James Baldwin 100

James Baldwin hat fürchterliche Sätze über seinen Vater geschrieben. Der fürchterlichste lautet: „Ich erinnere mich nicht, dass sich in all jenen Jahren eins seiner Kinder jemals gefreut hat, wenn er nach Hause kam.“ Vielleicht berührt mich das so, weil ich zuletzt mehrere Filme sah, in denen Väter ihren Söhnen, Töchtern, Nichten bekannten, es tue ihnen leid, nicht für sie da gewesen zu sein, als sie ihn brauchten. Es waren alles amerikanische, US-amerikanische Filme, alle mit sehr viel Gewalt, noch mehr Blut. Aber am Ende retteten diese Väter diese Söhne, Töchter und Nichten aus den gefährlichsten Gefahren, sie starben fast dabei oder sie starben einfach. In der Short Story „Der Felsblock“ ist es der Vater, der an Samstagen eher nach Hause kommt als sonst und dort den völlig verängstigten Roy vorfindet, der beim verbotenen Spiel auf dem nämlichen Felsen gegenüber sich eine stark blutende Platzwunde über dem Auge zugezogen hat. Schuldvorwürfe, ausgesprochen und unausgesprochen, treffen den älteren Bruder, John, und die Mutter. Die Mutter bemerkte nicht, wie Sohn Roy die Wohnung verließ, der Bruder wusste und sah es wohl, wollte den Jüngeren aber nicht verraten. „Das Kind starrte den Mann wie gebannt an, voller Entsetzen – so hatte Elizabeth als Mädchen daheim im Süden schreckgelähmte Kaninchen vor kläffenden Hunden stehen sehen.“

Ausgerechnet der SPIEGEL, der 1987 den an den Folgen eines Krebsleidens gestorbenen James Baldwin schon in den Orkus der Literaturgeschichte verwiesen hatte, war es 2018, der mit einer XXL-Buchkritik von Georg Diez den Anschein erweckte, als gäbe es kaum Wichtigeres, als just diesen vergessenen kleinen farbigen Mann neu und nun für immer und ewig wiederzuentdecken. Im (west-)deutschen Feuilleton funktioniert das immer marktwirtschaftlich: es muss eine neue Biografie erschienen sein, eine neue Übersetzung oder, am besten, ein aus den aktuellen USA nach Europa und Deutschland zu verschleppendes dortiges Markt-Phänomen. In den USA war Baldwin tatsächlich aus der Versenkung gehoben worden, nicht zuletzt, weil Barack Obama ihn als seinen Lieblingsschriftsteller benannt hatte. Europa, euphorisch bereit gewesen, den Nobelpreis für einen Präsidenten anzuerkennen, der noch gar nichts geleistet hatte (und dann in zwei Amtszeiten ja auch kaum etwas Tatsächliches erreichte von allem, was er angekündigt hatte), konnte um so eher seinen literarischen Vorlieben folgen. Warum nun aber neue Übersetzungen bezahlt werden, wo es doch schon alte gab, denen meines Wissens niemals nennenswerte Schwächen nachgesagt wurden, bleibt marktwirtschaftliches Verlagsgeheimnis. Die Kritik erhebt sich sonst eben nicht vom Desk Top.

Das Ergebnis ist erwartbar. Gustav Seibt und Georg Diez und Wieland Freund und Verena Lueken entdecken in dem Roman von 1953, der nun sinnigerweise „Von dieser Welt“ heißt, nachdem er mehr als 60 Jahre lang dem Originaltitel „Go tell it on the Mountain“ entsprechend als „Gehe hin und verkünde es vom Berge“ firmierte (Übersetzer einst Jürgen Manthey), auch nur das, was drin steht. Dass viel Autobiographie eingeflossen ist, wissen einige Leser der Großfeuilletons schon aus Altersgründen nicht mehr und wenn der SPIEGEL den kleinen Baldwin auf Fotos mit Charlton Heston, Marlon Brando und Harry Belafonte zeigt oder mit einem sehr jungen Bob Dylan (alles aus dem Jahr 1963), dann müssten eigentlich begleitende Essays her. Denn Charlton Heston steht für ein extrem anderes Amerika als Baldwin oder Belafonte. Amerika, das ist ein Problem, wie beispielsweise ich es nie haben konnte: Mich haben die Rosinenbomber nie beworfen. Das Land aber ist für alle von ganz weit links bis ziemlich weit rechts bis heute genau jenes, das vor jedem, wirklich jedem Antiamerikanismus beschützt werden muss und wenn der aus dem wirklichen Wissen um den fürchterlichen Rassismus, um die Ausrottung, man darf auch Genozid sagen, der indianischen Urbevölkerung, wächst, dann wird es kompliziert, das Sternenbanner hoch zu halten.

Darum aber geht es immer: dem Antiamerikanismus keine Nahrung zu liefern. Wir kennen das gut: dem Klassenfeind durfte keine Munition geliefert werden. In jener Zeit offenbarte sich auch ein damals omnipräsenter Amerikanistik-Professor der DDR, Karl-Heinz Schönfelder (26. April 1923 – 29. Dezember 2018), der den Hype von 2018 noch bewusst miterlebt haben dürfte. Er schrieb in seinem Nachwort zu just dem Roman, der nun eine Neuübersetzung erleiden musste: „Mit der Schilderung unnatürlicher Liebesbeziehungen, die zwar psychologisch motiviert werden, im übrigen jedoch rein privater Natur bleiben, hat sich Baldwin auf Abwege begeben.“ Es war die Rede von „Giovannis Zimmer“, Baldwins zweitem Roman, der „das Dilemma eines jungen Amerikaners behandelt, der zwischen den Geschlechtern steht und bei dem schließlich die widernatürlichen Neigungen die Oberhand gewinnen.“ Homosexualität als unnatürlich, als widernatürlich gesehen, das scheint von einem anderen Stern heute, wo noch die winzigste Minderheit mehr Lobby hat als alles, was Mehrheiten, einst Kernfigur von Demokratie, für sich beanspruchen dürfen. Und dann ist da ein allen Wieder- und Neuentdeckern fatales Phänomen: Rund um Baldwin kreist zu seinen Lebzeiten, auch bei ihm selbst, das, was heute nur N-Wort heißt.

Die lange Reihe der schreibenden Menschen, die sich mit Baldwin befassten, operierte mit größter Selbstverständlichkeit mit dem N-Wort in voller Länge: mit Neger eben. Wird jemand den partei-kommunistischen DDR-Professoren Schönfelder, Wirzberger, Brüning, Rassismus vorwerfen wollen? Wird man Fritz J. Raddatz, den Verfasser eines nun wirklich lesenswerten „Literarischen Porträts“ zu Baldwin, einen Rassisten nennen wollen? Negerliteratur, Negerschriftsteller, Negerwissenschaftler, Negerschauspieler, was immer das Herz heute per Dekret nicht mehr begehren darf, war im Verbal-Umlauf: nicht als Provokation gegen Neusprech-Diktatorinnen und -Diktatoren, sondern als Umgangssprache. Ließe sich, das schrieb ich schon, und es ist eigentlich nur trivial, Rassismus durch Sprachhygiene austreiben, dann wäre alles Leben leicht und einfach. Ein paar Seminare an großkarierten Flip-Charts, begleitet von veganen Vier-Gang-Menüs, und die Welt wäre nur noch vom Klimawandel bedroht, gegen den am wirksamsten Klebstoff hilft, wie wir wissen. James Baldwin wurde an genau dem Tag 19 Jahre alt, an dem sein Vater beerdigt wurde, der Mann, den er Vater zu nennen hatte, obwohl er nicht sein leiblicher Vater war, denn mit dem hatte seine Mutter, bevor sie weitere acht Kinder gebar, gesündigt. Eins ebenfalls an jenem 2. August.

„Gehe hin und verkünde es vom Berge“ führt Familiengeschichte vor, die natürlich nicht Detail für Detail authentisch ist. Karl-Heinz Schönfelder meinte 1968 zwar: „Sein Engagement zeigt sich am deutlichsten im zweiten Teil des Romans, wo er sich mit der Kirche als Institution auseinandersetzt und zur Rassendiskriminierung Stellung nimmt.“ Aber er schränkte auf der nächsten Seite gleich ein: „Dennoch wäre es verfehlt, in diesem Roman einen generellen Angriff Baldwins auf die Religion zu sehen.“ Überwiegend oder bisweilen auch rein ideologische Betrachtung von Literatur in den Farben der DDR überrascht heute niemanden mehr. Ob es freilich wirklich besser und vor allem treffender ist, den neu betitelten Roman zu sehen wie Georg Dietz, steht dahin: „Tatsächlich handelt „Von dieser Welt“, wie praktisch alle Romane Baldwins, von der Liebe und der Unfähigkeit der Menschen, sich dieser Liebe zu stellen und mit ihr zu leben.“ Da ist es dann faktisch nur Petersilie auf der Salzkartoffel, ob draußen Rassismus tobt, ob Schwulenfeindlichkeit zupackt oder sonstige Umstände. Der Mensch ist so nur noch Gegenstand einer belletristischen Anthropologie. Aber: Baldwins Essays sind welche, „die sich heute lesen wie Brandbomben in Trump-Land.“ Mit etwas Glück respektive Unglück kehrt jener Donald wieder zurück in die alte Bombenlandschaft.

Baldwin beendete seinen ersten Roman in Leukerbad im Kanton Wallis. Und Wieland Freund schreibt: „Als Teju Cole, einer der bekanntesten jungen schwarzen Schriftsteller Amerikas, ein halbes Jahrhundert später nach Leukerbad kam, war diese Szene beinahe unvorstellbar: Fernsehen, Tourismus, Bildung, Fortschritt und sogar die amerikanische Bürgerrechtsbewegung hatten auch im Kanton Wallis gewirkt, und James Baldwin war jetzt der kleine Mann mit den großen Augen auf den unvergesslichen Fotos aus den Jahren der Bürgerrechtsbewegung, in der ihm die Rolle des Barden zukam.“ War das eine Freundsche Fünffaktoren-Theorie oder einfach nur fröhlich vor sich hingeschrieben? Mir fehlt auch alle Phantasie, mir vorzustellen, wie Baldwins Essays in die literarische DNA der Vereinigten Staaten eindringen konnten. Vielleicht hört man einfach zu viel und zu oft von Gen-Manipulation, um zu glauben, dass da an einer Stelle eine Sequenz von Baldwin isoliert werden konnte und herausgeschnitten, um sie einer Art von Staats-DNA zu implementieren? Aber wir haben im Basis-Seminar Feuilleton nicht gestrickt, sondern zugehört. „Ich habe eine Abneigung gegen Menschen, die mich deshalb lieben, weil ich ein Neger bin“, schrieb Baldwin 1955. Man denke nur einen kurzen Moment statt „Neger“ das Wort „Flüchtling“.

„Ich liebe Amerika mehr als jedes andere Land der Welt, und aus eben diesem Grund bestehe ich auf dem Recht, es unablässig zu kritisieren. Ich halte alle Theorien für verdächtig und glaube, dass auch die schönsten Prinzipien vielleicht modifiziert werden müssen oder von den Erfordernissen des Lebens vielleicht sogar pulverisiert werden können“. Auch das 1955. 1962 ging es ihm um ein heute allgegenwärtiges Wort: „... wenn das Wort Integration überhaupt einen Sinn hat, dann diesen, dass wir mit Liebe unsere Brüder zwingen müssen, sich so zu sehen, wie sie sind, aufhören müssen, die Realität zu fliehen, und beginnen, sie zu ändern.“ Und 1970: „Wir Schwarzen wissen, dass wir, und nicht nur wir, noch immer Opfer einer Ordnung sind, deren einziger Antrieb die Habgier ist und die als einzigen Gott den Profit kennt.“ Baldwin schrieb das nicht für DDR-Professoren. Auch das nicht: „Der Wille des Volkes in Amerika war immer in der Gewalt einer nicht nur einzigartigen, sondern sogar geheiligten und geheiligt-kultivierten Dummheit“. In dem „Offenen Brief an Angela Davis“ stand auch: „Der amerikanische Triumph, der stets die amerikanische Tragödie mit einschloss, war es, die schwarze Bevölkerung dahin zu bringen, dass sie sich selbst verachtete.“ Wenn Baldwin Vater und Mutter gelegentlich oder dauernd verachtete, bezog er sich also selbst ein.

Nein, ich glaube nicht, dass James Baldwin ein Barde war. Ich neige eher zu Fritz J. Raddatz: „Man kann ihn einen Thesenschriftsteller nennen, dessen Essays wie die Millimeterpapiergrundlage für seine Romane wirken, logische Aufrisse für ein Werk der Phantasie. Eines seiner Hauptthemen, wenn nicht das Thema Baldwins überhaupt, ist die Verflechtung von Vereinzelung, Selbstentfremdung und Selbsthass.“ Raddatz zitiert: „Neger sind genauso aller erdenklichen Verbrechen fähig, aller Vorurteile und aller Gewalt und aller Schrecklichkeiten, die von einem menschlichen Wesen je getan wurden.“ Und schreibt wenig später: „Baldwins Beschäftigung mit der Homosexualität ist vielleicht eine Form der rationalen und moralischen Konsequenz: ist es doch die Spielart der Liebe, die zur dünnsten, eisigsten Einsamkeit verurteilt.“ Wieviel tiefer (und aus eigener Erfahrung) lotete da der 1958 aus der DDR Geflohene als jener oben genannte Professor, der von Spielarten der Liebe weniger wusste als nichts. Auf sechs Romane ist James Baldwin am Ende gekommen, den letzten, „Zum Greifen nah“ in der deutschen Übersetzung von Nils Thomas Lindquist, 640 Seiten stark, wollte schon niemand mehr so richtig ernst nehmen. „Dieser letzte große Roman James Baldwins ist ein sehr einsames Buch, die Hoffnung zerspellt, die Gebärde des Flehens hängt leer in der Luft“, resümierte Raddatz. Ein rundes Jubiläum ändert an allem nichts.


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