Truman Capote 100

Fulminant geht immer. Wenn eine Biographie die 700-Seiten-Marke reißt, ist es unvermeidlich, dass irgendeiner aus den Schlachtreihen der Kritik den Wälzer fulminant nennt. Ich gebe zu, selbst noch nie etwas fulminant genannt zu haben, auch das Wort luzide kenne ich nur aus Kritiken, von denen ich wohl mehr lese, als gesund ist. Dennoch ist noch niemand an zu viel gelesenen Kritiken dahin gegangen, zu viele gerauchte Zigaretten erzielen eine deutlich höhere Trefferquote. Gerald Clarke, geboren am 21. Juni 1937, hat mehr als 700 Seiten über Truman Capote gefüllt, das Fulminanz-Kriterium damit erfüllt. Und schon ist Tobias Rüther zur Stelle, für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung das Prädikat fulminant auch tatsächlich zu vergeben. Er tut das 2014, als der Verlag Kein & Aber Zürich eben die Biographie neu auflegt, die er 2007 schon einmal neu aufgelegt hatte, nachdem sie der Münchner Kindler Verlag 1990 erstmals in deutscher Übersetzung präsentierte. Die Kritiker von 2007 und später haben die 1990er Ausgabe entweder übersehen oder vergessen, aber Vergessenheit ist kein Straftatbestand. Dafür erfuhr ich stellvertretend für man, dass der Biograph Gerald Clarke dereinst mit Truman Capote den Swimmingpool teilte, respektive sein Freund war (13 Jahre jünger), was ein leicht anderes Licht auf die fulminante Biografie wirft.

Clarke begann seine Biografie bereits zu Lebzeiten des Freundes, beim Vollenden erging es ihm wohl ein wenig wie Capote selbst, der auf die Hinrichtung der Mörder warten musste, denen sein Buch „Kaltblütig“ galt. Dafür wurde das Buch ein Bestseller und es wurde ebenso verfilmt wie das Leben des Autors auf der Basis der Biografie. Als 2014 sehr alte Short Stories und ein paar ebenso alte Gedichte des noch unmündigen Capote entdeckt wurden, geschah es, dass deutsche Blätter Welterstveröffentlichungen vorstellen konnten, kombiniert auch gleich mit einem Interview, das Gerald Clarke gab. Es sprach sich herum, dass der sehr junge Truman Capote mit der noch jüngeren Harper Lee befreundet war, die später mit „Wer die Nachtigall stört“ einen eigenen Hyper-Bestseller ablieferte. Von 1930 bis 1932 verbrachten beide gemeinsame Ferien. Und doch: als 2005 Sebastian Moll sich für die taz zu Wort meldete, begann er seinen Beitrag so: „Seltsamerweise hat das literarische Amerika den 20. Todestag von Truman Capote sowie seinen 80. Geburtstag im vergangenen Jahr verschlafen.“ Dabei war das gar nicht so seltsam, wie es scheint. Denn Capote war mit der Teilpublikation von Auszügen aus seinem Werk „Erhörte Gebete“ im Esquire-Magazin so radikal in Ungnade gefallen wie kaum ja ein Publikumsliebling des „literarischen Amerika“.

Nachbeben der Radikal-Ungnade kann man in Deutschland beispielsweise an gleich drei Büchern erkennen, die Repräsentativität beanspruchen: die Kindler-Kompakt-Darstellung „Amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts“ kennt Capote nicht, ebenso verzichten auf ihn „Amerikanische Short Stories des 20. Jahrhunderts“ (Reclam Stuttgart, 670 Seiten) und „Wo liegt Amerika? Die besten Erzähler von Ernest Hemingway bis Jonathan Franzen“ (Rowohlt Paperback, 602 Seiten). Man mag sich einen Reim darauf machen, auch wenn man den Buchtitel von Michael Rutschky „Wie wir Amerikaner wurden. Eine deutsche Entwicklungsgeschichte“ (Ullstein) gar nicht kennt. Rutschky schrieb übrigens eine Besprechung der Gerald-Clarke-Biographie, die wirklich diese Biographie besprach und nicht nur, wie andere leider, einfach die Biographie nacherzählte. Letztlich aber und unterm Strich haben vor allem die Neuentdeckungen früher Texte und die Tatsache, dass Hollywood das Leben Capotes verfilmen wollte (und sehr erfolgreich auch tatsächlich verfilmte) neue Neugier erweckt. Natürlich würden sich heute noch sämtliche Kenner ihre Bäuche halten vor wieherndem Gelächter, müssten sie bei taz-Moll lesen: „Kaltblütig“ begründete das Genre der literarischen Reportage und verwischte somit gründlich die Grenzen zwischen Journalismus und Literatur.“

Vielleicht lebtaSebastian Moll (Jahrgang 1964) einfach schon zu lange in Amerika, genauer in New York, um auf europäisches Basis-Wissen zurückgreifen zu können: literarische Reportagen gab es schon, als der kleine Truman Capote noch gar nicht geboren war, was ihm keineswegs zur Last gelegt werden darf, denn von der Gnade der späten Geburt reden nur Politiker bei Bedarf, ansonsten ist das mit der Geburt weder Gnade noch Strafe oder ähnliches: es ist Biologie, mehr nicht, und das reicht auch. Als der Erstlingsroman „Sommerdiebe“ den deutschen Markt in deutscher Übersetzung erreicht, schwappt eine Rezensionswelle durch den deutschen Blätterwald (warum eigentlich Wald, ginge Steppe nicht auch, in der man freilich nie den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen kann?). Capote, so der Chor, war great, greater than, und alles mit nur 163 Zentimetern lichter Körperhöhe. Ich nenne einmal einige der zahlreichen Kritikernamen von 2005/2006: Georg Diez, Uwe Schmitt, Angela Schader, Elmar Krekeler, Susanne Kunckel, Dominik Kamalzadeh, Andreas Weber, Brigitte Preissler, Katharina Döbler, Ulrike Baureithel, Martin Krumbholz, Ina Bösecke. In Zürich wird man sich die Hände gerieben haben bei Kein & Aber, wo freilich, und das verdient mehr als nur die nackte Erwähnung, das Werk von Truman Capote schon lange in den allerbesten Händen liegt.

Im Deutschlandradio Kultur machte Rezensent Lutz Bunk Capote noch fünf Zentimeter kürzer als die Sommerdiebe-Besprechungen vermeldet hatten, die piepsige Stimme dagegen ist kritisches Allgemeingut. Er empfahl die Clarke-Biographie als ultimativen Lese-Tipp und illustrierte das mit einem Zitat aus einem Brief Capotes über Jacqueline Kennedy: „Sie war verletzt, weil sie wusste, dass er diese anderen Weiber bumste.“ Natürlich gehört dergleichen in die Hochliteratur des 20. Jahrhunderts und hat zusätzlichen Informationswert für all diejenigen, die mit den grandiosen Rückenbeschwerden des Wunderpräsidenten John F. Kennedy vertraut sind. Ob alle, die lesen, dass Truman Capote ein amerikanischer Marcel Proust sein wollte und zuvor lasen, er habe keinerlei literarische Bildung besessen, auch immer wissen, wer dieser Proust war, darf angesichts des leider bekannten unliterarischen Amerika stark bezweifelt werden. Wobei der Satz, Proust werde sehr stark überschätzt, sicher schon von irgendjemandem gesprochen oder geschrieben wurde. Seit dem großen James-Joyce-Jubiläum 2004 (100 Jahre Leopold Bloom am 16. Juli 1904) ist es chic, seine Unkenntnis öffentlich zu machen: damals bekannten diverse Prominente, „Ulysses“ nie gelesen zu haben. Auch mit gleich sieben Bänden Proust wird es weltweit sicher nicht anders gewesen sein.

Wann hätte das männliche IT-Girl Capote das alles auch nur lesen sollen: auf den Kreuzfahrten im Mittelmeer mit Fiat-Chef Agnelli, zwischen all den Flirts mit weiblicher Hochprominenz und Hochfinanz? Sind namhafte, gar hochberühmte deutsche Autoren denkbar, die, als gäbe es nichts Natürlicheres, nichts Normaleres als das Jet-Set-Dasein mit den Stofflieferanten der Yellow Press, Reportagen darüber verfassten? Das wäre, als würde ich mit dem doch sehr schlichten Umstand hausieren gehen, dass Erich Honeckers Schwiegersohn Zweitgutachter meiner Diplomarbeit war, mit der Einschränkung natürlich, dass mein Ehrgeiz, Romane zu verzapfen, kurz nach meinem Eintritt in die Volljährigkeit erlosch. Heute schreibe ich nicht einmal mehr über Romane gern, weshalb mir, zurück zum Thema, die Stories und die Reportagen Capotes auch deutlich lieber sind als die paar Romane. Ich markiere mir Sätze wie: „Es gibt keine größere Einsamkeit als die eines aufstrebenden Schriftstellers ohne jede Andeutung einer Schallmuschel.“ Andere Einsamkeiten als die eigenen auch nur für möglich zu halten, ist eine der größten Bedrohungen für intellektuelle Existenzen. „Ich bin kein begeisterter Leser meiner eigenen Bücher: was fertig ist, ist fertig.“ Das kenne ich aus eigener Erfahrung, auch das mit den Wolken und der Stimme aus ihnen von 1969.

Das schrieb Truman Capote: „Es ist ungewöhnlich, begegnet aber zuweilen jedem Schriftsteller, dass das Niederschreiben einer bestimmten Geschichte unwillentlich und mühelos erfolgt; es ist, als ob man ein Sekretär wäre, der die Worte einer Stimme aus den Wolken überträgt.“ Manchmal tönt die Stimme aus den Wolken so ausdauernd, das erzählt manche Seite aller Literaturgeschichten, dass der Sekretär erschöpft von Stuhl sinkt, wahlweise Schemel, Sessel, Stehpult, da hilft dann auch kein fauliger Apfel mehr in der Schublade. Und der Schluck aus der Pulle schon gar nicht. Falls die Nachrichten über die Hektoliter Kaffee stimmen, die Balzac sich verordnete, dann übersteigt das meine Erfahrung deutlich: mir hilft Kaffee nie. Markiert habe ich auch dies: „Nichts ist so unschön, als an anderen gerade diejenigen Eigenschaften zu kritisieren, die man selber besitzt.“ Politik wie vollziehende Medien gut beobachtet. „Aus Kirchen und anderen historischen Hinterlassenschaften habe ich mir noch nie viel gemacht, mich interessieren Menschen, Cafés oder die Auslagen in den Schaufenstern.“ Das handlich-hübsche Büchlein „Truman Capote, auf Reisen“ ist nicht mehr als ein kleinformatiger Auszug aus „Die Hunde bellen“. Auch „Marilyn & Co.“ entstammt dieser Quelle. Und „Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich bin ein Genie“ ist ein „intimes Gespräch“ mit L. Grobel.

Das die Kritik rasend interessierte. Bliebe ein Blick auf ein Ländchen, dessen Hingang dieser Tage wieder mit Endlosschleifeneifrigkeit und den üblichen Verdächtigen von Thierse bis Birthler medial in Erinnerung gerufen wird. Wie hielt sie es, die zweite kleine Diktatur, mit Truman Capote? Sie gab sich, wen eigentlich zu verwirren, tolerant. 1974, man könnte es mit dem fünfzigsten Geburtstag Capotes in Verbindung bringen, erschien als Band 64 der gefragten Reihe „Volk und Welt Spektrum“ Kurzprosa unter dem Titel „Frühstück bei Tiffany“. 1976 gab es bei Volk und Welt Berlin „Andere Stimmen, andere Räume“ und „Die Grasharfe“ in einem Band. 1977, ebenfalls bei Volk und Welt, „Kaltblütig“, beide auffallend ohne das sonst stets übliche Nachwort. 1980 schob sich der Leipziger Insel-Verlag dazwischen: „Baum der Nacht. Skizzen und Stories“ hieß Band 1036 (mit Nachwort von Günter Gentsch) und schließlich schob Volk und Welt 1983 noch „Die Stimme aus der Wolke“ nach. Man durfte sich halbwegs gut bedient fühlen vom literarischen Repressionsapparat, was nicht gegen den einheitsbedingten, einheitsverursachten Totaltod einer ganzen Verlagslandschaft half. Am heutigen 100. Geburtstag von Truman Capote darf dennoch das weinende Auge trocken bleiben. Oder wenigstens rasch trocken gewischt. Er bleibt für immer einer der wenigen, der sich absichtsvoll eine Hinrichtung live und in Farbe anschaute. Cool war das nicht.


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