Eugen Gomringer 100

Zu Eugen Gomringer fallen mir mehr Anfänge ein als Enden. Einer lautete: So geht es zu: einer wird am 19. Januar 1925 geboren und ist schon fast siebzig Jahre tot; einer wird am 20. Januar 1925 geboren und ist nun seit genau 100 Jahren lebendig. Ein anderer lautete: „Es ist unverständlich, dass Gomringer trotz seiner anhaltenden sprachlich innovativen Kraft keine literarischen Auszeichnungen erhalten hat.“ (Nicola Bardola) „Erkläre mal einer, warum dieser große Brückenbauer bis heute keinen einzigen Literaturpreis bekommen hat!“ (Michael Lentz) Wer hat bei wem abgeschrieben? Ich bin übrigens dafür, dass Brückenbauer Architekturpreise bekommen oder Karlspreise der Stadt Aachen. Ein dritter Anfang wäre eine Aufgabe für mittelbegabte Schüler: Schreibe das Wort Furzen links fünfmal, in der Mitte viermal und rechts wieder fünfmal untereinander, lass in der Mitte unter den ersten beiden Furzen eine Zeile frei, ehe du die anderen beiden mittleren Furzen hinschreibst. Ersetze das Wort Furzen durch das Wort Schweigen. Was hast du nun vor dir? Mit der Antwort kannst du bei Günter Jauch die Millionenfrage knacken. In der Werbepause lassen wir die Zuschauer antworten. Die Antwort lautet: Es ist ein Gedicht, jawohl.

Mit dem Wort Furzen wäre noch eine konkrete, freilich antimetaphysische Bedeutung zu verbinden gewesen, vorausgesetzt, die weiße Fläche in der Mitte wäre als Loch zu deuten, was bei Schweigen auch nicht ausgeschlossen werden kann. Dort könnte man auch ein Schweigen offenen Mundes erkennen als Vorbereitung oder Nachklang eines Gähnens, welches wiederum mit Langeweile in Verbindung gebracht werden dürfte, wenngleich nicht müsste. Der IV. Band der Gesammelten Werke von Eugen Gomringer kommt auf 96 Seiten. Da könnte man sich vorstellen, dass auch alle Bände in einen Band gepasst hätten, was dann allerdings dem Gesamtwerk eines Frühverstorbenen ähneln würde, Büchner etwa, oder Wackenroder, oder, siehe oben Werner Riegel. Frühverstorben ist Gomringer nun gerade nicht. Preise hat er längst auch, es sind halt nur nicht die Literaturpreise, die im deutschsprachigen Literaturbetrieb die Verlagsumsätze puschen. Der Gedanke, ein Buch von Gomringer prangte in den deutschen Kettenbuchhandlungen mit dem bekannten roten Aufkleber, es handle sich um einen ***-Bestseller, ist undenkbarer als der Gedanke an die beiden Kamele, die aufrecht nebeneinander durch ein Nadelöhr marschieren und dabei je ein Akkordeon spielen.

Bisweilen wird Gomringer als „Vater der Konkreten Poesie“ bezeichnet, bisweilen wird für die Behauptung auch ein Name genannt: Emmet Williams. Der wiederum ist ein amerikanischer Dichter, geboren am 4. April 1925, gestorben am 14. Februar 2007 nach knapp 82 wackeren Lebensjahren. Mal sehen, ob dessen 100. Geburtstag den einen oder anderen Adepten zu Posthum-Elogen verleitet. Klaus Peter Dencker (das ck ist wichtig) schrieb der Konkreten Poesie für den großen Killy schon mal den Totenschein aus: „Sie ist eine inzwischen abgeschlossene internationale nichtmimetische Sprachkunstform, die von den materialen Eigenschaften der Sprache ausgeht: von der verbalen, vokalen und visuellen Materialität des Wortes.“ Die visuelle Materialität des Wortes kennt jeder, der in einer ersten Theaterreihe saß, wenn die Mimen an der Rampe artikulieren, sonst setzt die Visualität den Druck respektive die Schrift voraus. Als Walter Benjamin von der „Kunst im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ schrieb, dachte er noch nicht an Gedichte aus beliebig umstellbaren Wörtern in Minimalzahl (gern sechs), er dachte nicht an bolivianisch-schweizerische Dichter, die ihre Computer dichten ließen und so ganz nebenbei heutige ChatGPD vorwegnahmen.

Die heutige Software lernt selbständig, die braucht keinen Poeten mehr an der Tastatur. Die Gedichte der Konkreten Poesie, wie sie Gomringer als Konstellationen publizierte und mit erläuternden Aufsätzen begleitete (weil die Leser sich sonst falsche Vorstellungen machten), ist ohne Technik reproduzierbar. Das ist mir bei meiner ersten Umrundung des Weißenstädter Sees klargeworden, den ich inzwischen sicher zwei Dutzend Male umrundet habe, mein Schrittzähler bringt 5700 Schritte dabei in die Tagesstatistik. Unterwegs bewundere ich die Biss-Spuren der fränkischen Biber, trinke, wenn es kalt genug ist, einen Johannisbeerpunsch beim Fischräucherer und diskutiere mit der Frau an meiner Seite über die Abgründe von Ampel- und sonstigen Koalitionen. Es gibt eine Tafel mit dem Titel „Poesie um den See“. Dort erfahre ich, dass Willi Seiler aus Wunsiedel die Idee hatte und die Stein- und Schriftgestaltung übernahm, die Ausführung übernahm das Granitwerk Ludwig Popp aus Schurbach, das Projekt wurde gefördert durch die Laura- und Franz-Leupoldt Stiftung Weißenstadt. 14 Stelen sind es, die dem „Stundenbuch“ des Dichters entnommene Zeilen rundherum auf vier Seiten zeigen, 24 Wörter plus „mein“ und „dein“.

Mit einem spanischen Gedicht hat er in Deutschland besonders viel Aufsehen erregt, weil eine erregte Berliner Studentenschaft sich darüber mit völlig unstudentischer Zeitverzögerung wegen Frauenfeindlichkeit echauffierte. Das Gedicht gibt es nun beleuchtet in Berlin an einer anderen Fassade, ohne Beleuchtung in deutscher Übersetzung auch, und in Rehau, wo er wohnt, ziert es ebenfalls eine Fassade. Die Stadt Rehau ist darauf stolz, den Stolz bekennt sie auch und auf ihrer Website hat sie den wirklich wichtigen Satz bis auf weiteres verewigt: „Gomringer selbst hat die Debatte um seine Zeilen nie verstanden.“ Dazu wäre zu sagen, dass da auch gar nichts zu verstehen ist. Nun sind Fassaden nicht gerade die natürlichen Publikationsorte für Gedichte. Das mag gerade für Gomringer eingeschränkt gelten, dessen Gedichte ja vor allem optisch, graphisch wirken wollen, nicht mit irgendwelchen Inhalten. Die müssen die auf Gomringer fixierten Avantgarde-Deuter hineinlesen, damit auch die anderen Professoren verstehen, was gemeint sein könnte. Immerhin: Eugen Gomringer musste nie nur vor dem leben, was er schrieb, allenfalls von seinen Werbetexten. Dass er das Rampenlicht nie suchte, wie Björn Hayer gratulierend behauptet, widerlegt sein Leben.

Gomringer hat in seinem sehr langen Leben nicht viel geschrieben: man kann eben eine einmal gefundene relativ durchsichtige Manier nicht über Gebühr ausschlachten, man verwässert sich sonst selbst. Man kann es mit Essays versuchen, aber Gedichte, die zu ihrer Erläuterung Essays des Dichter brauchen, sind auch nicht die Brüller der Literaturgeschichte. Man stelle sich Maler in Galerien neben ihren Bildern vor, die Vorträge halten, was sie meinten. Diese Vorstellung wäre dann freilich irreführend, denn gerade auf das Meinen will ja die Konkrete Poesie, will ja ihr „Vater“ absichtsvoll verzichten. Dominik Müller schrieb dazu: „Es ist die Aufgabe des Lesers, die Anordnung und die Semantik der Wörter spielerisch miteinander in Verbindung zu bringen.“ Ich weiß nicht, wie es bei Müllers zu Hause zuging: ich würde mir als Leser jeden verbitten, der mir Aufgaben stellt, als wäre ich sein Schüler, dem auf die Sprünge geholfen gehörte. Gomringer verstehe seine Gedichte „als Denkspiele, die der Lyrik wieder eine Funktion in der Gesellschaft geben sollen.“ So der Schweizer Nicola Bardola, der einst über Theorien moderner Lyrik promovierte und dann mit einem Sterbehilfe-Roman die Herzen des Feuilletons für sich gewann.

Nun wissen wir seit langem, dass es keineswegs darauf ankommt, was einer zu sein meint; was er ist, ist entscheidend. Und so ist es mit der Funktion der Lyrik in der Gesellschaft. Die Lyrik hat immer eine Funktion in der Gesellschaft, keineswegs nur dann, wenn sie sich selbst eine zu geben unternimmt. Eine Funktion wieder zu bedienen, hieße ja eben, es wäre nicht so. Nimmt man die Selbstdefinitionen der Konkreten Poesie ernst, wie sie Gomringer zu Papier brachte, dann muss man ihn als einen sehen, der die Lyrik hemmungslos überfrachten wollte. Dass seine eigenen Konstellationen diese Ansprüche keineswegs auch immer erfüllten, gilt inzwischen nicht mehr als böse Unterstellung. Theoriebasierte Lyrik ist, möchte ich meinen, nicht besser als theoriebasierte Prosa. Bei Gomringer führt das mitten in einer Zeit, die wild entschlossen jede Theorie des Fortschritts, ja selbst den Begriff zu leugnen unternahm, sogar zur Behauptung literarischen Fortschritts. Bardola zitiert die entsprechende Belegstelle. Björn Hayer schreibt: „Nachdem die Nazis die Literatur für ihre Propaganda instrumentalisiert hatten, verfolgte er in den 50er und 60er Jahren eine Poesie, die sich jedweder Vereinnahmung widersetzte.“ Das erlaubt einfache Schlüsse.

Denn vereinnahmt, instrumentalisiert werden, kann nur Inhalt. Reine Form, für Lyrik dann gar noch graphisch-optisch allein, entzieht sich. Sie entzieht sich dann allerdings auch allen und allem. Und damit steht sie plötzlich, wenn man sich die deutschsprachige Welt der Adenauerjahre vor Augen führt, neben allen, die aus diesen und jenen Gründen die Augen vor der Wirklichkeit absichtsvoll verschlossen. Wenn sich Ritterkreuzträger um das Grab eines ihrer Kameraden versammelten wie das Wort Schweigen um das Loch in der Mitte, dann war das Grund für jeden nur denkbaren Aufschrei, nicht Grund dafür, nur noch nach semantischen oder vokalen Interdependenzen zu suchen. Wenn Gomringer denn, wie Björn Hayer glaubt, Dichtertum eremitische Existenz bedeutete, dann wissen wir, warum sein dichterisches Werk so schmal blieb. Weil ihm eine eremitische Existenz eben nicht das Leben war. Seine vielfältigen Aktivitäten, die ihm immerhin einmalig auch eine Million Franken auf einmal einbrachten, als er einen ersten Sammlungsverkauf gen Ingolstadt unternahm, sind bekannt und keineswegs ehrenrührig: im Gegenteil. Für immerhin acht Jahre war er sogar ein Honorarprofessor in Zwickau an der Westsächsischen Hochschule.

„Gomringers literarische Bedeutung beruht auf einigen wenigen – dafür aber programmatisch-markanten, in sich fortschreitenden und daher künstlerisch konsequenten – Publikationen, auf seinen Manifesten und theoretischen Äußerungen zu einem neuen Textbegriff in der Literatur und auf seinen editorischen Bemühungen“, schrieb Karl Riha und hätte auch kürzer schreiben können: auf allem, was er geschrieben hat. Damit wäre er bedeutender als jeder beliebige andere Autor, denn diese alle haben immer auch etwas geschrieben, auf dem ihre Bedeutung nicht beruht: Goethe zum Beispiel den „Bürgergeneral“. Die einschlägigen Professoren meinen es meist aber gar nicht so drastisch, wie sie es dann formulieren, letzteres ist nicht selten ohnehin nicht ihre allerstärkste Seite. Riha deutet auch auf eine Idee Gomringers zu einem Gedichtbuch, „das mehr ist als ein zufälliges Arrangement unterschiedlicher Texte“. Wenn er es mit dieser Idee ernst meinte, dann beleidigte Gomringer mit ihr ganze Heerscharen von Dichtern, die keineswegs aus ihren Gedichtbüchern zufällige Arrangements machten. Sondern sehr wohl und sehr bedacht in Bände bauten. Ich bin mir auch nicht sicher, ob künstlerische Konsequenz so schlicht an einem Fortschreiten festzumachen ist.

Wie viele Dichter wären danach künstlerisch inkonsequent? Hermann Korte wusste: „Konkrete Poesie in den fünfziger Jahren zu produzieren, hieß vielfach vor ratlosem Publikum und empörter Literaturkritik zu arbeiten.“ Hat sich Gomringer eher auf die empörte Literaturkritik oder das ratlose Publikum orientiert? Das Werk gibt die klare Antwort. Nach Korte war Gomringer Konkrete Poesie die „der modernen Welt adäquate Literatur.“ Die moderne Welt besteht immer noch, die Konkrete Poesie, siehe oben, aber nicht mehr. Sie war dann vielleicht doch nicht ganz so adäquat, wie es bekanntlich mit den strukturellen Analogien immer zu sein scheint: Wer glaubt, Langeweile müsse langweilig beschrieben werden, geht fehl. Korte moniert außerdem, dass Gomringer zumindest im lexikalischen Feld die Sprache der Poesie, nicht aber moderne Alltagssprache adaptiert. Nun kommen die Worte Schweigen und Schatten in der Poesie zweifellos öfter vor als in einem deutschen Wachstumsbeschleunigungsgesetz, spezifisch poetisch sind sie deshalb nicht. Seit die moderne Alltagssprache unter dem Diktat einiger selbst ernannter Sprachpolizisten steht, hat sie an Poesietauglichkeit verloren. Müsste ich zwischen dem „Stundenbuch“ von Rainer Maria Rilke und dem „stundenbuch“ von Eugen Gomringer wählen: ich gratulierte Gomringer zum zweiten Platz.


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