Um von Clara Viebig zu sprechen
Es scheint, als gäbe das Internet am Beispiel Clara Viebig in besonders konzentrierter Form kund, Speicher von Nachlässigkeit, Unkonzentriertheit, Pfusch und Dummheit zu sein (neben allem, was sonst seinen unsterblichen Ruhm für immer begründet). Erst frisch renoviert am 23. Juli offeriert der von GOOGLE ganz oben präsentierte Eintrag bei WIKIPEDIA dies: Clara Viebig ist am 17. Juli 1860 geboren. So weit das stimmt und alle anderen Quellen bestätigen die Aussage, kann sie natürlich nicht 1896 34 Jahre alt gewesen sein. Ließe sich das noch freundlich als Schreibfehler entschuldigen, wird es im selben Eintrag dann wirklich peinlich: „Nach dem Krieg werden Teile ihres Werkes im Osten und im Westen Deutschlands neu aufgelegt.“, steht im Abschnitt „Leben“. Im Abschnitt „Nachleben“ ein paar Zeilen weiter: „Während das Werk von Clara Viebig in der Nachkriegszeit zunächst nicht mehr aufgelegt wurde, so erfährt es seit den 1990er Jahren wieder vermehrte Aufmerksamkeit.“
Die Clara-Viebig-Gesellschaft, ohne deren verdienstvolles Wirken der Name der Autorin Viebig wohl tatsächlich nur noch in fachkreislichen Parallelgesellschaften vage Assoziationen hervorrufen würde, duldet auf ihrer Homepage nicht nur diverse Korrekturausfälle, die bekanntlich nahezu unvermeidlich sind, aber doch irgendwann von irgendwem bemerkt werden sollten, sie stellt auch haarsträubende Behauptungen auf. So soll in der Zehlendorfer Villa, die Clara Viebig 1905 mit ihrem Gatten Friedrich Theodor Cohn und Sohn Ernst bezog, einem gastfreien Haus, Theodor Fontane aus- und eingegangen sein. Er kann dies allenfalls als Hausgeist getan haben, denn 1905 war er bereits sieben Jahre tot. So soll sich Clara Viebig bei Kriegsausbruch 1914 gegen die Folgen des Versailler Schmachfriedens gewehrt haben und danach zur Kriegsgegnerin geworden sein. Konnte sich die verdienstvolle Autorin tatsächlich schon vier Jahre vor dem Friedensdiktat gegen es wehren? Und warum, um alles in der Welt, wird still verschwiegen, dass der Sohn Ernst, der nach Brasilien floh, KPD-Mitglied war und nicht nur Sohn eines jüdischen Vaters und deshalb ohnehin gefährdet?
Die lange Liste der Sekundärliteratur der Gesellschaft enthält einen Namen gar nicht, den von Rolf Löchel. Gerade der aber hat über Jahre mit Ausdauer, wenn auch nicht durchweg mit Qualität, immer wieder auf Clara Viebig aufmerksam gemacht. Nicht weniger als sieben Beiträge von ihm sind auf Anhieb auf dem Portal Literaturkritik.de zu finden, in denen er sich nicht nur, wenn auch öfter, wiederholt, in denen er nicht nur Wolfgang Neuhaus mit Spott überzieht, um ihm wenig später dann fast als einzigem Beiträger eines Sammelbands überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken, sondern auch Unkenntnisse nicht aufbessert. Denn im Ost-Berliner Verlag Das Neue Berlin sind eben nicht nur die „Berliner Novellen“, sondern auch „Die vor den Toren“, „Das tägliche Brot“ und „Eine Handvoll Erde“ erschienen in den ganz frühen DDR-Jahren. Löchel belieferte auch das Portal Fembio.org und behauptet dort, Clara Viebig habe bis zu ihrem Tode im Ostteil der Stadt Berlin gewohnt, dort hätten ihr Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl zum 90. Geburtstag gratuliert.
Wenn dies wahr wäre, hätten alle anderen Quellen, die behaupten, Clara Viebig wäre nach ihrer Rückkehr nach Berlin wieder in ihr Zehlendorfer Haus gezogen, natürlich Falsches bekundet. Aber die Autorin Clara Viebig, die nach einer Quelle fast 50, nach der anderen genau 27 Romane verfasst hat, alles gleichzeitig im Netz und also von den jeweiligen Verfassern gegenlesbar, scheint generell niemanden animiert zu haben, sich genauer mit den Details ihres Lebens und Schaffens zu befassen. Allein ihre Flucht vor den Bomben auf Berlin wird in drei verschiedene Jahre gelegt: 1940, 1941 und 1942. Wann war es denn nun? Eine Autorin behauptet, Clara Viebig hätte den Ehrensold der Deutschen Demokratischen Republik bezogen. Für welchen Dienst in welcher Armee oder militärähnlichen Einheit sollte dieser Sold gezahlt worden sein? Warum hat den sonst niemand je bekommen? Wie kann Ernst Barlach, der 1938 starb, für die 1952 am 31. Juli, deshalb heute dieser Beitrag, gestorbene Clara Viebig ein Grabdenkmal geschaffen haben, wie es Killys Literaturlexikon behauptet? Warum befasst sich niemand mit der doch Neugier weckenden angeblich lang andauernden Freundschaft von Clara Viebig und Käthe Kollwitz, anstatt permanent zu wiederholen, sie sei zu Unrecht vergessen und zu Unrecht als Heimatschriftstellerin verrufen?
In der Eifel, genau dort, wo Clara Viebig vielfach kurte, sitzt heute die nach ihr benannte Gesellschaft. Genau dort, wo sie angeblich nur unter Polizeischutz sich aufhalten konnte, weil nach ihrem Roman „Das Weiberdorf“ Lynchjustiz zu befürchten war wegen herabsetzender Darstellung der Dörfler, dort gilt sie heute mehr als irgendwo in Deutschland und der Welt. Hätte ich, als ich vor vielen Jahren die Burgruine Manderscheid bestieg, schon gewusst, dass es eine Zigarrenarbeiterin gibt, geschaffen von Clara Viebig, die dort ihre Katze trifft, der sie dann sieben Junge nimmt, um sie in den Fluss Lieser zu werfen, dann hätte ich inne gehalten. Ich kannte damals auch noch nicht die selbstbewusste Christine Müller, die im Arbeitshaus sitzt, weil sie „auf die Straße ging“ mit ihren 19 Jahren, um Geld zu verdienen. Als ich sie kennen lernte und las, wie sie sich auflehnt gegen die beiden Wohltätigkeitstanten, die mir verdammt bekannt vorkamen, obwohl Clara Viebig sie aus dem Berliner Leben der vorvorigen Jahrhundertwende griff, war es ziemlich spät für eine literarische Neuentdeckung meinerseits.
Liest man, um noch einmal auf Rolf Löchel zu kommen, der ohne Not permanent die Gender-Fahne schwenkt, was heuer über Clara Viebig offenbar geschrieben wird, was also bei ihr konnotiert, was bei ihr „eingeschrieben“ ist in welche Diskurse, dann fragt man sich zutiefst besorgt: Interessiert sich tatsächlich niemand mehr für das, was Autorinnen und Autoren tatsächlich erzählen, gründelt die ganze Brigade, die von staatlichen Stützgeldern für Universitäten lebt, tatsächlich nur in intertextuellen Bezügen? Dafür sollten sie ihr eigenes, nur ganz privates Geld ausgeben, denn das interessiert außer ihnen niemanden, definitiv niemanden und es hat auch weniger Nutzwert für den Gang der Literatur als der Gesang von Feldlerchen für den Ausgang des Afghanistan-Konflikts.
Jürgen Busche äußerte, als er vor knapp sechs Jahren für die Süddeutsche das Nachlasswerk von Carola Stern besprach, es war die von Ingke Brodersen vollendete Doppelbiographie des Ehepaares Cohn-Viebig (Kiepenheuer & Witsch 2006): „Man wird nach der Lektüre von Carola Sterns Buch wahrscheinlich nicht sogleich den Wunsch verspüren, etwas von Clara Viebig zu lesen.“ Wenn das so ist, ich habe die Biographie nicht gelesen, dann hat sie das Klassenziel verfehlt. Oder müssen neuerdings Biographien geschrieben werden über Schriftsteller (Künstler), die keine Neugier auf deren Werk wecken, Bücher also, die Gleichgültigkeit fortschreiben oder gar Antipathien auslösen sollen? Vielleicht aber war Busche ja nur ein Zyniker, der das Vorkommen von Armin T. Wegner im Stern-Buch lobte, weil er soviel Pietät besaß, der frisch verstorbenen Carola Stern nicht posthum zu nahe zu treten. Dagegen spricht der Anfang, der das Buch ihr vielleicht schönstes, gewiss aber ihr bestes nannte. Den feinen Unterschied lobe ich mir. Das „vielleicht“ sollte sich irgendwann jedoch jemand als bestmöglichen Ausdruck für Feigheit vorm Leserfeind unter Titelschutz stellen lassen. Dann ist endlich Schluss mit den längsten Pralinen der Welt.
Ansonsten will ich noch rasch „Das Miseräbelchen“ erwähnen. Auch weil es den Titel einer Sammlung abgab, die dreißig Jahre nach Clara Viebigs Tod kürzere Texte von ihr neu auflegte. Das arme rachitische oder tuberkulöse Kind, das leise und still stirbt, während Mutter, Nachbarskinder und andere für seinen baldigen Tod beten, der dann während eines Gewitters eintritt, das straft alle diese unausgelasteten Interpretier-Windbeutel und Windbeutelinnen Lügen, die uns glauben machen wollen, dass mit der Einordnung von Mutterschaftsmythen, Emanzipationstheoremen und ähnlichen Erschlagworten Literatur beizukommen sei. Als vor langen langen Jahren einmal der Dichter Günter Kunert sich veranlasst sah, Vorwürfe abzuwehren, sagte er sinngemäß: Im Zweifel bin ich immer Inhaltist. Gegenüber Clara Viebig, die heute vor sechzig Jahren starb, sollte man wohl am besten Inhaltist sein.