Otto Ludwigs Buschnovelle

Erwartungsgemäß ist der Sturm im deutschen Blätterwald ausgefallen, den Otto Ludwigs heutiger zweihundertster Geburtstag in einigen Wunschträumen vielleicht hätte auslösen sollen. Kaum laues Lüftchen kann man nennen, was tatsächlich das Licht der Öffentlichkeit erblickte. So wird Eisfeld sein Otto-Ludwig-Jahr allein feiern und die lapidare Aussage von Marcel Reich-Ranicki, die Ausstellungsmacher Heiko Hain vielleicht sogar ein wenig anklagend in seine Stimmensammlung im oberen Ausstellungsteil aufgenommen hat, beschreibt den Sachstand heute besser als jede andere Stimme voll guter Absicht und vielleicht sogar eigener Überzeugung. Reich-Ranicki bekannte schlicht, Otto Ludwig überhaupt nicht zu kennen. Es war dahergeredet, als der vernehmlich überforderte Laudator am Sonntag mit dem Wörtchen „leider“, bezogen auf die Abwesenheit Otto Ludwigs im DDR-Deutschunterricht falsche Hoffnungen und Assoziationen weckte.

An Otto Ludwig ist keine DDR-Verbannungsgeschichte aufzuarbeiten, er kommt in zahlreichen Büchern auch vor und außerhalb der DDR nicht einmal im Personenregister, geschweige denn substantiell vor. Das hat mit der Gesamtqualität der deutschen Literatur der Zeit zu tun, als Ludwig schrieb. Die Mehrzahl der Namen, die damals Furore machten im zweiten und dritten Drittel des 19. Jahrhunderts, kennen heute selbst Germanistik-Eleven kaum dem Hören nach. Gründerzeit und schwache Literatur sind fast Synonyme geworden, das war schon nach Ludwig. Epigonalität hat selten so geherrscht wie in dieser Akkumulationsepoche der bürgerlichen Zeit. Selbst die Großen hatten Philiströses an sich und wenn der alte Franz Mehring schon 1913 gerade diesen Begriff auf Ludwig anwandte, dann eben nicht, weil er einen Klassenfeind zu erledigen dachte, sondern weil er einen Persönlichkeitstyp auf die knappe Formel bringen wollte.

Man kann an der „Buschnovelle“, von der nun nicht einmal die reden und schreiben, die überhaupt von Ludwig reden und schreiben, spielend leicht Argumente gewinnen, die Ludwig auch als Prosaist eine unoriginelle Drittklassigkeit bescheinigen. Nähme man als Maßstab, was das neue Eisfelder Ludwig-Buch zum Titel gemacht hat: „Und Wahrheit ging mir von jeher über alle Schönheit“, dann müsste man ohne zu zögern Otto Ludwig Wortbrüchigkeit sich selbst gegenüber bescheinigen. Eine vorwaltende Wahrheit ist in dieser Geschichte mit sittsamem Müllerstöchterlein, edlen Grafen und Baronen, bitterbösen Betrügern, unfassbar treuen Dienstboten, er taub, sie stumm und einem uralten Hund, der auf den Namen Meerschaum hört, einfach nicht zu erkennen. Das Frauenbild, um ein modernes Literatur-TÜV-Kriterium heranzuziehen, ähnelt dem schon in der Frühromantik verlachten Frauenbild Schillers aus dessen „Glocke“ mehr als verdächtig. Es soll hier nicht um die Berechtigung oder Irrtümlichkeit der Einwände gegen Schiller gehen. Aber diese forcierte bürgerliche Sittsamkeit, die bei Lessing und Schiller noch Gegenbild war, schwebt hier ohne Gegenüber durch den Text. Paulinchen ist unfassbar naiv. Der taube alte Niklas muss herzhaft lachen, weil er es kaum fassen kann, dass dieses mannbare Kind nicht ahnt, was man so tut in einer Ehe, wenn die Nachtkerze ausgeblasen ist und die ehelichen Pflichten zu rufen beginnen.

Auch in dieser Novelle gibt es die junge Mutter, ähnlich naiv, ähnlich herzig wie Paulinchen, die bei der Geburt ihres ersten Kindes stirbt. Paulinchen ist tatsächlich diese Tochter, erfährt es aber erst im großen Finale.  Dieser traurige Normalfall des damaligen Lebens, sollte der tatsächlich all den jung Verliebten, blind in ihre idealerweise sogar erwünschte Ehe taumelnden Jungfrauen nicht Angst und Schrecken eingejagt haben? Ich werde schwanger und sterbe darüber? Es ist aber gerade keine realistische, keine auf irgendeine in Soziale zielende Wahrheit gerichtete Geschichte, die Otto Ludwig erzählt. Er beschreibt zunächst erst einmal Landschaft. Keine fiktive, eine sehr reale, die er selbst kannte. Es gab und gibt Niedergarsebach, Dobritz, das 37 Kilometer lange Flüsschen Triebisch, das Buschbad, den Götterfelsen, der sechzig Meter hoch das Tal überragt. Man kann sogar die Handlungszeit relativ präzise eingrenzen: um 1830 gab es das Buschbad noch, es ging um 1850 ein, die Angaben sind über Wikipedia leicht zu finden. Das Kreuz auf dem Götterfelsen ist 1843 errichtet worden, es steht da, wenn Paulinchen diesen Pechstein/Felsit-Brocken besteigt, um mit sich allein zu sein.

Kurioserweise behauptet ein „Digitales Historisches Ortsverzeichnis Sachsens“, die Namensform Niedergarsebach sei erst 1875 eingeführt, da war jedoch Otto Ludwig schon zehn Jahre tot und trotzdem kannte er genau diese Schreibweise und keine frühere. Mögen sich Heimatgeschichtler darum kümmern. Die Beschreibung des Triebischtales ist, wenn man denn nicht geneigt ist, ausführliche Naturbeschreibungen in Literatur für überflüssig und langweilig zu halten, durchaus poetisch. „Der Weg ruht einen Augenblick an der Klausmühle aus; denn gleich darauf muß er ziemlich steil an den Felsen hinan.“ Solche Sätze finde ich weder langweilig noch überflüssig. Dann aber kommt etwas, das bekannter als alles andere in dieser Novelle scheint: „Aber so ist's ja seit hundert und aber hundert Jahren gewesen, daß ein Mädchen, so unschuldig und gut, wie Mamsell Pauline sind, eine blaue Blume finden mußte, und wenn sie die blaue Blume gepflückt hat, dann findet sie Wege, die noch kein Mensch gegangen ist, und sieht verzauberte Schlösser und Menschen, wo ein ander Menschenkind nichts sieht als dumme Felsen und Gestrüpp darum.“

Da ist plötzlich diese Müllerstochter über die Worte des alten Niklas mit dem Kernsymbol der deutschen Romantik verbunden, obwohl ihr Name eher auf das Struwwelpeter-Buch vorausweist, dessen dritte, „Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug“ bekanntlich mit der Zeile anhebt: „Paulinchen war allein zu Haus“. Dichte Mühlenreihen in lauschigen Tälern beschwören zwanglos eindeutig vorindustrielle Zeiten, es reicht bis in die Idyllik Geßners, in Empfindsamkeit, späte Anakreontik zurück und hat allenfalls Biedermeier-Modernität. Das sind keineswegs Züge, die ein Verdammungsurteil automatisch nach sich ziehen. Nur der Bogen zu heute, der ist nicht zu schlagen, beim besten Willen nicht. Und das geht mit dem „Erbförster“ ähnlich, der hier bei Gelegenheit auch eine Rolle spielen wird. Aus einem einfachen Rechtsirrtum lässt sich, anders ist da im Kern der Kohlhass bei Kleist eben doch und zwar sehr entschieden anders, keine Tragik destillieren. Jedenfalls nicht die Tragik, die traditionell eine „echte“ Tragödie auszeichnet.

Nach unglaublichen Verwirrungen und noch unglaublicheren Zufällen der Verknüpfung hat es Otto Ludwig offenbar extrem eilig, seinem universellen Happy End entgegen zu schreiben. Da „war's Paulinchen, als ging' es stracks in den Himmel hinein.“ Zu Herzen und unter die Haut bis heute würde eine solche Novelle gehen, wenn Paulinchen nicht nur brav und hübsch und gut und unschuldig wäre wie ihre Mutter Röschen, sondern wie diese auch im Kindbett stürbe. Schön wäre das ganz sicher nicht, aber unendlich viel wahrer als diese „Buschnovelle“ so geraten ist.


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