Otto Brahm und "Der Volksfeind"
Jener verschwindenden Minderheit, die bei Nennung des Namens Otto Brahm nicht gleich in helles „Ah“ und „Oh“ ausbricht, sei verraten, dass auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters zu Berlin seit 1998 eine Büste steht, die vorher reichlich 35 Jahre lang etwas weiter entfernt im Grünen gegenüber zu finden war. Sie stammt aus den Händen von Eberhard Bachmann (1924 bis 2008) und fand ihren ersten Stellplatz wohl im Zusammenhang mit dem 50. Todestag Otto Brahms 1962. Denn, und nun ergibt sich die Gelegenheit, der offenbar schlecht informierten Esther Slevogt in der FRANKFURTER RUNDSCHAU zu widersprechen, Brahm war runde zehn Jahre als Leiter des „Deutschen Theaters“ Nachfolger von Adolph L'Arronge. Erst danach wechselte er zum Lessing-Theater, wo er bis zu seinem Tod eben am 28. November 1912 blieb.
Es darf möglicherweise als bezeichnend für die ihrem Ende entgegen taumelnde FRANKFURTER RUNDSCHAU angesehen werden, dass sie ihrer Autorin erlaubt, reinen BILD-Content (sagt man das jetzt so?) zu Otto Brahm zu verbreiten, nur weil ein Brief-Konvolut der Akademie der Künste jetzt an den runden Todestag gebunden, per Lesung einer gewissen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Ich will einmal tapfer behaupten, dass der Reichtum der deutschen Literatur- und Theatergeschichte nicht primär in den Liebesgeschichten ihrer Protagonisten zu finden ist, was man als Nachtkritikerin vielleicht ansatzweise ahnen sollte, wissen muss in der Generation Kurzer Zugriff ja ohnehin niemand mehr irgendetwas, Hauptsache man kann eine krude Meinung noch kruder formulieren. Zu runden Anlässen wie die Springteufelchen aus der Kiste hüpfende Sensationen haben immer einen merkwürdigen Geruch an sich.
Otto Brahm jedenfalls, der eigentlich Abrahamsohn hieß und sich auch Otto Anders nannte, wenn es ihm nötig schien, hätte in den vergangenen Jahren schon verschiedentlich der vollkommenen Vergessenheit entrissen und in die nur noch teilweise Vergessenheit überführt werden können. Zwei exzessive Schiller-Jahre, ein nicht ganz so exzessives Kleist-Jahr, am nahe liegendsten vielleicht aber die neue Dauer-Renaissance von Henrik Ibsen auf allen deutschen Bühnen wären feine Anlässe gewesen, an einen Mann zu erinnern, der zwei Bände über Schiller schrieb (die ich nicht kenne), einen über Heinrich von Kleist (den ich sehr gut kenne), der aber vor allem und zu allererst der Herold Ibsens in Deutschland genannt werden müsste, wenn mit der scheinbar der ZEIT-Rubrik „Mein Wort-Schatz“ entnommenen Vokabel nicht eher eine deutsche Versicherung assoziiert würde in der schon genannten Generation. Otto Brahm liebte Ibsen, Otto Brahm verdankte Ibsen ein Urerlebnis, er lernte ihn 1885 in Rom persönlich kennen, und er sah es als Ehre an, den Norweger zu fragen, ob er bei der Premiere von „Gespenster“ im Residenztheater Berlin wohl einem Hervorruf folgen würde. Ibsen folgte, er folgte Brahms Erinnerung aus dem Jahr 1904 zufolge sogar ein dutzendmal schon nach dem ersten Akt.
So erinnert sich Otto Brahm: „Ich war Student von zweiundzwanzig Jahren, und auf meinen Berliner Theatergängen hatte ich einen guten Kameraden (einen bessern findst du nit): den angeblich „Geschichte“ studierenden Kommilitonen Paul Schlenther. Da geschah es eines Tages, daß wir in das winzige Stadttheater in der Lindenstraße gerieten, zu den „Stützen der Gesellschaft“: und sogleich empfingen wir die erste Ahnung einer neuen poetischen Welt, wir fühlten uns, ein erstes Mal, vor Menschen unserer Tage gestellt, an die wir glauben konnten...“. Otto Brahm hat fortan keine sich bietende Gelegenheit ausgelassen, für Ibsen zu werben. Sein in der „Deutschen Rundschau“, Band XLIX 1886, erschienener Essay umfasst in meiner Buchfassung immerhin vierzig Seiten, Ibsen hatte da noch zwanzig Jahre Lebens vor sich. Brahm hat gar öffentlich vorgeschlagen, wer in einer dringend wünschbaren „Gespenster“-Aufführung welche Rolle besetzen müsste (erfolglos), doch als dann die schon genannte Premiere zu erleben war, saß unter den begeisterten Zuschauern auch ein gewisser Gerhart Hauptmann, dessen erste drei Stücke, wie Otto Brahm schon früh geltend machte, ohne diese „Gespenster“ nicht vorstellbar sind.
Im Essay behandelte Brahm „Der Volksfeind“ noch als brandaktuelles, zwischen den „Gespenstern“ und „Die Wildente“ erschienenes Werk. Da schien dieser Doktor Stockmann zu wesentlichen Teilen noch Gestaltung eigenen Erlebens von Ibsen mit den „Gespenstern“ in Norwegen. Doch auch die Selbstironie sah Brahm sofort und schrieb sie einer Moliereschen Stimmung des Dramatikers zu. Noch fast ohne Distanz schaut Brahm auf das Ende: „Er aber geht mit überlegenem Sinne einer ungewissen Zukunft entgegen, denn in sich fühlt er die Kraft, den Kampf mit einer ganzen Welt aufzunehmen.“ Brahm hat auf die wichtige Ibsen-Unterscheidung zwischen Erleben und Durchleben hingewiesen, wenn auch nur beiläufig, und er hat fast stereotyp alle Versuche zurückgewiesen, Henrik Ibsen mit einzelnen seiner Bühnenfiguren, gar mit einzelnen ihrer im Dialog geäußerten Meinungen zu identifizieren. Er hat auf das Verfahren Ibsens aufmerksam gemacht, in späteren Stücken auf frühere Figuren und Charaktere zurückzugreifen und damit sogar den früheren neue Bedeutungen und Lesarten zuzuordnen. Und das betrifft nicht nur die immer wieder auftretenden Mediziner in ihren Familien- und sonstigen Lebenswelten.
Das bedeutet, es sei hilfreich, sich „Die Wildente“ genau anzuschauen, um „Der Volksfeind“ noch besser zu verstehen. Am 9. März 1887 befasste sich Brahm in der FRANKFURTER ZEITUNG erneut mit Doktor Stockmann und seinem Kampf für die Wahrheit und gegen den Sumpf, auf dem die Gesellschaft ruht, Anlass die Inszenierung im Berliner Ostend-Theater. Immer noch sieht er eigenes Ibsen-Schicksal in der Figur, „in einem eigenartigen Gemisch von Zorn und Laune und Selbstironie nun entwickelt der Dichter die Handlung vor uns“, „eine Tragikomödie gestaltete er hier, die keiner hergebrachten ästhetischen Form sich einfügen will, sondern sich selber Regel gibt und Gesetz.“ „Stockmanns Übermaß von rücksichtslosem Wahrheitssinn begründet, auch für die Anschauung des Dichters, eine Schuld, die sich strafen wird; es ist etwas von Hybris, von tragischem Übermut in ihm, der diesen Rückschlag und die Vergeltung der Welt auf ihn zieht. Nur wenn man dies erkennt, wird man den Intentionen der Dichtung gerecht...“.
Otto Brahm hat sich die erste und die zweite Aufführung dieser Inszenierung angeschaut (wer macht unter Kritikern so etwas heute noch??) und dabei eine verblüffende Erkenntnis gewonnen: „Wenn aber ein Werk von ernster Prägung gleichmäßig auf die Kenner wie auf die Massen wirkt – welch besserer Beweis seiner dramatischen Gestaltung wäre möglich?“ Heute sind Kritiker, die alles schon gesehen haben, schon gelangweilt, ehe sie den zweiten Arm an der Garderobe aus dem Mantel gezogen haben. Sie sehen dann im „Wilhelm Tell“ ein albernes Stück oder in der „Emilia Galotti“ eine, wörtlich, piefige Aufklärungsschmonzette. Brahm hat übrigens, wenn man der Überlieferung Glauben schenken kann, als Spielleiter „Kabale und Liebe“ vergeigt. Das ehrt ihn mehr als es ihn ins Zwielicht setzt. Am 12. März 1887 kam er in DIE NATION erneut auf „Der Volksfeind“ zu sprechen. Jetzt wies er auf den Michael Kohlhaas bei Kleist, den Erbförster bei Otto Ludwig, den Götz bei Goethe und Karl Moor bei Schiller hin, um Stockmann-Substanzen fassbarer zu machen. Vor allem aber zog er aus Hegel und seiner Schule die Begrifflichkeit einer „Tragödie der gleichen Berechtigungen“. Brahm: „... auch hier ist eine Tragödie der gleichen Berechtigungen gegeben, und weil der Held gegen die Bedingungen dieser Welt in großartiger Einseitigkeit anstößt, geht er unter. Geht er unter?“
Die Frage ist wichtig und dennoch verlässt Brahm sie rasch und zielt auf ein Ganzes: „Gelingt es für so tiefgreifende Schöpfungen auf unserem Theater Raum zu schaffen, so wird auch das allgemeine Niveau, auf dem die Bühne gegenwärtig steht, sich wieder heben können; und selbst die Mittelmäßigkeiten, die es beherrschen, rücken in ein besseres Licht: jeder lernte sie auf ihren wahren Wert hin taxieren, aber jeder könnte sie auch als eine leichtere und billigere Ware in ihrer relativen Berechtigung gelten lassen.“ Wenn das kein kluger Satz über die Nebenwirkungen guten Theaters ist, seine positiven Kollateralschäden gewissermaßen, dann weiß ich nicht, wie kluge Sätze sonst aussehen sollen. Am 17. Dezember 1890 schließlich, in der Endphase seines kritischen Schaffens, bevor er sich ausschließlich der Theaterpraxis widmete, schrieb Otto Brahm in FREIE BÜHNE letztmalig über „Der Volksfeind“: „Überzeugender spricht nirgends zu uns die Genialität des Dichters ... Zu Antigone und dem Misanthropen und Coriolan gesellt sich erhobenen Hauptes Thomas Stockmann; und als der Typus germanisch-einsamen Manneswillens steht er da, ein Bild von ewiger Wahrheit.“
Gerade weil das Ende eines mit Verstörungspotential ist, der am 5. Februar 1856 in Hamburg geborene Otto Brahm war schließlich Jude und meinte dennoch diesen Manneswillen und seine „völkische“ Zuordnung keineswegs ironisch, habe ich ihn nicht ausgeblendet. Es wäre auch ein Frevel an Ibsen gewesen. Ich gedenke am Todestag des Theatermannes, der das Wort THEATERGÄNGE benutzte, als es ihn mangels Internet als Suchbegriff noch nicht auf den Dauerplatz 1 oben auf der ersten Seite der GOOGLE-Ergebnisse führen konnte wie mich, dem das, als ich ihn zu meinem Rubrikenkopf machte, weder bewusst noch voraussehbar war. Als ich zuletzt an zwei aufeinander folgenden Tagen im „Deutschen Theater“ „Kabale und Liebe“ und „Maria Stuart“ sah, habe ich vor Otto Brahms Büste meine diensthabende Laugenbrezel verspeist.