Ein Brief an Minna Kautsky

Nimmt man das in vieler Hinsicht vorbildliche und immer informative Portal www.fembio.org im Internet her, sucht man vergeblich nach ihr. Suhrkamps „Schreibende Frauen“, 562 Seiten dick: ebenfalls Fehlanzeige. Dafür liefert das ARIADNE-Projekt einige Biographie-Zitate und Porträts sowie eine Aufzählung von Sekundärliteratur, die gegen das Vergessenwordensein sprechen, wenngleich nicht mit überwältigender Wucht. Am hundertsten Todestag von Minna Kautsky, die im Kreise ihrer großen Familie auf gut österreichisch-deutsch „Granny“ genannt wurde, wie Rosa Luxemburg überliefert, gibt es weniger Grund als je, das Spiel Wiederentdeckung zu spielen, das zu runden Jubiläen gern inszeniert wird. Schon kurz nach ihrem Tod am 20. Dezember 1912 war das Projekt einer Werkausgabe ihrer Romane und sonstigen Schriften nicht mehr realisierbar. Mit guten Gründen.

Und dennoch gibt es eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen im deutschen Sprachraum, vor allem aber im Territorium, das früher einmal DDR hieß, denen nicht nur der Name Minna Kautsky geläufig ist. Sie erinnern auch fast auf Anhieb den Zusammenhang dazu und sie würden mit diesem Wissen wahrscheinlich Millionen Zuschauern von „Wer wird Millionär?“ Verblüffung in die Gesichter treiben, die das Glück hatten, einen leibhaftigen bundesdeutschen Geographie-Lehrer zu erleben, der Stettin in die DDR verlegte. Jenes DDR-Erleben, welches heute unter dem Schlagwort Sozialisation geführt wird, konfrontierte jeden und jede, die irgend mit Literaturgeschichte, Ästhetik, Realismustheorie in Kontakt kamen, mit Minna Kautsky. Und das nur, weil sie die Empfängerin eines Briefes war, den ein gewisser Friedrich Engels, also die andere Hälfte von Karl Marx, an sie richtete, und zwar genau am 26. November 1885. Minna Kautsky hatte Engels ihren Roman „Die Alten und die Neuen“ zugesandt mit Widmung. Engels war höflich genug, ihr nicht einfach nur kurz zu danken, er ging auf das Buch ein. Und er erweckte sogar den Eindruck, auch den Vorgänger dieses Romans aus Minna Kautskys Feder zu kennen, nannte ihn verfänglich jedoch nur „Stefan“, obwohl sein kompletter Titel „Stefan vom Grillenhof“ lautete.

Der Brief an Minna Kautsky und ein weiterer an die englische Autorin Margaret Harkness, beide zusammen nicht viel mehr als zwei Druckseiten, haben DDR-Professoren zu interpretatorischen Höchstleistungen angetrieben, daraus je nach Ambition eine mehr oder minder vollrunde Theorie zu den Themen Realismus und „Das Typische“ zu destillieren. Wie ja überhaupt der Nachweis, dass die beiden durch Lenin und phasenweise Stalin ergänzten „Klassiker“ zu allem und jedem eine nur halt nicht immer explizit ausformulierte theoriehafte Meinung hatten, ein Kerngeschäft marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaft war. Hans Koch, laut Lexikon „Wer war wer in der DDR?“ (Ch. Links Verlag) der erste Spitzenfunktionär, dessen Selbstmord 1986 Erwähnung in den Medien fand, hat in „Marxismus und Ästhetik“ (1961) sowie in „Marx, Engels und die Ästhetik“ (1983) fast jedem der Briefsätze an Minna Kautsky epochale, richtungweisende Bedeutung zugewiesen.

Warum Engels ausgerechnet an dritt- und viertklassigen Romanen auf dem Level sozialdemokratischer „Gartenlauben“-Prosa Theoriegeschichte installiert haben soll, bleibt das Geheimnis seiner Interpreten, wie ja auch nie ausführlich die Frage erörtert wurde, warum „die Klassiker“ überhaupt von den wirklich Großen ihrer eigenen Generation kaum Kenntnis nahmen, auch mit keinem von ihnen in Verbindung traten, klammert man Weerth und Freiligrath einmal mit einer gewissen Großzügigkeit aus. Aus Minna Kautsky jedenfalls war in keinerlei Hinsicht ein exemplarischer Fall zu destillieren und so ist es schon mehr als bezeichnend, dass etwa Rosa Luxemburg in ihrer literaturbezogenen schriftlichen Hinterlassenschaft die Mutter von Karl Kautsky wohl erwähnt, zu ihren Romanen aber schweigt. Und Franz Mehring, neun Jahre jünger als Minna Kautsky, hat zum siebzigsten Geburtstag der Autorin 1907 sowie aus Anlass ihres Todes 1912 kleine Meisterleistungen wohlwollender Diplomatie zu Papier und Druck gebracht.

So war am 10. Juni 1907 in der „Leipziger Volkszeitung“ zu lesen: „Der Sozialismus wurde mehr und mehr der befruchtende Geist ihrer Dichtung, und willig opferte sie dem höheren Ziele den wohlfeilen Eintagsruhm, den die Kunstrichter der bürgerlichen Presse zu vergeben haben. Aber auch an ihren sozialen Romanen wird sich erfüllen, daß am letzten Ende das Totschweigesystem, wie die giftigste, so doch auch die ohnmächtigste Waffe der Bourgeoisie ist.“ Irrtum, Franz Mehring, nach nur zwölf Jahren Totschweigens und ergänzend aktiven Verunglimpfens von 1933 bis 1945 waren ganze Heerscharen vor 1933 bekannter und berühmter Autoren völlig vergessen und nicht mehr wiederzubeleben. Und Minna Kautsky ist eben nicht über das Verschwiegenwerden aus dem deutschen Lesergedächtnis verschwunden, sondern mangels sich selbst behauptender literarischer Qualität. Nur fünf Jahre nach dem Geburtstagsgruß musste Mehring keine Rücksicht mehr nehmen auf die alte Dame, deren menschliche Qualitäten keinem Zweifel unterlagen.

Jetzt meint er, es „soll uns wenig kümmern, was unserer verewigten Freundin an einer echten Dichterin fehlte, wenn wir uns des getrösten dürfen, daß sie eine echte Kämpferin war.“ Und er schließt, wohl schon gegen eigene tiefere Überzeugung: „Und auch ihre Werke werden dauern, nicht zwar im Kleinodienschrein klassischer Literatur, aber in dem großen Schatzhaus, das die menschlichen Zeugnisse des Befreiungskampfes birgt, den mitzukämpfen ihre Freude und ihr Stolz war.“ Um von der DDR zu reden: Nicht einmal die mehrfach als beste Erzählung gepriesene „Ein Maifeiertag“ ist je komplett nachgedruckt worden, von den Romanen nur willkürliche Auszüge, die freilich den Eindruck vermitteln, es sei gut, den Rest nicht auch noch lesen zu müssen. Cäcilia Friedrich, die 1963 in Halle zu Minna Kautsky promovierte, schreibt zum Roman „Helene“: „Helene muß erfahren, daß das Leben der herrschenden Kreise ohne wirklichen, menschlichen Inhalt ist.“ Sie entschließt sich am Ende des Romans, „nach Deutschland zu gehen und dort am Kampf der Arbeiterklasse gegen das Sozialistengesetz teilzunehmen.“ Sollte es ernsthaft je Menschen gegeben haben, die an einem solchen Plot interessiert waren, jene Parteifunktionäre ausgeklammert, die aus vollkommener Ahnungslosigkeit in Sachen Kunst und Literatur heraus ständig von „Kunst ist Waffe“ faselten?

„Ein Maifeiertag“ ist ein belletristisches Zeitdokument, das genauerer Analyse nicht unwert ist, denn es hat Momente, die vermutlich unfreiwillig den Klassenkampf und die Sozialdemokratie gar nicht so heroisch, vorbildlich, zukunftsweisend vorstellen, wie es die Autorin mochte. Sie zeigt Arbeiter und Arbeiterinnen, die lieber tanzen und dafür freilich bestraft werden vom Ablauf des Maifestes. Sie will die Kluft zwischen den Reichen im Wiener Prater und den Proletariern vorführen, verweist auf promenierende Kutschen. Und plötzlich kommen auch die Arbeiterführer in eben solchen Kutschen angefahren. Sie führt vor, wie Sozialdemokraten den schwärmerischen Parteieifer weiblicher Neumitglieder hemmungslos ausnutzen. Wie Mustergenossen alle Last des Familienlebens auf den Schultern ihrer Gattinnen belassen ohne eine Sekunde Skrupel zu empfinden. So sah auch der definitiv unproletarische Dichter Heinrich von Kleist den Mann ans Höhere gebunden und die Frau für sein Glück geschaffen.

Minna Kautsky selbst hat mit 16 einen 26-jährigen geheiratet, war mit 20 schon dreifache Mutter. Sie war Schauspielerin und allerlei und ist erst über ihren Sohn Karl zum proletarischen Klassenkampf gekommen. Lenin erkor übrigens den späteren Karl Kautsky zu einem seiner Lieblingsangriffsziele. Was heute freilich niemanden mehr wirklich bewegt. Geschrieben hat sie, wie Frauen halt so schrieben, könnte man chauvinistisch behaupten. Sie hat, ohne Chauvinismus, Kolportage nicht als störend empfunden. Sie hat mit Klischees gearbeitet, sie hat unverträgliche Textsorten nebeneinander in einen Roman oder in eine Erzählung gesetzt. Wenn ihr das niemand ankreidete, dann nicht, weil das akzeptabel ist, sondern weil es von ihren Lesern keiner merkte. Noch heute beschwert sich kein Leser eines Lokalblatts über die grauenhaftesten Texte und zwar auschließlich deshalb, weil er selbst nicht besser schreiben würde und froh ist, es nie tun zu müssen. Sollten die Leser der sozialdemokratischen Parteipresse vor hundert und mehr Jahren da ganz anders gewesen sein?

Friedrich Engels jedenfalls wusste als erfahrener Mann, dass man erst einmal etwas loben sollte, ehe man zur Sache kommt und so lobte er Schilderungen aus dem Leben. Er formulierte sogar eine hübsche Gegenüberstellung von Wien und Berlin, die in jede Anthologie aufgenommen zu werden verdient: „Wien ist ja die einzige deutsche Stadt, die eine Gesellschaft hat, Berlin hat nur gewisse Kreise und noch mehr ungewisse...“. Dann aber kam es hart: die Handlungsmotivierung wurde moniert, und: „Es ist aber immer schlimm, wenn der Dichter für seinen eignen Helden schwärmt...“. Engels sah, was man damals „Tendenz“ nannte, nicht aus der Handlung hervorspringen, wie es seiner Meinung nach sein sollte. Inwiefern Minna Kautsky in ihren allerletzten Lebensjahren noch die von deutschen Sozialdemokraten heftig geführte „Tendenzkunst-Debatte“ (1910 bis 1912) aktiv verfolgt hat, ist nicht überliefert. Engels war auf alle Fälle dezidiert der Meinung, der Schriftsteller habe seinen Lesern nicht Lösungen anzubieten. Und er sah in Ironie das Zeichen der Herrschaft des Dichters über sein Geschöpf.

In seinen an Minna Kautsky gerichteten Trostworten erwähnt er übrigens auch mit einem halben Satz Friedrich Schiller. Keine Seite über Schiller in der DDR, so lange es sie gab, verzichtete auf diesen halben Satz: „... und es ist das Beste an Schillers KABALE UND LIEBE, daß sie das erste deutsche politische Tendenzdrama ist.“ Es gehörte zum Schlechten der DDR, dass zu viele diesen Satz für bare Münze nahmen. Wenn das wirklich das Beste an Schillers bürgerlichem Trauerspiel gewesen wäre, wäre es längst und auf immer vergessen. Weil das aber so exponiert aufgeschrieben wurde, taucht auch Minna Kautsky wenigstens als Fußnote immer wieder einmal aus der Vergessenheit auf. Das ist vollkommen in Ordnung.


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