Walter Savage Landor 250
Das waren Zeiten, als ein Schüler wegen Respektlosigkeit seiner Schule verwiesen wurde. Wir hätten heute verwaiste Schulen, die Lehrer könnten sich in Einzelunterricht den wenigen widmen, denen aus merkwürdigen Gründen der Affekt selbstbestimmter Lustlosigkeit nicht in den Genen liegt. Eltern, denen das Wort Leistung Hautausschlag macht, haben sich immerhin noch vermehrt, ihre Kinder verfolgen heute andere Ziele und sind begeistert, wenn sie durch ihren Gebärstreik nicht die Klimabilanz weiter belasten, die von atmenden Babys gefährdet wird. Schwer vorstellbar, dass Walter Savage Landor, dessen 250. Geburtstag wir heute feiern könnten, unsere Welt mit größter Begeisterung betrachten würde. Muss uns aber keine Sorgenfalten auf die Stirn treiben: die schönste aller Welten ist regelmäßig nur in den Augen derer die schönste, die sie genau so sehen möchten. Bis vor wenigen Jahren noch glaubte die Welt, Hitler hätte am 22. Juni 1941 die Sowjetunion überfallen. Nun erfahren wir aus dem Mund unberufener Zeitenwende-Experten, dass eigentlich der Überfall auf die Ukraine erfolgte, weswegen wir heute bedingungslose Solidarität zu üben hätten.
Kein Gedanke mehr dafür, dass jene Teile des überfallenen Territoriums, in denen der organisierte Massenmord an Juden seine Anfänge nahm, noch zwei Jahre zuvor zu Polen gehörte, erst infolge des Stalin-Hitler-Paktes an die Sowjetunion Stalins und damit bestenfalls indirekt an eine Ukraine fielen, die heute keine Sekunde daran denkt, dass sie ausgerechnet Stalin ihre so genannte West-Ukraine verdankt. Priester und Könige, so eine Botschaft Landors, seien Betrüger, „die einander mit Augurenlächeln in die Hände spielen.“ Es verblüfft, bei einem völlig vergessenen alten Engländer Überlegungen und Thesen zu finden, die heute in keinem durchdachten Leitartikel jemanden verblüffen würden. Einer darunter verdient, in Stein gehauen zu werden. Er lautet: „so ist doch ihre Zerstörung von allen Ausschreitungen, die ich verabscheue, mit Abstand die schlimmste. Alle Städte der Welt sollten sich wider denjenigen erheben, der nur eine von ihnen vernichtet.“ Was für ein Gedanke: Alle Städte der Welt verbünden sich gegen denjenigen, der nur eine von ihnen vernichtet! Das gäbe Bündnisse: die Weltgeschichte wäre weniger eine von Klassenkämpfen als eine von Städtebündnissen gegen Städtevernichter. Von Karthago, Dresden bis Gaza und Dnipro.
„Er ließ, 20 Jahre alt, „Poems“ erscheinen, drei Jahre nachher das Heldengedicht „Gebir“ (1798) , welches ihn mit einem Sprung in die erste Reihe der damals aufstrebenden neuen Dichterschule einführte und ihm die Freundschaft Southeys verschaffte. Allen Fesseln widerstrebend, lehnte er ab, ins Heer oder in die Rechtspflege einzutreten, reiste nach dem Festland, warb, als die Spanier wider Napoleon aufstanden, auf eigne Kosten eine Freischar und führte sie ins Hauptquartier. Zum Obersten ernannt, sandte er, als Ferdinand VII. die Verfassung umstürzte, entrüstet sein Offizierspatent zurück. Er hatte sich 1811 mit einer Dame französischer Abstammung verheiratet, aber die Ehe war nicht glücklich. Das Ehepaar lebte in Pisa, wo er seine lateinischen Gedichte herausgab, dann in Florenz; schließlich trennte man sich. L. überließ beinahe sein ganzes Vermögen seiner Frau und begab sich nach England. Er lebte nun viele Jahre in Bath und vereinsamte allmählich.“ So steht es im Band 10 von Meyers Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1888, von Königshofen bis Luzon reichend, das gute Stück ziert seit Jahrzehnten meinen Flurschrank.
Das Hauptwerk Walter Savage Landors, meist verkürzt „Imaginary Conversations“ genannt, heißt in voller Schönheit „Imaginary conversations between literary men and statesmen“. Es erschienen zwischen 1824 und 1829 drei Bände in einer ersten Serie, drei in einer zweiten und zwanzig Jahre nach seinem Tod umfasste eine Neuausgabe fünf Bände. Gezählt wurden insgesamt 150 dieser imaginären Gespräche. „Es sind an Wert sehr ungleiche Prosadialoge historischer Persönlichkeiten aus den verschiedensten Zeitaltern und Ländern; sie vermitteln durchweg Landors eigene geschichtsphilosophischen Anschauungen.“ So steht es in einer von Anselm Schlösser (1. Januar 1910 – 1. Oktober 1991) verantworteten Sammlung „Englische Essays aus drei Jahrhunderten“. „Die Dialoge haben weder dramatischen Charakter noch den von Zwiegesprächen nach antikem Muster zur Diskussion des Pro und Kontra mit verteilten Rollen. Sie dienen in der Hauptsache der Auflockerung: Ein Wort gibt das andere, aber Landor, gleichsam mit beiden Händen jonglierend, behält den Ball in eigener Kontrolle.“ Der zitierte Satz über die Städte könnte, so Schlösser, von Brecht stammen, auch George Bernard Shaw scheint ihm bei Landor bisweilen vorweggenommen.
Eine im Leipziger Reclam-Verlag 1986 erschienene Darstellung „Englische Literatur im Überblick“ war sich sicher: „Walter Savage Landor (1775 – 1864), geistvoller, aber charakterlich und politisch unausgeglichener Sohn eines reichen Arztes, lebenslanger Freund Southeys, gab sich radikal-demokratisch, freiheitsliebend, antiautoritär. Sein Blankversepos Gebir (1798) und die vielen abstrakt konstruierten poetischen Dramen aber bewegen sich in den Bahnen konventionell gewollter Exotik. Sie sind heute ebenso vergessen wie die Imaginary Conversations (1824 – 1829; Erdichtete Gespräche, dt.), die lange Zeit als Meisterwerke kultivierten englischen Prosastils galten.“ Die Stuttgarter Konkurrenz, „Geschichte der englischen Literatur“ von 2004 kennt Landor gar nicht mehr, auch Ina Schaberts 700-Seiten-Wälzer „Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung“ (Kröner Stuttgart 1997) ist Landor nicht der Erwähnung wert, geschweige eine Behandlung. Dabei hat niemand anderes als Nietzsche ihn in „Die Fröhliche Wissenschaft“ zu einem der vier größten Prosaiker des Jahrhunderts ernannt (2. Buch, Abschnitt 92, für Nachleser).
Gemeinhin würde solch ein Urteil in einschlägigen Kreisen einen Run auf die Originale auslösen, tatsächlich aber ist eine 400-seitige deutschsprachige Ausgabe erst 1919 bei Georg Müller in München erschienen, keine 72 Seiten umfasst 1948 eine Auswahl des Stuttgarter Klett-Verlages im Rahmen seiner Anker-Bücherei. Wikipedia nennt zwei deutschsprachige Dissertationen aus den Jahren 1908 und 1909, das war es dann schon. Wir können uns schließlich nicht um jeden alten Engländer kümmern, nur weil ausgerechnet Friedrich Nietzsche, den zeitweise fast alle liebten, ihn toll fand. Es ist auch keine weitere Erwähnung bei Nietzsche auffällig geworden, so weit ich weiß, die Experten müssten für Aufklärung sorgen. Seltsam auch noch nach dem ersten Blick wirkt die Präsenz Landors in der Geschichte des Essays. Bruno Berger (Der Essay. Form und Geschichte; Sammlung Dalp) ist von Landor begeistert, Christian Schärf (Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno; Vandenhoeck & Ruprecht) kennt ihn gar nicht. Also was nun, könnte man fragen. Man kann es aber auch bleiben lassen. Waren die Conversations denn „Totengespräche“?
Das Lexikon von 1888 widerspricht: Man könnte sie nicht so nennen: „In diesen Werken, die man nicht für sogen. Totengespräche halten darf, hat er in Kraft und Zartheit beinahe alle Saiten des menschlichen Lebens angeschlagen, eine Masse von Kenntnissen an den Tag gelegt, an manchen Stellen die höchste dramatische Kraft erwiesen, mit größter Sorgfalt des Stils die Sprache in gedrungener Fülle auf den Gipfel der Schönheit erhoben.“ Bei Bruno Berger findet sich dies: „Zu genialer Höhe entwickelte sich die Essayistik bei Walter Savage Landor (1775-1864), dessen anspruchsvoll-exklusive, fast esoterische Kunst, auf wissenschaftlichen Kenntnissen fußend, nur zu wenigen sprechen konnte, weswegen er fast unbekannt blieb (bezeichnend, dass der geistverwandte poeta doctus Rudolf Borchardt für ihn warb und ihn übersetzte).“ Und dies: „Deutsche Anglisten haben seine Kunst eine raffinierte Kost für Feinschmecker genannt; er selbst sagte, er werde spät und nur mit wenigen auserlesenen Gästen zur Tafel gehen, was unterdessen Wirklichkeit geworden ist.“ In beiden Fällen nennt Berger keine Quellen, findet aber im Vergleich zu Frankreich, mit etwas Vorbehalt, die englische Essayistik um 1850 „reicher, farbiger, individueller und künstlerischer“.
Zum Schluss wenigstens ein kurzer Blick in eines der Imaginären Gespräche, es trägt den Titel „Alexander and the Priest of Hammon“, in deutscher Übertragung „Alexander und der Priester des Ammon“, es enthält die oben zitierte Aussage. Der Priester macht auf mich zunächst nicht den Eindruck eines Mannes, der mit Alexander, der bis heute gern „der Große“ genannt wird, ein Herz und eine Seele ist. Er stellt Fragen und formuliert Behauptungen, die man bei einem Talkmaster heute, natürlich auch bei einer Talkmasterin, als insistierend bezeichnen würde, was manche schon für journalistische Qualität an sich halten. Könige, die ihre Glaubensfestigkeit durch Massenmord an Tieren und Menschen demonstrieren, Opfer genannt, scheinen ihm suspekt. „Als bester Witz gilt immer noch der, der einen anderen trifft“, weiß der Priester und auch: „Ach, Alexander, die Reichen bringen selten Opfer“. Unter die Rassisten würde Landor gereiht, sagte er heute „Afrika ist nicht viel wert, wie wir wissen.“ Damals sagte er es ohne Empörungswirtschaft im Nacken. Und ließ seinen Alexander sagen: „Doch wir müssen die Menschen betrügen – sonst werden sie uns nur hassen oder verachten.“ Wahrheiten waren schon damals offenbar eine weit überschätzte Ware.
Walter Savage Landor, geboren am 30. Januar 1775, gestorben am 17. September 1864, hat seinen 89. Geburtstag noch erlebt, ein stolzes Alter für die damalige Zeit. Ab 1805 war er nach dem Tod seines Vaters ein wohlhabender Erbe, schon ein Jahr später veräußerte er Besitz, der bis 700 Jahre der Familie gehörte. Auch nach der Trennung von seiner Frau Julia Thuillier 1835 verzichtete er auf fast sein gesamtes Vermögen. Dennoch war er nicht bereit, 1000 Pfund Strafe zu zahlen, die ein Gericht über ihn verhängt hatte, weil er (in seinem schon hohem Alter) eine Frau beleidigt hatte, was man jetzt wohl Stalking nennen müsste. Tausend Pfund waren damals für manchen runde zehn Jahreseinkommen, und zwar kein schlechtes. Also kehrte er 1858 mit 83 Jahren nach Italien zurück, das er bestens kannte aus seinen langen Jahren in Como, Pisa, Florenz, Fiesole. Zwischen dem Königreich und Italien, das es als Staat noch gar nicht gab, herrschte kein Auslieferungsabkommen. Seine „Complete works“, 1969 von T. E. Welby ediert, umfassen 16 Bände in Goldleinen, natürlich in der Originalsprache. Auf der Web-Seite eines Auktionshauses in Suffolk sehr hübsch anzusehen.