und da daran vorbeigefahren. Claudia Girardi (1963 in Wien geboren), die auch als Claudia Warum publizierte, scheint dem ersten wie dem zweiten Blick die ausgewiesenste Schaukal-Expertin zu sein, sie promovierte 1993 zum Thema „Richard von Schaukal als Kritiker und Übersetzer aus dem Französischen“ und ist als Herausgeberin für den Band 27 der „Thomas-Mann-Studien“ verantwortlich, die bei Vittorio Klostermann in Frankfurt am Main erscheinen. Dieser Band bringt Thomas Manns „Briefe an Richard Schaukal“, dokumentiert Schaukals Kritiken zu Mann-Werken leider nur bibliographisch. Ein gesammelter Nachdruck hätte mir entschieden mehr gefallen. Immerhin weist das Personenregister auch dreifach den Namen Arthur Eloesser aus, was den Kenner seines Schaffens nicht überraschen darf, für die nach wie vor dominierende Gruppe der Nicht-Kenner immerhin als Zeichen gedeutet werden kann. War Eloesser 1925 auch nicht der erste Thomas-Mann-Biograph, so doch nach Franz Leppmann 1916 der zweite.

Eloesser hat im zweiten Band seiner Literaturgeschichte, „Die deutsche Literatur von der Romantik bis zur Gegenwart“ (Bruno Cassirer 1931) auch einen Abschnitt zu Schaukal, angesiedelt zwischen Aussagen zu Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, der leider gleich mit einer falschen Altersangabe beginnt: Nicht 1864 ist er geboren, sondern zehn Jahre später. Eloesser nennt Schaukal zunächst in einem Satz mit Hugo Salus (3. August 1866 – 4. Februar 1929). Beide haben, verglichen mit Trakl, „die freundlichere Beziehung zum Leben, auch zu seinen bürgerlichen Einrichtungen, die die Gewohnheit erträglich macht“. Salus steht dem Kritiker für „einige schöne liedartige Gedichte“ in der Nachbarschaft Heines. „Schaukals Glas war größer und er versuchte alle möglichen Weine, auch die Liköre der Dekadenz, ließ sich von Dehmel ermutigen, ging mit Hofmannsthal in die Zeiten der schönen Kostüme, dichtete sich mit neuen Kreisleriana in E. Th. A. Hoffmann zurück, übersetzte dessen Bewunderer Baudelaire und auch Verlaine und Mallarmé.“ Einzelne Werke hebt Eloesser nicht heraus, nennt dazu keinen einzigen Buchtitel: „Schaukal hatte eine Entwicklung, er besang auch das Glück, den Besitz die Erfahrungen und Sicherungen, die den Mann fest machen.“

„Wenn er sich etwa neben Kolbenheyer und den rückwärts gewandten Prager Dichtern in Historie und Mystizismus eingrub, so gewann er doch die haltbarsten Schätze an dem, was der Tag, ein fruchtbarer Lebenstag mit Morgen, Mittag, Abend ihm einbrachte. … Seine Gedichte geben diese Anschauung des Reifwerdens, der Rückkehr von schweifenden und ausschweifenden Unternehmungen zu einem erworbenen Lebensboden, der ihm die Saat verwahrt hatte.“ Dass Erwin Guido Kolbenheyer (30. Dezember 1878 – 12. April 1962) deutlich mehr Platz eingeräumt wurde als Schaukal, obwohl weitere vier Jahre jünger, fast neun als Eloesser selbst, sei hier nur erwähnt. Die Sammlung „Über Dichter“ erschien 1966, also 28 Jahre nach Eloessers Tod, konnte ihn folglich nicht bewegen. Die Studie „Wilhelm Busch“, zuerst 1905 bei Schuster und Loeffler, Berlin und Leipzig, gedruckt als Band XXI der von Paul Remer herausgegeben Reihe „Die Dichtung“, hätte ihm begegnen können. Man bekommt das Original gelegentlich antiquarisch zu recht akzeptablen Preisen. Die Nachdruckverlage dearbooks und Forgotten Books haben außerdem Neudrucke nach Bedarf im Angebot. Hier liegt der mit 1904 datierte Text der Sammlung „Über Dichter“ zugrunde.

„Tausende und Abertausende haben sich an ihm belustigt, bis zu Tränen ergötzt“, schreibt Schaukal, „dass er ein Dichter ist, hoch über ihren behaglichen Niederungen, das ahnen wohl die wenigsten“. Dennoch ist die Frage, ob Wilhelm Busch in die deutsche Literaturgeschichte gehört, keine. Die Antwort lautet allenfalls: natürlich. Schaukal hat die Frage weder aufgeworfen noch, ohne sie zu stellen, indirekt beantwortet. Er widmete seine Studie seinem Freund Gerhard Ouckama Knoop (9. Juni1861 – 7. September 1913), und Thomas Mann, noch im besten Einvernehmen mit Schaukal, schrieb diesem am 10. April 1905: „Seit „Hoffmann“ und „Busch“ zähle ich Sie nämlich zu den erkenntnisvollsten der lebenden Kritiker.“ Dass ein halbes Jahr später alles vergessen war, kann hier nur Erwähnung finden. „Ich erkläre unser Verhältnis für dringend ruhebedürftig und schlage vor, dass wir einander vorläufig vergessen.“ Briefwechsel und Verhältnis endeten damit. Schaukals „Wilhelm Busch“ musste fortan für sich selbst sprechen. Im Leben Thomas Manns hat Busch keine nennenswerte Rolle gespielt, doch dienten beide 1929, als Mann den Nobelpreis erhielt, neben Wedekind, Morgenstern und Heinrich Mann als Dissertationsthema für einen Mally Unermann.

Neben wen lässt sich der Humorist Wilhelm Busch stellen in dieser deutschen Literaturgeschichte, wenn er dort schon einen Platz einnehmen darf? Schaukal prüft die Namen, die so genannt werden, wenn es um Humor geht: Wieland, Jean Paul. Die Zuordnungen behagen ihm nicht: „... man glaubt auch allen Ernstes, ein Professor, der gemütlich wird, sei humoristisch.“ Die „klingende Halsmarke“ nennt er es, auf Jean Paul bezogen und kennt dann doch einen Namen, der hier schon fiel: Hoffmann, E. T. A. Hoffmann natürlich, dem er 1904 in der Reihe „Die Dichtung“ noch vor dem Band XXI für Busch den Band XII widmete. „Ja, wir haben Humoristen, aber man hört sie nicht in dem Jahrmarktslärm der Gaukler und schwitzenden Ausrufer vor den Leinwandbuden der Cliquen.“ Wen er da im Visier hatte, wird nicht näher ausgeführt. „Dieser Wilhelm Busch ist einer, der von ganz unten kommt, und er weiß trefflich Bescheid auch um die Maschinistenträume der kleinen Weltbühne.“ Schaukal nennt ihn eher einen Weisen denn einen Philosophen. „Die Grausamkeit, mit der Wilhelm Busch seine Geschöpfe behandelt, ist haarsträubend. … Dies ist ein echt deutscher Zug, mehr ein typisch germanischer.“ Denn Schaukal meint auch die Engländer mit.

„Busch hat absolut kein Mitleid. Unfug wird bei ihm immer mit der härtesten, sei es Leibes-, sei es der Todesstrafe selbst bestraft.“ „Er hat den Menschen, diesem kribbelnden Ameisenhaufen, immer nur belustigt zugesehen. Und allmählich ist ihm unter den Künstlerfingern eine Epopöe der Menschheit, besser der „Menschlichkeit“ geraten, die in ihrer Art einzig ist.“ Das ist der Grund, warum Golo Mann in seinem Tausendseiter „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ zu dieser mehr als interessanten Aussage kam: „Wer etwas erfahren will vom Geist des deutschen Bürgertums in der Bismarckzeit, der kann es in den Busch-Alben besser als in manchen gesellschaftswissenschaftlichen Traktaten.“ Der Gegensatz ist freilich etwas künstlich, es sei, man unterstellt das Traktat als den Oberbegriff, was Golo Mann zuzutrauen ist. „Dem Künstler Busch liegt natürlich alles Moralisieren fern. Aber die Kunst hat immer den ethischen Gehalt ihrer Ära. … Nur ein großer Künstler vermag immer auch zu belehren.“ Schaukal steht nicht an, Busch mit Shakespeare zu vergleichen, bei dem man, und nur in dieser Hinsicht ist der Vergleich gemeint, kein Bedürfnis hat, „nach dem Leben dieser genialen Persönlichkeit zu fragen.“ Er hält sich daran.

Und verteidigt Wilhelm Busch gegen den Vorwurf, ein Pessimist zu sein: „Resignation ist nicht Weltverneinung. Ohne Resignation ist Humor nicht denkbar. Humoristisch betrachten heißt in Sicherheit betrachten. Und nur Resignation gewährt Sicherheit. Resignation ist nicht Wunschlosigkeit, sondern Bescheidung.“ Hier könnte man verharren und von jenen großen Worten fabulieren, die gelassen ausgesprochen werden. Völlig abseitig vermutlich der plötzlich aus einer Kellerluke hervoräugende Gedanke, Schaukal könnte etwas über die DDR geschrieben haben, die doch erst sieben Jahre nach seinem Tod als kurzes Interregnum gegründet wurde. Man käme zu verblüffenden Folgerungen, Bilder stiegen auf von Humoristen, die in ihrer Sicherheit resignierten, sich plötzlich per Mauerfall ihrer schönen Bescheidung beraubt sahen. Der dazu passende Busch-Vers lautet: „Enthaltsamkeit ist das Vergnügen / an Sachen, welche wir nicht kriegen.“ Erst gegen Ende kommt Richard Schaukal auf die Werke zu sprechen, sie „sind mehr, als bekannt scheint.“ 120 Jahre später wage ich nicht, über den Bekanntheitsgrad der einzelnen Titel zu spekulieren, zumal Wilhelm Busch wie andere plötzlich an Correctness-Paragraphen gemessen wird, wie: kindgerecht.

Tröstlich dabei, wie Schaukal es sieht: „Sie sind der Phantasie des Kindes – all ihrer „sittlichen“ Greuel ungeachtet – nichts weniger als gefährlich, seiner ästhetischen Erziehung nicht hinderlich. Das Kind verlangt Ungeheuerliches. Lebt es doch selbst in beständigen Übertreibungen. … Busch bringt Aktion, bunte, wirbelnde Geschehnisse. Er ist vertraut mit den Abenteuern der Kinderwünsche.“ Tröstlich auch, dass Schaukal das sieht: „Jedes Wort, das ein großer Künstler zum ersten Male wieder verwendet, erfüllt er mit dem ungeheuren Gehalt seines einzigen Ichs.“ Es gibt, will das sagen, eben keine Worte, die ein für allemal abgenutzt sind, die ein für allemal gar aus politischen Gründen der Benutzung entzogen sind. Schon gar nicht per Dekret. Die lange Liste der drolligen Worte ist dem Busch-Liebhaber natürlich vertraut, doch liest er gern noch einmal als geballte Ladung von ratsch, perdatsch, klabum und plemm. Von Wortkopulierungen, wie Schaukal das nennt, wie Speiseschlauch und Bettgehäuse: „... er macht sich eigentlich durchaus über die Grammatik lustig, indem er ihre umständliche Schwerfälligkeit unterstreicht, in weiterem Sinne über das Elend der Worte, diese kläglichen Vorläufigkeiten“. Für Übersetzer die zu hohe Hürde.

„Busch ist ein durchaus nationaler Künstler. Es ist vergeblich, ihn dem Auslande mitzuteilen. In dieser geographisch-ethnographischen Beschränktheit seiner Wirksamkeit liegt ihre lokale Intensität. … Es ist das wahrhaft Dichterische, hier bei Busch noch verstärkt durch das eminent Zeichnerische eines also durch und durch künstlerischen Ingeniums, das diese Wirkung unfehlbar hervorbringt“. Richard Schaukal hat, von einigen überanstrengten Sätzen abgesehen, seinem Stoff mehr als nur Kontur gegeben, auch wenn Gert Ueding später für seine Nachwelt dekretierte: „Der Erfolg von Wilhelm Buschs Werk, wie er sich in den Busch-Alben bis heute manifestiert, beruht weitgehend auf einem Missverständnis.“ Die lange Liste der Aufsätze zu Schaukal seit 1974, wie sie bei Wikipedia dokumentiert ist, weist keinerlei Interesse an „Über Dichter“, gar speziell an seiner Sicht auf E. T. A. Hoffmann und Wilhelm Busch aus. In seiner alten Heimat Südmähren schrieb man über ihn: „Generell ist Schaukals Anschauung durch seine Werke schwer einzuordnen. Er galt als konservativ und progressiv zugleich, je nachdem, welches Thema er behandelte oder ob er sich als Kritiker oder als Lyriker zu Wort meldete.“ Das kann man als Lob lesen, will ich meinen.


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