Werner Riegel 100

Wo beginnen? Und wie? Vielleicht mit dem Bonner Antiquariat, welches sein Angebot des Buches „Heiße Lyrik“ schmackhaft macht mit dem Hinweis, es liege eine Original-Trauerkarte der Familie Riegel bei zum Tod des Dichters am 11. Juli 1956. Das wäre eine Möglichkeit. Denkbar ist auch ein Blick in ein anderes Buch. Für das müsste man sich eine Trauerkarte selbst ausmalen. „Anthologie 56“ hieß es, Herausgeber war Jens Gerlach. Es sammelte „Gedichte aus Ost und West“ und erschien im Verlag Neues Leben Berlin. Jens Gerlach (30. Januar 1926 – 9. Dezember 1990), manche werden sich erinnern, war selbst ein Lyriker, der 1952 aus dem Westen des schon geteilten Landes in den Osten übersiedelte und dort beispielsweise mit seinen „Dorotheenstädtischen Monologen“ allerhand Aufmerksamkeit auf sich zog. In der „Anthologie 56“ findet sich Werner Riegel wegen der alphabetischen Sortierung zwischen Margarete Neumann und Peter Rühmkorf und jeder leidlich Eingeweihte wird wissen, dass Riegel und Rühmkorf in größerer Nähe zueinander standen als Riegel und Neumann. Die beiden haben sich möglicherweise nicht einmal gekannt. Drei Gedichte wählte Gerlach von Riegel: „Abendlaub, ein Dunkelblau“, „Aus der Hand was zu fressen“ und „Geliebtes Laub in der Finsternis“. Nur für einen der dreißig vertretenen Dichter, sechs Frauen immerhin auch dabei, vermelden die biographischen Notizen schon ein Sterbedatum. Für Riegel.

Geboren ist er am 19. Januar 1925 in Danzig, aus seinem Jahrgang sind außer ihm präsent: Rolf Seeliger und Wolfgang Bächler. Für Riegel und Rühmkorf ist noch kein eigenes Buch ausgewiesen, dafür aber die hektographierte Zweitschrift „Zwischen den Kriegen“. Dass 1956 auch eine andere Anthologie „Deutsche Stimmen 1956“ versammelte, Untertitel „Neue Prosa und Lyrik aus Ost und West“, sei angemerkt, es war eine Co-Produktion zwischen dem Mitteldeutschen Verlag in Halle/Saale und dem Kreuz-Verlag Stuttgart. Hier sind Werner Riegel und Peter Rühmkorf nicht vertreten, nur vier Frauen unter 36 Namen, vom Jahrgang 1925 allein der Hamburger Heinz Albers.
„Ich rauche, ich dichte auf deutsch, / Was bin ich in Wirklichkeit?“ heißt es im ersten der drei genannten Gedichte. Von einer Hamadryade, von Hora, Hesperus und Päan ist darin auch die Rede. Man muss das mit Lexikon lesen oder ratlos bleiben, zumal die Hamadryade im Hürtgenwald aus der feuchten Erde steigt. Sie ist, Suchmaschine sei dank, die Seele eines Baumes im Plural, also die Seele der Bäume, Baumnymphen seien einst verehrt worden. Wobei der Hürtgenwald den eher kriegshistorisch Gebildeten als Ort eines fürchterlichen Gemetzels an amerikanischen Soldaten im Rahmen der so genannten Ardennen-Offensive bekannt sein dürfte. Das „professorale Wissen, die stupende Belesenheit“ hat Gunnar Falk Fritzsche Werner Riegel attestiert, sein später Herausgeber.

Fritzsche, dem wir vier Bände Riegel verdanken, der auch das Kapitel zu Riegel für das KLG verfasste, schrieb in seiner Nachbemerkung zu „Porträt eines Dichters und anderes zur Literatur der Zeit“ (Literarisches Bureau Christ & Fez Stuttgart 2010): „Oft genug hat sich der Herausgeber dieser vier Bände also gefragt, ob es denn sinnvoll sei, so viel Geld und Zeit in ein nahezu aussichtslos scheinendes Unternehmen zu stecken, aber alle Zweifel sind wie fortgeblasen, sobald man die Gedichte, die Erzählungen, die Essays des Dichters Werner Riegel zur Hand nimmt.“ Wohl jedem Idealisten, der so denken darf, weil ihn vor allem das Geld nicht direkt an der Gurgel packt, wenn es erwartbar verloren geht. Ohne solche Verleger, die auf alle Marktchancen pfeifen, um ihre Herzensautoren zu edieren, wäre die Parallelwelt der Literatur sehr viel ärmer. Werner Riegel gehört zur (west-) deutschen Literatur der frühen Bundesrepublik und doch hat ein auf Repräsentanz ganz sicher bedachtes Buch wie „Die Literatur der Adenauerzeit“ von Elisabeth Endres nicht einmal seinen Namen parat. Wer den Literaturbetrieb verachtet, den verachtet der Literaturbetrieb. Eine Schadensabwägung für solche Fälle ergibt: der Literaturbetrieb nimmt keinen, der Verächter so großen Schaden, dass er sich bei Lebzeiten tot nennen darf. In diesem Fall klappte es nicht einmal mit den Lebzeiten: Werner Riegel überlebte seinen 31. Geburtstag nur um ein knappes halbes Jahr.

Weshalb es sich verbietet, auch nur probehalber andere früh Verstorbene dieser Jahre aufzurufen, wie es gerade mit Alexander Xaver Gwerder oder Rainer M. Gerhardt bisweilen geschieht. Auch Fritzsche nennt sie, um gleich auf den großen, auf den entscheidenden Unterschied aufmerksam zu machen: diese beiden schieden freiwillig aus dem Leben, soweit man bei Suizid reinen Herzens von Freiwilligkeit überhaupt sprechen kann. Spekulationen, was Werner Riegel geschrieben und getan hätte, wäre er nicht seinen fürchterlich raschen Krebstod gestorben, sind müßig. Vielleicht wäre er tatsächlich Feuilleton-Redakteur beim „Studenten-Kurier“ geworden, der sich bald zu „Konkret“ mauserte und einen einschlägigen Ruf erwarb. Hinterlassene Fragmente, ein Roman-Kapitel, erlauben die Vermutung, dass er sich vielleicht in der längeren Prosa erprobt hätte. Peter Rühmkorf hat sich zur Lyrik rückblickend so geäußert: „Ob er dagegen ein originärer Lyriker war oder seine Liebe zur Poesie eher einer sentimentalen Sehnsucht entsprang, ist für mich eine kratzige Frage geblieben.“ Und wenn er ein originärer Lyriker gewesen oder geworden wäre, falls er es nicht sogleich war, hätte ihm das zu mehr Aufmerksamkeit verholfen? Man muss gar nicht gesondert auf die „Gruppe 47“ hinweisen, die als kollektiver Platzhirsch gar nicht immer das Geweih senken musste, es reichte die schnöde Ignoranz, der sich die Platzhirsche der Medien gern anschlossen.

Als Hubert Witt für den Verlag Volk und Welt Berlin die Anthologie „Die nicht erloschenen Wörter“ zusammenstellte, Untertitel in spezieller DDR-Correctness „Westdeutsche Lyrik seit 1945. Lyrik aus der BRD. Lyrik aus Westberlin“ griff er dreißig Jahre nach dessen Tod wie selbstverständlich dennoch auch zu Werner Riegel. Vier Gedichte schienen Witt würdig, immerhin doppelt so viele wie der repräsentativen Sammlung des Stuttgarter Reclam-Verlages „Deutsche Gedichte 1930 – 1960“. Man kann darüber nachdenken, muss aber nicht. Die stets von viel heimischer Kritik begleitete „Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart“ brachte in ihrem zwölften Band „Literatur der BRD“ (Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1983) auch einen durchaus ansehnlichen Absatz zu Werner Riegel. Unter anderem steht da: „In dem Essay „Politik und Individuation“ definiert er sein Selbstverständnis als Schriftsteller des „Finismus“: „Er betätigt sich kritisch und abbauend, gleichzeitig tritt er erste Pfade in unbegangenes Land. Da er die überkommene Syntax sprengt, große Wort- und Begriffsvorräte verschrottet, wenigstens aber in neue Kategorien ordnet, unbekümmert um Verständlichkeit und pädagogischen Nutzen, gilt er für antisozial, für asozial; wer gegen die Gesellschaft steht, ist ohne sie“. Ein wichtiges Stichwort ist damit genannt: Finismus, eine Selbstcharakteristik, laut Rühmkorf vor allem dem Markt zugedacht.

Weiter heißt es, „je bedrohlicher die „Wohlstands“- Gesellschaft Gestalt annahm, um so entschiedener erstrebte Riegel eine nonkonformistische Distanz zur bestehenden Ordnung.“ Getrieben fühlte sich der Dichter: „In die Regionen unermesslichen Molls.“ Ich mag gar nicht so tun, als könnte ich mit den Gedichten Riegels sehr viel anfangen, mir sind die seines zeitweiligen Kompagnons Rühmkorf deutlich lieber. Aber das will nichts besagen. Denn eine Neigung befiel mich gewissermaßen umgehend, als ich mich den Essays zuwandte. Mir gefiel die Radikalität, mit der Riegel sich über den berühmt-berüchtigten Journalisten Hans Zehrer hermachte, der schon für die Vossische Zeitung arbeitete, als noch Arthur Eloesser zu deren Literatur- und Theaterkritikern zählte und später, was für eine ganze West-Generation für jede nähere Charakteristik ausreichte, zur Springer-Presse gehörte. Mir gefiel, wie er den kaum berüchtigten Literaturhistoriker Paul Fechter anging wegen seiner Wendigkeit, die allen peinlichen Nazi-Bezug tilgte. Ähnlich emsig waren in der Gegend, in der ich aufwuchs, die alten Stalinisten, die all ihre Stalinzitate für ihre Gesammelten Werke streichen ließen und das nicht einmal vermerkten. Die Originale sind heute Renner in den Antiquariaten, so weit sie dort überhaupt auftreten. Die alten Nazi-Schwarten gibt es frei Haus. Und mir gefiel, wie Riegel mit Brecht umging, der keineswegs nur in Österreich als Hass-Objekt diente.

Zu Brechts „Kriegsfibel“ schrieb er: „Verhallt die Schüsse von damals. Diese Fibel bewahrt die Schnappschüsse. Die Bilder. Das was die Wirklichkeit gebildet. Ihr Einfallsreichtum überrascht nicht; er ist allerdings wunderbar. Sein schlimmstes Wunder: der Mensch. Noch halten wir den Menschen für menschlich. Seine leichteste Mühe: uns vom Gegenteil zu überzeugen.“ Man muss das nicht kommentieren. Da steht auch: „Wer den Frieden will, bindet den Helm fester. Den neuen.“ Natürlich hat Riegel nicht Anton Hofreiter und Kompagnon vorausgesehen. „Bei Gelegenheit Heines“ schrieb er: „Es hängt auch mit Tradition zusammen; hierzulande hat Tradition alles, die Unwahrheit besonders. Die Wahrheit weniger; auf sie besinnt man sich, wenn sie den Stoff für neue Lügen liefert.“ Heinrich Detering sah Riegel seinerzeit auch im Kampf gegen stalinistische Vereinnahmungsversuche. Mir ist ein solcher bisher nicht begegnet. Ich bleibe belehrbar. Dafür las Ulrich Matthes ebenfalls seinerzeit im Deutschlandradio „Ich atme Frucht“ mit den Versen: „Meine Hymnen für euch Gesocks / sind nicht mehr feierlich.“ Zu Brechts „Galilei“: „Die Wahrheit zu sagen, gelingt leicht einem, der etwas Mut hat. Sie zu empfangen, bedarf es mehr als Mut. Die Wahrheit kann nicht gefällig sein: aber entgegenkommend.“ Und über Heinrich Mann lapidar: „Er starb in Amerika, Deutschland aber hat ihn gelyncht.“ Das und mehr darf man ernst nehmen. Sehr.

In der 23. Ausgabe von „Zwischen den Kriegen“ konnte man unter der Überschrift „In Würde leben“ dies lesen: „Der Missbrauch ihrer Sprache hat die Deutschen nie gestört. Der Missbrauch ihrer Freiheit wenig. Übrigens, wenn sie mal Freiheit haben, missbrauchen sie sie selbst gründlich.“ Und zu Paul Boldt merkte er an: „Jedes Volk kriegt die Literatur, mit der man verdient.“ Ich werde, wenn sich die Gelegenheit ergibt, seine kleinen Arbeiten zu Carl Einstein, zu Ferdinand Hardekopf, zu Paul Boldt freudig benutzen. Zu Jakob van Hoddis war ich wie zu Ernst Wilhelm Lotz schon selbst unterwegs, ehe Werner Riegel mein Archiv bereicherte. Das spricht nicht gegen erneute Hinwendungen. Vorher noch unbedingt dies von ihm: „Eines Tages wird der Widerstand modern, bezeichnenderweise so spät als möglich“. Nägel mit Köpfen machen ist immer das eine, das andere, sie auch auf den zu Kopf treffen. Peter Rühmkorf hat daran erinnert, dass Riegel damals das Wort Schizographie erfand, einen Begriff, „den Werner Riegel für unsere zweigeteilte Art zu schreiben gefunden hatte“. Und er nannte seinen Freund einen „Schlattenschammes“. So nennt man, lese ich wissbegierig, einen Mann, der in der Synagoge die niedersten Arbeiten verrichtet. „Vermutlich habe ich niemals vor ihm und auch nachher nie wieder einen lebenden Dichter getroffen, der sich derart selbstverständlich und perfekt in eine Doppelrolle fügte“. Wer, wenn nicht Rühmkorf, wusste es so.


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