Arthur Eloesser und Wilhelm Waiblinger
Zu den späten Kuriositäten seiner Rezeptionsgeschichte gehört der Umstand, dass nicht etwa seine schwäbisch-württembergische Heimat den Dichter Wilhelm Waiblinger aus völliger Vergessenheit zu heben suchte mit einer nennenswerten Neuveröffentlichung, sondern die in manchen Köpfen dortselbst gar nicht wirklich existierende DDR. Im Jahr ihres 25. Geburtstages, 1974 war das, porösen Gedächtnissen aufzuhelfen, erschien im Berliner Verlag Rütten & Loening ein knapp 600 Seiten starker Band mit dem Titel „Wilhelm Waiblinger: Mein flüchtiges Glück“. Herausgeber und Autor eines DDR-üblich umfangreichen (und sehr informativen) Nachworts war Wolfgang Hartwig. Der trat in der DDR auch als Verfasser einer Hemingway-Biografie (Verlag Neues Leben Berlin 1989) in Erscheinung, gab Ärzte-Erinnerungen heraus (Verlag Der Morgen Berlin 1973) und einen Band von Jean Paul. Er schrieb auch über historische Gaststätten. Inwieweit er mit dem Journalisten und Sport-Reporter gleichen Namens identisch ist, der lange für die Junge Welt und die Berliner Zeitung schrieb, war auch nach längerer Suche im weltweiten Netz nicht zu klären. Dass Hartwig selbst als Hemingway-Biograf nur eine Danksagung schrieb, von seinem Verlag aber mit keinem Wort vorgestellt wurde, wäre eine andere Kuriosität, sehr weit weg von der Waiblinger-Rezeption.
Natürlich gab es und gibt es einzelne Ausgaben nach 1945 auch in den westlichen Besatzungszonen und der Bundesrepublik Deutschland, vor allem die Hölderlin-Schrift, bisweilen sogar sein Bestes genannt, die Gedichte in der umstrittenen Auswahl und Fassung von Eduard Mörike (deren Original von 1844 eben für 600 – 880 Euro zu haben ist), die Tagebücher von 1821 – 1825. Die Stuttgarter Ausgabe des Cotta-Verlages (1981 – 1991) in acht Bänden, Herausgeber Hans Königer, textkritisch und kommentiert, richtet sich naturgemäß nicht an ein breiteres Publikum, kostet unter Umständen doppelt so viel wie die neunbändige Heubel-Ausgabe aus dem Jahr 1842, in die der Biografie-Versuch von Hermann von Canitz integriert ist. Man könnte das Nachleben Wilhelm Waiblingers, geboren am 21. November 1804 in Heilbronn, gestorben am 17. Januar 1830 in Rom, zwischen die Begriffe Ignoranz und Euphorie spannen, wenn sich denn für Euphorie ähnlich locker Belege finden ließen wie für Ignoranz. Insofern stellt Arthur Eloessers Abhandlung im zweiten Band seiner Literaturgeschichte (1931 bei Bruno Cassirer) trotz ihrer Knappheit, trotz ihrer Anfechtbarkeit im Detail etwas wie eine deutliche Ansage dar. Wer heute zwölf stolze Bände Literaturgeschichte im Deutschen Taschenbuchverlag München hernimmt, sucht den Namen Waiblinger vergebens.
Wer drei Bände Literaturgeschichte in der Reihe der Universitäts-Taschenbücher (UTB) hernimmt, sucht den Namen Waiblinger vergebens. Der Befund gilt für Klassiker der Literaturgeschichte wie Oskar Walzel oder Wilhelm Scherer, gilt für Franz Koch, der mit seinen beiden Bänden von 1956 nebenher noch unselige Kontinuitäten verkörpert. Verblüffend auch die Abwesenheit des Namens in einem nun wirklich für breite Leserkreise gedachten Band des Leipziger Reclam-Verlages (RUB 94) „Deutschsprachige Literatur im Überblick“, ebenso verhält sich die vorrangig für Schüler der höheren Klassen edierte „Deutsche Literaturgeschichte in einem Band“, Volk und Wissen Berlin, Herausgeber Hans Jürgen Geerdts. Wolfgang Hartwig war demnach tatsächlich innerhalb der DDR durchaus ein einsamer Vorreiter. Ob ihm der Name Eloesser je begegnete, wissen wir nicht. Dafür fehlen in seinen knapp dreißig Seiten Nachwort DDR-unüblich die Namen Marx, Engels und Lenin, was heute niemanden verwundert, damals aber heftig aus dem Rahmen fiel. Eloessers Darstellung darf allenfalls neben ähnlich knappe bei Emil Ermatinger oder Richard M. Meyer gestellt werden. „Seine römische Wirtin pflegte den ganz arm und ganz zum Italiener Gewordenen zu Tode; während die kranke Lunge Blut spie, drängten sich Priester um ihn, um seine Seele abzufangen.“
So schließt Eloesser seine Betrachtung, lässt noch den Satz folgen: „Der jugendliche Waiblinger wollte ein Byron werden, bis er sich zu Goethe bekannte und Platens Zustimmung suchte.“ Bis dahin ist viermal das Wort wild gefallen: „der wilde Waiblinger“, „seinem wilden Kameraden Wilhelm Waiblinger“, „wildere Griechenlieder“, „seinem wilden Zigeunertum“. „Der am 21. November 1804 in Heilbronn geborene Waiblinger stammte von kleinen Leuten; er wollte hinauf, glaubte an sein Talent und machte daran glauben. Seine Mitschüler, seine Lehrer hielten ihn für bedeutend, auch der würdige Gymnasiarch Gustav Schwab in Stuttgart, bis die frühen Gedichte ihm leider einen schamlosen Mangel an Zucht und Unschuld entblößten.“ Schwab war am Gymnasium Lehrer Waiblingers, durfte dessen Tagebucheintragungen lesen, wie es auch Freunde und andere ausgewählte Bekannte durften. Zweimal zieht Eloesser eine Linie von Waiblinger zu Hermann Conradi (12. Juli 1862 – 8. März 1890), der meist dem Naturalismus zugeordnet wird, nennt ihn einmal dessen älteren Bruder, einmal hört er die „Lieder der Verirrung“ des Älteren „wieder den Liedern eines Sünders von Hermann Conradi mit ihrer literarischen Brunst vorausstöhnen“. Noch eine weitere Vergleichbarkeit ist dem Historiker in den Sinn gekommen, diesmal Richtung Schweiz.
„Es ist auch eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Heinrich Leuthold, den man für genial hielt, weil er zusehends wahnsinnig wurde. Diesem Schicksal entging er wohl durch frühen Tod.“ Peter von Matt (Jahrgang 1937) hat für Leuthold eine starke Beeinflussung durch Hölderlin geltend gemacht, was wiederum für Wilhelm Waiblinger in mindestens ähnlichem Maße gilt. Sein früher Roman „Phaeton“, von dem es inzwischen auch Reprints gibt, folgt in vielem dem „Hyperion“ Hölderlins. Sein Essay „Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn“ gilt weithin einstimmig als der Beginn der Hölderlin-Forschung. Dessen sicher gewichtigster Neudruck erschien 1981 in der Schwäbischen Verlagsgesellschaft Anton Brenner Tübingen/Wurmlingen, denn er ist mit einem Nachwort von Pierre Bertaux ausgestattet. Bertaux wiederum ist Verfasser einer umfänglichen Hölderlin-Biografie, die 1987 auch im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar erschien, ein Jahr vor dem Buch von Wolfgang Heise über Hölderlin, in dem, in heutigem Zusammenhang mehr als verblüffend, der Name Waiblinger nicht ein einziges Mal vorkommt, während Bertaux ihn alleweil heranzieht. Was wegen des genannten Essays von 1828/29 natürlich nahe liegt. Bei Arthur Eloesser kommt dieser Essay namentlich nicht vor, überhaupt sind nur vier Titel insgesamt zitiert.
Neben „Phaeton“ und „Lieder der Verirrung“ sind das noch „Drei Tage in der Unterwelt“ und „Lieder des römischen Karneval“. „Drei Tage in der Unterwelt“ von 1826 finden sich auch in der Hartwig-Auswahl der DDR, Gedichte sind dort gar keine aufgenommen. „Sein eigenstes sind die „Lieder des römischen Karneval“, in schnellen Trochäen leicht akzentuiert, eine Art von frischer Reportage, die sich um kein hohes Vorbild zu sorgen brauchte. Das moderne Rom machte ihn frei und keck, zu einem Sänger der Straße, wenn auch die Lust des Karnevals und die bunte Flut des Maskenzuges nicht gerade bacchantisch mitreißt.“ Zum Leben vor der „Künstlerflucht in den Süden“, am 22. November 1826 schrieb Waiblinger an seine Eltern aus Rom von seiner Ankunft in Rom, summierte Eloesser: „Bevor er ein Byron wurde, dem er sich sehr ähnlich fand, musste er die ehrsame Tracht des Stiftlers anlegen; aber es gelang ihm auch in Tübingen, seine Exzesse, erlebte und erdichtete, zu finden, das Leben im Rausch zu durchstürmen. Der Katzenjammer sollte bis zum Jenseits warten; er war nicht immer so geduldig: ein Abenteuer mit einer dämonischen Jüdin, die ihn mit dem eigenen Bruder betrog, überzeugte den überreif Unreifen von seinem platonischen Narrentum. Das ging zwischen Minderwertigkeitsbewusstsein und Überbewusstsein.“
Wie viel mehr hätte Eloesser wissen können, als er das niederschrieb, ist allenfalls zu vermuten. In Sachen der namentlich nicht genannten Julie Michaelis scheint er Verleumdungen gefolgt zu sein, die der Brandstifter Domeier über die jüdische Familie Michaelis verbreitete, in deren Haus er tätig war. Ob platonisches Narrentum danach kenntlich wurde, ob Verhältnisse zu Frauen in Rom, er hatte mit der ebenfalls nicht namentlich genannten Nena Carlenza zwei uneheliche Kinder, ihn von seinen in all den wenigen Lebensjahren nie gänzlich unterdrückten homoerotischen Neigungen und Phasen abbrachte, erörtert Eloesser nicht und hätte es auch bei deutlich größerer Detailkenntnis vermutlich nicht getan. Ganze Namensreihen in Waiblingers kurzer Vita sind bei Bernd-Ulrich Hergemöller im biographischen Lexikon „Mann für Mann“ (suhrkamp taschenbuch st 3266) nachzulesen. Das gewandelte Verhältnis des Grafen von Platen zu Waiblinger hat damit zu tun, das Zurückweichen Mörikes bei allzu ungestümen Annäherungen ebenfalls. „Waiblinger musste aus der Reihe springen, Feinde gewinnen“, schrieb Eloesser, aber ebenso „er hatte keine Bejahung hinter sich und auch keinen inneren Auftrag seiner Zeit“. Dass er dennoch mehr als nur ein Schnörkel in der deutschen Literaturgeschichte war, wie 1925 Theodor Heuss schrieb, sagt mir Arthur Eloesser.