Arthur Eloesser: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Unter den nicht allzu zahlreichen Klassikern marxistischer Geistesgeschichte war einer eine Weile nahezu kanonisch, dann eine Unperson und irgendwann wieder er selbst: Georg Lukacs, der Ungar, der gar nicht als Marxist begonnen hatte. „Die Zerstörung der Vernunft“ heißt eines seiner auch vom Umfang her gewichtigsten Bücher. Der Untertitel „Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler“. Mein Exemplar der dritten Auflage von 1984 hat 692 gezählte Seiten, ein Register, wie man es sich wünscht, und sieben Kapitel. Drei davon sind nicht weiter untergliedert, vier sind in fünf bis sieben Abschnitte weiter geteilt. Es gibt ein Vorwort vom November 1952 und ein Nachwort vom Januar 1953. Nicht aus den Augen zu verlieren ist also der Umstand, dass da der vorübergehend vierte Klassiker unter den Klassikern Marx, Engels und Lenin noch lebte. Er war noch 1949 weltweit bejubelt worden angesichts seines 70. Geburtstages. Wenige Tage nach meiner Geburt starb er, weil ihm keiner mehr helfen wollte, doch noch der „Ärzteverschwörung“ mit einem antisemitischen Massenmord nach Art seines Hauses zu begegnen: Josef Wissarionowitsch Stalin. Es zog sich, so suggeriert der Untertitel, eine direkte Linie von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu Adolf Hitler. Gewissermaßen: Wer Schelling wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, den Krieg.

Der Buchtitel „Die Zerstörung der Vernunft“ klingt martialisch, erweckt aber komplett falsche Vorstellungen, die nicht einmal übertrieben marxistisch sind. Die Vernunft ist nicht zerstörbar. Einen entsprechenden real existierenden Prozess zu behaupten, leitet auf Abwege. Auch der Begriff Irrationalismus ist eher verwaschen: wer denkt, denkt immer mindestens in den Grenzen der geltenden Logik, auch wenn er sie absichtsvoll bisweilen, unabsichtlich viel öfter, als man meinen sollte, verletzt. Thesen und Schlüsse aus Thesen, sehr allgemein gesprochen, sind schon kein Irrationalismus mehr. In der Praxis denkender Menschen wird sich immer erweisen, dass selbst die hartnäckigsten Rationalisten bisweilen irrational sind, beispielsweise in dem Gedanken, dass Stalin recht haben muss, weil er Stalin ist. Und umgekehrt sind Irrationalisten nicht nur punktuell rational. Lukacs (13. April 1885 – 4. Juni 1971) hat nicht nur mit diesem Buch Denktraditionen gefördert, die eigentlich eher Überzeugungspflanzungen waren, von denen die Wurzeln noch im Boden ankerten, als oberhalb schon der Standort der Pflanzen gar nicht mehr genau erkennbar war. Der Name Eloesser wird Lukacs in seinen Berliner Zeiten wohl begegnet sein, erwähnt hat er ihn, nach meinem derzeitigen Kenntnisstand, nie, Eloesser den 15 Jahre Jüngeren seinerseits auch nicht.

Wer sich mit Schelling befassen will, beispielsweise, weil der 27. Januar 2025 sein 250. Geburtstag ist, wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit zu diesem Zweck nicht zuerst nach der zweibändigen Literaturgeschichte von Arthur Eloesser greifen. Obwohl gerade Schelling in der Geschichte der deutschen Literatur eine Rolle gespielt hat wie nur wenige Philosophen vor ihm und nach ihm. Dichter und Schriftsteller, die selbst mit erworbenen Doktortiteln gern Autodidakten bleiben und hauptsächlich auf der Suche nach Gedanken sind, die ihre eigenen bestätigen und untermauern oder überhaupt erst klar in Worte fassen, orientieren sich an Sprache. Je näher Philosophen-Sprache an Dichter-Sprache ist oder zu sein scheint, bisweilen sogar, wie bei Nietzsche und/oder Schopenhauer, selbst als Dichtersprache daherkommt, desto größer die Ansteckungsgefahr. Und dann ist natürlich immer von großer Bedeutung, was der Philosoph zu dem sagt, was den Dichter zuerst, zweitens und drittens am meisten interessiert: zur Dichtung, zur Literatur, zum Drama, zur Lyrik. Für Schelling spricht in diesen Zusammenhängen zusätzlich, dass er mitten hinein in eine Phase der deutschen Literaturentwicklung geriet und in ihr auch prägend wurde, die keine Gefahr lief, sofort wieder vergessen zu werden. Schelling gehört zur Romantik und die Romantik zu Schelling. Sehr direkt.

Und genau da wird Eloesser durchaus interessant, denn er seziert Schelling eben nicht daraufhin, wie er wobei zum Hegel-Gegner wurde, was er an Kant kritisierte, welchen Begriff er neu fasste oder weiter entwickelte, wie er mit Fichte zurecht kam. Schelling ist dem Historiker der deutschen Literatur vom Barock bis zur Gegenwart vor allem mit Jena verbunden. Goethe spielt aus mehreren Gründen eine große Rolle und selbstredend alle Romantiker der Zeit, die sich unterschiedlich lange in Jena aufhielten, dabei keineswegs nur Literaten im engeren Sinne. Man kann sich bei einem (immer empfehlenswerten) Besuch in Jena im so genannten Romantiker-Haus umsehen und wird bereichert herauskommen. Neben einer größeren zusammenhängenden Passage zu Schelling in seinem Band I hat Eloesser diverse kurze Erwähnungen in beiden Bänden, sonst kommt der Name nur noch in „Vom Ghetto nach Europa“ vor, zweimal dort in Formulierungen, die fast wörtlich der Literaturgeschichte entstammen. Die „Weltbühne“ druckte in ihrer Ausgabe vom 19. November 1929 einen Auszug aus dem ersten Band, in dem es um Goethe ging, wobei auch der Name Schelling fiel. Eloesser sieht als Literaturhistoriker den Philosophen Schelling eher und anders der Romantik verbunden, als Philosophiehistoriker ihn möglicherweise überhaupt sehen können.

Julius Stahl (16. Januar 1802 – 10. August 1861), der Rechtsphilosoph, dessen Definition des Rechtsstaates noch immer die meist zitierte ist, wie Wikipedia behauptet, kam laut Eloesser „von Schelling her, dem inzwischen vergreisten Oberhaupt der Romantischen Schule.“ Diese späteste mir bekannte Aussage zu Schelling bei ihm findet sich in „Vom Ghetto nach Europa“, seinem letzten Buch. Im zweiten Band der Literaturgeschichte steht: „Um die Zentralsonne Schelling, die den Wissenschaftlern wie den Dichtern und Künstlern schien, kreisten nicht wenige Nebensonnen“. Man mag darüber sinnieren, ob das Oberhaupt eine andere Fixierung darstellt als die Zentralsonne, wichtig ist: Eloesser sieht ihn als integralen Bestandteil der Schule, nicht als von dieser allenfalls beeinflusst oder gar negativ gewendet. „Die Studenten, die in Jena zu Schellings Füßen saßen, lebten in einem ideologischen Rauschzustand; jeder hatte eine Weltanschauung, die er auch mit Burschenfreiheit ausstellte“. „Studenten, die etwa in Jena zu den Füßen von Schelling saßen, lebten in einem Rauschzustand der Ideen“. So lautet die spätere Formulierung in „Vom Ghetto nach Europa“. Denn Schelling war auf dem Katheder mehreren Zeugen zufolge ein glänzender Redner, während er privat im Gespräch bisweilen gehemmt wirkte, einer der Zeugen hieß Friedrich Schiller.

Über den aus dem Dänischen nach Deutschland gekommenen geborenen Norweger Henrik Steffens (2. Mai 1773 – 13. Februar 1845) schreibt Eloesser: „Schelling war sein geistiger Vater, einer der größten Redner, die das deutsche Katheder gehabt hat, einer der ersten, die sich auf das freie Wort, auf ihre Inspiration verließen. Alle Generationen, alle Fakultäten, Philosophen, Philologen, Naturwissenschaftler, Ärzte, Juristen drängten sich um den Propheten, der, selbst noch Jüngling, Ehrfurcht verbreitete, der, wie ein anderer Jünger, Gotthilf Heinrich Schubert sagt, alle getrennten Bestrebungen zu einer Einheit erhob von Begriff und Leben, von Wissen und Glauben.“ Steffens selbst ist bei Detlef Ignasiak („Das literarische Jena“) so zitiert: „Als er zu sprechen anfing, schien er nur wenige Augenblicke befangen. Der Gegenstand seiner Rede war derjenige, der damals seine ganze Seele erfüllte.“ Schelling war im Jahr 1796 zweimal kurz in Jena, kam Ende April 1798 erneut und trat seine Professur, in die er am 30. Juli 1798 berufen worden war, Ende September dann tatsächlich an. Er blieb bis 1803. Für den Goethe-Experten Eloesser ist nicht allein die Rolle von Bedeutung, die Goethe bei der Berufung spielte, er sieht in der persönlichen Beziehung beider den exemplarischen Sonderfall im Umgang des Dichters mit Philosophie und Philosophen.

„Keinem lebenden Philosophen hat sich Goethe mit so persönlichem Anteil, mit so bestimmter Hoffnung aufgeschlossen.“ Goethe wünschte, wie Eloesser mit einem Briefzitat belegt, „eine völlige Vereinigung“, wollte zu diesem Zwecke nicht nur Schellings Schriften studieren, er wollte „durch Ihren persönlichen Umgang“ seinem Ziel näher kommen. Das Thema „Goethe und Schelling“ bietet (und bot schon der Vergangenheit) immer wieder Stoff für erneute Hinwendung, die hier aber nicht erfolgen soll. Anfang des Bandes II der Literaturgeschichte heißt es, auf Schiller weisend: „Schon vor dem Tode des großen Freundes und Bundesgenossen schloss Goethe ein anderes Bündnis mit Schelling, ließ er sich von der Naturphilosophie bezaubern, die das Geschöpf wiederum zum Schöpfer macht. In dem unermesslichen und allbewahrenden Raum seines Geistes vertrug sich die poetisch-philosophische Botschaft der „Weltseele“ mit dem Pantheismus Spinozas und mit der Monadenlehre von Leibniz.“ Schelling kam, heißt das mit anderen Worten, Goethe in seinen Thesen sehr entgegen und, das ist besonders wichtig, zwang ihn nicht zugleich, von ihm lieb gewordenen anderen Überzeugungen Abschied zu nehmen. Man darf an die schwierigen Anfänge im Verhältnis zu Schiller denken, der Kantianer war und damit bei Goethe erst einmal scheiterte.

So beschreibt es Arthur Eloesser: „Der alte Kant, wie Goethe sagt, wusste Gott sei Dank nicht, was ein Poet sei, und seine Schriften ließen sich unter einem grünen Baume nicht lesen. Mit seinem romantischem Enkel konnte Goethe vertraut verkehren, der sich gleich ihm in die Natur geborgen hatte und zu dem die Weltseele sprach; er brauchte für ihn seinen Pantheismus nicht aufzugeben und auch nicht die alte Anhänglichkeit an Leibniz, den er immer noch in friedlicher Nachbarschaft mit Spinoza gehalten hatte.“ Natürlich greift sich Goethe, was ihm passt, blendet aus, was ihm nicht passt. Immerhin gedieh das Verhältnis beider so weit, dass ein Plan zum Schreiben eines großen gemeinsamen Naturgedichts aufkeimte, aber Schellings „künstlerisches Vermögen, bei starker poetischer Veranlagung, reichte für solche Gemeinschaft nicht aus. Aus dieser Anregung ging Goethes Gedicht „Weltseele“ hervor; es stammt aus einer Zeit, sagt er fünfundzwanzig Jahre später zu Eckermann, wo ein reicher jugendlicher Mut sich noch mit dem Universum identifiziert, es auszufüllen, ja in seinen Teilen hervorzubringen glaubte.“ Der Schwabe Schelling landete am Ende seines Lebens in Berlin, wohin ihn Friedrich Wilhelm IV. berief. Für Eloesser war die Berufung auch von Tieck und Steffens der Versuch des Preußenkönigs, die Romantik wiederzubeleben.

„Schelling beanspruchte die Herrschaft über das Naturreich wieder zu gewinnen, die seit den griechischen Vorsokratikern verlorengegangen war. Der Philosoph war wieder ein Mythenbildner, das bloße Reflektieren galt als Krankheit, als Asthenie des Geistes.“ Nach Jena gab es natürlich weitere Lebensstationen: „Schelling ging nach Würzburg, nach München, seine große produktive Zeit ging zu Ende, als ihm Caroline 1809 gestorben war. Zum Präsidenten der bayrischen Akademie ernannt, verharrte er nur noch als repräsentative Figur, als ein glänzender akademischer Rhetor, der bei großen Gelegenheiten zum Fürsten und zum Volke würdig zu sprechen wusste. In Berlin wurde er von Friedrich Wilhelm IV. nur als Reliquie gehalten.“ Schellings zweite Frau, Pauline Gotter, Tochter von Friedrich Wilhelm Gotter, mit Goethe ebenfalls gut bekannt von dessen Karlsbad-Aufenthalt 1808 her, findet bei Eloesser keine Erwähnung. Obwohl die Ehe immerhin 42 Jahre dauerte. Pauline starb am 31. Dezember 1854 in Gotha, reichlich vier Monate nach Schelling. Doch anders als Caroline beflügelte sie ihren Mann offenbar nicht zu immer neuen Werken, verhalf ihm zu keinem Schaffensrausch. Eloesser über sie: „Sie war die Seele und der gute Geist der Romantik, wie Dorothea der Dämon der Zwietracht und des Hasses war.“ Gemeint ist Dorothea Schlegel.

„Der Künstler schaut die Ideen als real an, die seinen sinnlichen Vorstellungen erreichbar sind; er steigt zu den Müttern herunter oder hinauf. Schelling zog den Weg vom Geist zur Natur, von der Natur zur Kunst, er begeisterte die Künstler, die Forscher, ermutigte die spekulativen Unternehmungen der Romantik in der Medizin, in der Brownschen Erregungstheorie, in Magnetismus und Mesmerismus, nachdem er die irrationalen Mächte, die Naturkräfte im Menschen aufgerufen hatte.“ „... bei Schelling fanden sie sich alle wie in einem Hause oder in einer Kapelle, wo die Wissenschaft zur Poesie und die Poesie zu einer Religion geworden war.“ Es fällt auf, dass Eloesser gerade solche Vergleiche heranzieht: Jünger, Prophet, Kapelle. Das hat natürlich mit Schellings Bezug zu Gott, dem Göttlichen, dem Absoluten zu tun. Wilhelm Weischedel (11. April 1905 – 20. August 1975) schrieb in diesem Zusammenhang: „Immer mehr vergräbt sich Schelling in den letzten Jahrzehnten seines Lebens in die Geheimnisse Gottes und der Welt. … Die völlige Versenkung des Gedankens in Gott als die Tiefe der Welt bestimmt das Denken Schellings bis zu seinem Tode.“ Als vorweg genommenen Kommentar dazu kann man Arthur Eloesser lesen: „Die Philosophen der Romantik, im Gegensatz zu ihren Dichtern, haben fast alle lange, zu lange gelebt.“


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