In Calw. Wulf Kirsten 90

Man kann ihn nicht mehr fragen, ob es ihn, und wie, getroffen hat, was Rainer Kirsch da über ihn und vor sich hin schrieb: „Kirsten ist ein furchtsam vergrübelter Geist und wird eben daraus etwas zu machen haben; noch immer aber gilt für Kunst, dass man den bei ihrer Herstellung aufgewandten Schweiß nicht merken soll: Das Bemühte ist der Feind der Wirkung ...“. Es ist davon auszugehen, dass Rainer Kirsch (17. Juli 1934 – 4. September 2015) das Bemühte bei sich selbst geflissentlich übersah, man kann es in „Wulf Kirsten und die schönen Dorfnamen“ zwanglos und ohne viel Zeitaufwand studieren. Als sicher darf angenommen werden, dass die schönen Dorfnamen in den Texten Kirstens, ob lyrisch oder prosaisch, schon da waren, ehe sie aus der Realität in die Literatur schlüpfen durften. Bis heute bietet kein Reiseunternehmen Rundfahrten zu Kirstens Orten an und das deutet keineswegs auf sträflich mangelnde touristische Sensibilität. Er selbst hat dergleichen Tour beispielsweise unternommen, als er im Sommer 1996 Calw besuchte, Hesses Geburtsstadt. Es ging ihm dabei keineswegs zuerst um den tatsächlich touristischen Effekt: Ich war hier, wo er gewesen ist. Es gab ihm diesen Effekt dennoch als erwünschte Nebenwirkung. Wulf Kirsten schrieb im Juli 1996 seine Aufzeichnungen aus Calw nieder, betitelt „Gespräch mit der Wasseramsel“.

Man muss nicht Vogelkundler in der dritten Generation sein, um zu wissen, dass Wasseramseln sich von den uns allen bekannten Amseln (Turdus merula) klar unterscheiden. Denn der gelbschnäblige Sangeskünstler, der gern auf hohen Sitzen seine Stimme erschallen lässt und über ein immer neu verblüffendes Repertoire verfügt, zieht gern einen Wurm aus der Erde, wenn er das denselben verdeckende Laub beiseite gescharrt hat, während die Wasseramsel (Cinclus cinclus) ungeteilten Ruhm auf sich vereint, weil sie als einziger heimischer Singvogel tauchen und schwimmen kann. Sie tut das allerdings nicht des Ruhmes wegen, der ihr zeitlebens gleichgültig bleibt, sie sucht ihre eigene und die für den hungrigen Nachwuchs benötigte Nahrung unter Wasser. Bis zu Wulf Kirstens „Gespräch mit der Wasseramsel“ aus dem Jahr, da ich am bis dahin längsten Pressestreik der deutschen Nachkriegsgeschichte teilgenommen hatte, neigte ich zur Überzeugung, gestützt durch diverse Tierfilme, dass Wasseramseln eher nicht zu den urbanen Vögeln zu rechnen wären. Nun aber weiß ich: zumindest 1996 gab es in Calw aufwandarm beobachtbare Exemplare. Hätte ich das damals gelesen, der Neid wäre wohl nicht gänzlich zu unterdrücken gewesen in mir. Wegen Calw und Hesse natürlich, die Wasseramseln hätten freilich einen erbaulichen Farbeintrag geliefert.

Die Erstveröffentlichung von „Gespräch mit der Wasseramsel“ war ein Sonderdruck der Kreissparkasse Calw 1996, Kirsten davor Empfänger des Stipendiums der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung 1996. Jenseits der 60 ein Stipendium zu bekommen, finde ich irgendwie putzig, ich musste einst eigens heiraten, um mir ein Stipendium diesseits der 25 dauerhaft zu sichern. Aber das war, mit Hemingway zu reden, in einem anderen Land. Man kann immer wieder Biografien studieren von Schreibenden, die bereits in jungen Jahren mit Preisen und Stipendien derart überhäuft wurden, dass man sich, ich mich, fragen muss: Warum habe ich dennoch nie von ihnen gehört? Also ein Freiberufler, den das Finanzamt als Kleingewerbetreibenden führt, der schlimmenfalls sogar die Mehrwertsteuer zurückerstattet bekommt, weil er zu wenig verdient, der freut sich über jeden Eingang auf dem Konto, denn selbiges Finanzamt wacht unter anderem auch darüber, ob erkennbare Einnahmen eine so genannte Gewinnerzielungsabsicht vermuten lassen. Wulf Kirsten hat sich erst 1987 in die Freiberuflichkeit gestürzt, wobei Rainer Kirsch das „gestürzt“ monieren würde, müsste er es lesen, denn furchtsam vergrübelte Geister stürzen sich nicht. Sie tasten sich mit einem Fuß voran vorsichtig an die Untiefen. Lyriker, die von Lyrik leben können, welch ein Traum!

Es soll Stadtschreiber geben, die schon am dritten Tag in der eigens zur Verfügung gestellten Wohnung der Gaststadt ihre legitime Gier nach Geld verfluchen: was, um Himmels willen, soll ich hier über dieses öde Nest schreiben? Calw ist, wenn es nichts ist, immer noch Hesse. Über Hesse kann man immer schreiben. Und wenn man dann noch ein gestandener Mann ist wie eben dieser Lyriker Kirsten, der sich angeblich immer lieber „Landschafter“ nennen ließ als Naturlyriker, dazu noch auf ein für Hesse spätes, für Kirsten frühes persönliches Verhältnis verweisen kann und eigene Taten innerhalb der Hesse-Rezeption des verblichenen Kleinstaats DDR: dem ist ein Stipendium der betreffenden Stiftung zu gönnen und wohl sogar maßgeschneidert. „Kleinstädter pflegen generell gegen alles, das ungewohnt ist, was von außen einströmt, misstrauisch zu sein.“ Da hat der aus dem Sächsischen ins Thüringische geratene Kirsten ganz sicher sehr eigene Erfahrungen gesammelt, man darf seine Dankesrede für den Weimar-Preis 1994 zu Rate ziehen. Die er hielt, als Hochhuths „Wessis in Weimar“ seine Premiere in Berlin schon anderthalb Jahre hinter sich hatte. Wenn Kirsten am 3. Oktober 1994 von gewieften Journalisten sprach, die „einen erst über den Tisch und dann noch durch den Kakao ziehen“, fällt mir aus Weimar sofort ein Mann und seine Redaktion ein.

„Wie ein Schiffbrüchiger auf einer Woge von Bekümmernissen schwimmend, ohne ein Ufer zu sehen, verfiel ich weißnichtwie als Leser der Stadtbücherei Meißen auf Hesse, vielmehr verfiel ich ihm. Las „Hermann Lauscher“, „Knulp“, „Der Lateinschüler“, „Unterm Rad“, als wären diese Bücher eigens für mich geschrieben worden. Hesse schickte Privatdrucke oder ließ mir via Suhrkamp Verlag einige seiner Bücher zugehen. Der erste dieser Drucke enthält die 1955 entstandene Erzählung „Ein Maulbronner Seminarist“. Schwer zu beschreiben, wie hoch mich solche Post aus meiner dörflichen Lebenswelt heraushob, wie stark dieses Echo aus der Schweiz in mir widerhallte, wie es stimulierte, Hesse-Bücher zu suchen, alles von ihm lesen zu wollen.“ Das kann besser nachvollziehen, wer weiß oder daran erinnert wird, dass Hesse im Westen Deutschlands medial gern als komischer altmodischer Gärtner gesehen wurde, die Hamburger ZEIT wie der Hamburger SPIEGEL lieferten Armutszeugnisse der Hesse-Rezeption der fünfziger Jahre. Das Nachrichtenmagazin immerhin druckte sehr viel später in gebotener Kürzung einen Leserbrief von mir zum Thema, womit ich meine Sicht gerechtfertigt sah. Mir ging es zeitversetzt leider nicht so, wie es Wulf Kisten erging mit den Hesse-Büchern im Buchhandel, dennoch kein posthumer Neid.

„Von Mal zu Mal glückte mir das verwegene Spiel, eines Exemplars teilhaftig zu werden, mitunter war es das einzige, das dem Buchhändler zugebilligt wurde. Um so kostbarer dann der Besitz.“ Oh, ja, ich finde unter meinen reichlich fünf Dutzend Hesse-Büchern nicht nur solche, die ich in Montagnola erwarb mit dem Echtheitsstempel der dortigen Erwerbung innen, ich finde auch einen jener raren DDR-Bände des Aufbau-Verlags mit einer Preisangabe in Rubeln und Kopeken. Ich erwarb ihn in der Moskauer Buchhandlung, die seinerzeit berühmt dafür war, deutschsprachige Bücher auch aus dem Westen im Angebot zu haben: meinen Hesse, durch Umrechnungskurse seltsamer Art sogar leicht billiger als in der DDR. Mit seiner Reminiszenz ist mir Wulf Kirsten an seinem heutigen neunzigsten Geburtstag näher als mit etlichen seiner Gedichte, die meiner banausischen Abneigung gegen durchgängige Kleinschreibung unnötiges Futter liefern. Aber ich mag auch keine Sonderzeichen im Gedicht, wie sie im letzten DDR-Jahrzehnt inflationär nicht nur die Samisdat-Lyrik der oft für die Stasi arbeitenden Wortakrobaten verwühlten. Die erste Phase seiner schwärmerischen Hesse-Verehrung datiert Wulf Kirsten auf die Jahre von 1955 – 1961. Es folgten etliche Jahre mit anderen Fixsternen: auch 1961 traf Kirsten erstmals Johannes Bobrowski.

Als ich vor 10 Jahren „Wulf Kirsten 80“ ins Netz stellte, findbar noch immer unter JAHRESTAGE bei mir, nannte ich das einen Geburtstagsgruß der kleinen Lippe. Das war vorbeugend gemeint, auf dem falschen Bein wollte ich mich nicht erwischen lassen. Seither hat der Beitrag immerhin 3000 Aufrufe erlebt, was kein berauschender Erfolg ist. Am 21. Juni 2014 trug im Festsaal des Weimarer Schlosses Christoph Schmitz-Scholemann seine Laudatio auf den Jubilar Kirsten vor. Zehn Kapitel kündigte er an, kurze Kapitel, und versprach: „Es wird nicht langweilig.“ Das wurde es tatsächlich nicht, wenngleich der erst 2001 aus Köln nach Weimar gekommene Nordrheinwestfale dann doch nicht immer zu 100 Prozent sicher war in den DDR-Details aus Wulf Kirstens Leben. Den Namen Bobrowski erwähnte er nicht, auch jene osteuropäischen Namen nicht, die Eberhard Haufe ganz selbstverständlich in seinem sehr ausführlichen Nachwort zur Leipziger Reclam-Sammlung „die erde bei Meißen“ zur Hand hatte. Einem Nachwort übrigens, das die DDR-Üblichkeit sehr deutlich überragte. Kirstens durchaus lustiges Gedicht „Lob der Datenverarbeitung“ mag Anfang der 70er Jahre entstanden sein, die Kybernetik aber wurde bereits 1971 mit dem VIII. Parteitag der SED als Signalement der beendeten Ulbricht-Ära aus Denken und Sprechen sehr erfolgreich verbannt.

In der Weimarer Dependance des Aufbau-Verlages erhielt Kirsten, den genauen Zeitpunkt nennt er nicht, „bei einer Verteilungsrunde Hesse zugewiesen. Fortan oblag es mir bis zu meinem Ausstieg 1987, ihn zu betreuen und zu vertreten, das hieß, für ihn einzutreten, was just in seinem Fall nicht so ganz leicht war, da die kulturpolitischen Zwänge, das Auferlegte und die Nachfrage eklatant auseinanderklafften.“ Vielleicht wusste jemand im Hause oder jemand, der das Haus im wachsamen Auge hatte, von der frühen Hesse-Schwärmerei des noch jungen Lektors und fand die durchaus unorthodox positiv. Kirsten verzichtet 1996, es wäre ihm wohl zu billig gewesen, auf denkbare Krokodilstränen über gestorbene Projekte, sondern nennt sofort jenen Band, der noch heute in der langen Reihe der Briefwechsel-Bücher glänzt: „Briefwechsel mit Heinrich Wiegand“, von Klaus Pezold herausgegeben. Der schrieb nicht nur die Einleitung, sondern auch die Nachbemerkung „Zu dieser Ausgabe“ im Februar 1977. Das Buch selbst trägt das Erscheinungsjahr 1978 in der DDR-Ausgabe und Pezold dankt darin dem Lektor Wulf Kirsten. Das war eine schöne Geste: Lektoren bleiben in aller Regel anonym, obwohl es Bücher gibt, wir wissen es von den Short Stories des Amerikaners Raymond Carver, die in gedruckter Form eher vom Lektor als vom Autor stammten.

Kirsten registriert 1996 nüchtern: „Immerhin die einzige Hesse-Ausgabe, an der ich als Lektor mitwirkte, die im Calwer Hermann-Hesse-Museum präsent ist.“ Das bedeutet: „Über Literatur“ (1978), „Bilderbuch der Erinnerungen“ (1986) und „Die blaue Ferne“ (1989) fehlen dort, als Lektor Kirsten sich umschaut. Es ging ihm darum, „den Blick darauf zu lenken, dass seine erzählerische Größe auch darin besteht, wie er die kleinen Formen kultiviert hat. Der vierte Band hätte politische Schriften vorgestellt.“ Da aber war der kleine DDR-Markt im großen neudeutschen untergegangen: wer wollte, konnte sich die Volker-Michels-Bände von Suhrkamp im Original kaufen, jede wie auch immer wählerisch sein müssende DDR-Zusammenstellung hatte ihr Recht auf Existenz verloren. Wulf Kisten gibt sich mit guten Gründen dennoch dankbar für das, was er „zweite Stufe meiner Hesse-Rezeption“ nennt und geht zum gestreckten Lokaltermin in Calw 1996 über. „Das schönste Denkmal, das der Erzähler seinem Geburtsort setzte, ist die 1907 entstandene Erzählung „Schön ist die Jugend“, die sich wohl am dichtesten an die eigene Biographie hält.“ In seine dreibändige Sammlung „Deutschsprachige Erzählungen 1900 – 1945“ nahm Kirsten dennoch „Der Zyklon“ auf, „Schön ist die Jugend“ beendete dagegen den Band 1 der zweibändigen Ausgabe „Erzählungen“.

In einer Hinsicht, nur in dieser, identifiziert sich Wulf Kirsten ganz direkt mit Hermann Hesse: „Eigenartig, dass es gerade immer wieder die angeblich so lebensuntüchtigen, Unpraktischen, dem Geschäftsgeist abgeneigten, also die Außenseiter sind, die Zeugnis abzulegen vermögen für ihre Lebenswelt und Zeit. … Mein Sommeraufenthalt in Calw war zu kurz, um zu ergründen, ob Mentalität und Stadtgeist das Jahrhundert unbeschadet überstanden haben.“ Er erkennt immerhin die kleinen Gärten in Calw als „eine Lebensform der Bescheidenheit“ und empfiehlt, sie „stärker als Kleinode der Lebenskultur und als tatsächliches Spezifikum des Altstadtkomplexes ins Bewusstsein zu heben“. Ob das jemals geschah, wäre zu prüfen. „Stehe ich an die Brüstung der Nikolausbrücke gelehnt, in der stillen, sehr unbescheidenen Hoffnung, die Wasseramsel zu einem Gespräch zu bewegen, bin ich Hesse am nächsten. … Als Brückensteher nehme ich es gern auf mich, ein Hesse-Epigone auf Zeit zu sein.“ Zwanzig Jahre früher, 1976, saß ich für einige Wochen in einem kleinen Pförtnerhaus des Berliner Naturkundemuseums, musste ein- und ausfahrende Fahrzeuge nach Kontrolle passieren lassen und hatte ansonsten sehr viel Zeit. Ich las in den Hesse-Bänden des Aufbau-Verlages, nicht ahnend, dass Wulf Kirsten in Weimar sie lektoriert hatte. Ich las einfach.


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