Wielands Logen-Rede vom Nachleben
Als Christoph Martin Wieland am 20. Januar 1813, heute vor 200 Jahren, starb, war er noch ein ganzes Stück entfernt von seinem achtzigsten Geburtstag, den er am fünften September 1813 hätte feiern können. Dennoch findet sich in seiner Rede, die er am 24. Oktober 1812 in der Freimaurerloge „Anna Amalia“ hielt aus Anlass ihres 48. Stiftungstages, die etwas verwirrende Danksagung für die Ehre, die ihm die Loge zum 80. Geburtstag am fünften September, also sechs Wochen vorher, erwiesen hatte. Die Rede ist zunächst nur als Logendruck zu Wielands Totenfeier am 18. Februar 1813 erschienen, wurde später in keiner Auswahl berücksichtigt. Erst im zwanzigsten Band der historisch-kritischen Ausgabe lag sie 1940 wieder zugänglich vor, freilich nur für das kaum nennenswerte Publikum solcher Ausgaben.
Ein deutlich breiteres Leserinteresse durfte die vierbändige Auswahl von Wieland-Werken in der aus heutiger Sicht unfassbar preiswerten „Bibliothek deutschen Klassiker“ des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar voraussetzen, dort findet sich die Rede im vierten Band und bietet für den vermeintlichen Lapsus eine wenig befriedigende Erklärung. „Es ist nicht die Vollendung, sondern der Beginn des achtzigsten Lebensjahres, also der neunundsiebzigste Geburtstag, gemeint.“ Das hätten wir auch ohne diesen Hinweis leicht ausrechnen können, die Frage bleibt unbeantwortet, es sei, wir nehmen an, dass Wieland wie auch die Loge abweichend von sonstigen und späteren Üblichkeiten den Tag seiner Geburt im Wortsinne auch schon als Geburtstag zählte. Dann ist der Tag der Vollendung des neunundsiebzigsten Lebensjahres vollkommen zutreffend der achtzigste Geburtstag.
Wäre das alles, was Interesse zu wecken vermag an jener späten Rede Wielands, die sein letzter öffentlicher Auftritt dieser Art war, dann verlohnte kein weiteres Wort zu ihr, schon gar nicht aus Anlass eines Jubiläums wie heute. Tatsächlich aber ist diese Rede nicht nur lesbar und lesenswert, sie ist klug, nachdenklich, gedanklich frisch, fast jung und hat mir den ersten Griff nach der Bibel nach längerer Zeit aufgedrängt. „Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache, daß die Menschen vermöge der gemeinsten und natürlichsten Vorstellungsweise das Leben für das größte aller Güter, folglich den Tod, insofern er uns als ein gänzliches Stillstehen und Aufhören des Lebens erscheint, für das größte aller Übel halten.“ So lautet der zweite kurze Absatz der Rede, deren exakter Titel „Über das Fortleben im Andenken der Nachwelt“ lautet.
Nach einem knappen, in sich selbst interessanten Blick auf Selbstmörder, also Menschen, die freiwillig den Tod dem Leben vorziehen, spricht Wieland einer Behauptung Satans im Buch Hiob Wahrheit zu. Was er zitiert, steht im zweiten Kapitel des Buches Hiob. „Da sprach der Herr zu dem Satan: Hast du nicht acht auf meinen Knecht Hiob gehabt? Denn es ist seinesgleichen im Lande nicht, schlecht und recht, gottesfürchtig, und meidet das Böse, und hält noch fest an seiner Frömmigkeit; du aber hast mich bewegt, daß ich ihn ohne Ursache verderbet habe. Der Satan antwortete dem Herrn und sprach: Haut für Haut; und alles was ein Mann hat, läßt er für sein Leben.“ Ich mag diese Geschichte allein deshalb schon mehr als fast alle anderen, weil aus ihr Joseph Roth sein Jahrtausendbuch „Hiob“ gemacht hat. Wieland aber zitiert nur den letzten Satz „Alles, was ein Mann hat, läßt er um sein Leben.“
Und es spannt sich ein Bogen ganz weit nach hinten zu dem Mann, der am 18. Februar 1813 in nämlicher Loge „Anna Amalia“ seine Totenrede für Wieland hielt, Goethe. (Zu dieser Rede siehe „Goethes Totenrede auf Wieland“ in der Rubrik MEIN GOETHE). Schön wäre es gewesen, ließe sich Goethe als Hörer der Wieland-Rede nachweisen, es hätten Korrespondenzen behauptet werden können. Goethe aber war an diesem 24. Oktober mit anderen Dingen befasst. Er las in Niebuhrs römischer Geschichte, ging spazieren, war mittags bei Hofe und saß am Abend im Theater. Dort gab man die heroisch-komische Oper in zwei Aufzügen „Das unterbrochne Opferfest“, Musik Peter von Winter, Libretto Franz Xaver Huber. Für Goethe war aus hier nicht zu interpretierenden Gründen die Tagebuch-Notiz wichtig, dass Mademoiselle Schönberger den Murney sang. Andernorts, beispielsweise in Düsseldorf am achten Februar 1818, sang den Murney Herr Hambuch. Während also Wieland über Tod und Nachleben sinnierte, sah Goethe eine der erfolgreichsten Opern des 19. Jahrhunderts. Zurück zum gespannten Bogen.
Als Goethe 1773 seine Farce „Götter, Helden und Wieland“ (siehe hierzu gleichnamig aktuell in MEIN GOETHE) verbrach, machte er sich unter anderem über dessen angebliche Sicht auf Heldentod und Hausvatertod lustig. Daran scheint Wieland, die Deutung ist freilich spekulativ, mit dem Bezug auf den biblischen Satan im Buch Hiob gedacht zu haben. Denn natürlich war es nicht seine Auffassung, dass die nackte Lebenswirklichkeit, die Satan als Wahrheit zum Ausdruck bringt, die wünschenswerte Handlungsgrundlage für Männer sein möge. Den Frontsoldatenspruch „Lieber fünf Sekunden feige, als ein Leben lang tot“ kannten wohl weder Satan noch Wieland aus eigener Gesprächserfahrung. Wieland, der natürlich auch die Stifterin Anna Amalia im Sinn hatte, nahm nur seinen Ausgang, und das in durchaus vorbildlicher Vortragslogik, bei religiösen Vorstellungen vom Leben nach dem Tod. Was er hier in aller zurückhaltenden Unmissverständlichkeit formulierte, war pures Gedankengut der klassischen Aufklärung. Schon der Rede-Titel aber zeigt ja in eine theologieferne Richtung.
Schritt für Schritt nähert sich der ganz offensichtlich rhetorisch erfahrene alte Mann jener Art Leben nach dem Tod, um das es ihm tatsächlich ging. Dem Leben im Gedächtnis der Nachwelt, dem Wirken im Tun der Nachwelt in seinem, des Toten, Sinne. Sich selbst nahm Wieland, anders, als vielleicht zu vermuten gewesen wäre, dabei fast völlig zurück. Späte Goethe-Gedanken, die fast unwirsch davon ausgehen, Gott dürfe gar nicht anders können, als ihm bei seinen Verdiensten ein wie auch immer geartetes Fortleben zu garantieren, sind meilenweit von diesen Wieland-Sichten entfernt. „... ich meine das Fortleben im Angedenken der Nachwelt, wozu wir uns durch ausgezeichnete Verdienste um unser Vaterland, unsre Mitbürger, unser Volk und um die Menschheit überhaupt, durch öffentliche und Privattugenden und durch den edeln Gebrauch, den wir von vorzüglichen Geisteskräften und Talenten gemacht, ein Recht erworben haben.“ Wieland bezieht sich ganz in der Argumentationstechnik der Zeit, in der er aufwuchs und reifte, auf Cicero, den er 1812 seit sechs Jahren in aufwendiger Arbeit übersetzte. „Er trägt sogar kein Bedenken, zu sagen, daß das Verlangen nach dieser Art von geistiger Fortdauer der stärkste Trieb in den edelsten Naturen sei...“.
Das ist einer von den nicht seltenen Sätzen, die für bestimmte Menschen nur im Umkehrschluss Bedeutung erlangen, die also, den zitierten Satz als Beispiel genommen, meinen, exponiertes Streben nach Fortleben im Gedächtnis beweise ihre edle Natur. Man muß auf die Fragezeichen achten an den Satzenden Wielands, denn er behauptet weniger als er fragt: „Lebt nicht jeder edelgesinnte Mensch weniger für sich selbst als für andere? Ist nicht sein Dasein mehr oder weniger eine immerwährende Aufopferung? War nicht aus diesem Grund ein sich selbst nach und nach verzehrendes Licht von alters her das schöne Sinnbild eines edeln und guten Menschen?“ Ich erinnere mich eines Films der eben wieder mit „Hannah Arendt“ viel Aufmerksamkeit auf sich ziehenden Regisseurin Margarethe von Trotta (Jahrgang 1942) aus dem Jahr 1979: „Schwestern oder Die Balance des Glücks“. Mir will scheinen, dieser Film hat Wielands Frage beeindruckend negativ beantwortet. An einem Fall von Egoismus der Aufopferung. Wieland weiß, es ist eine fixierbare Menschengruppe, die bestimmten Überzeugungen huldigt.
Und jetzt steht ein Ausrufezeichen: „Mag sich doch der große undenkende Haufe von der Glorie verblenden lassen, welche die Heroen umgibt, die ihre Namen mit blutigen Zügen in die Annalen der Menschheit eingezeichnet haben!“ Was folgt, könnte jedem Festredner, der auf das Ehrenamt zu sprechen kommt, als fester Redebaustein empfohlen werden, würde das nicht schon heftig in Richtung Missbrauch kippen: „... fordert vielmehr die Billigkeit, das bescheidene stille Verdienst um so mehr aus der Dunkelheit hervorzuziehen, und ein tugendhafter, um seine (wenn auch kleine) Vaterstadt, auf welche Art es sei, vorzüglich verdienter Bürger ist ungleich würdiger als mancher, der die Welt mit dem Geräusch seiner Taten betäubt hat...“. Natürlich hat Christoph Martin Wieland an dieser wie an vielen anderen Stellen einfach nur recht, das Zitat hat die Zitatenschätze noch nicht erreicht, aus denen Dauerredner sich von ihren persönlichen Mitarbeitern den Eindruck zaubern lassen, sie seien belesen und könnten mit dieser Belesenheit punkten.
Zum Schluss wünschte sich Wieland, nach dem Hohelied auf Anna Amalia, „daß ich, auch wenn ich dereinst aus Ihrer Mitte genommen werde, des Glücks, in Ihrer aller liebevollen Andenken fortzuleben, mich mit Gewißheit zu erfreuen habe.“ Kein volles Vierteljahr verging, dann endete seine Lebensbahn. An jenem 24. Oktober 1812 hatte er seine Hörer um Nachsicht gebeten, falls sein Vortrag mehr durch Klarheit als durch Lebhaftigkeit Eindruck mache, und auf sein Alter verwiesen. Doch allein das Tempo, mit dem Wieland von der Vorrede zur Sache schritt, hatte das Zeug zu ewiger Vorbildlichkeit.