Holthusen, ein Goethe-Redner

Ist es ein Wagnis, ist es dünnes Eis, auf das ich mich begebe? Zwischen 1953 und 1987 gingen an diesen Mann der Literaturpreis der deutschen Wirtschaft, der Literaturpreis der Stadt Kiel, der Bayerische Verdienstorden, der Jean-Paul-Preis, der Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein, der Bayerische Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst und das Große Bundesverdienstkreuz, er war Mitglied der Akademie der Künste Berlin und Mitglied der Bayerische Akademie der Schönen Künste. Und als 1983 unter anderem Grass und Böll sich gegen den so genannten NATO-Doppelbeschluss engagierten, da trat er aus der Berliner Akademie aus Protest aus. Das klingt vor dem Generalbass der Zeiten seit 1968 nicht nur leise verdächtig. Es scheint alles zu sagen, vor allem denen, denen aus Prinzip wenig alles sagt.

Aber es kommt noch schlimmer. Der Mann, der heute vor genau 100 Jahren in Rendsburg geboren wurde, trat 1933 der SS-Standarte Julius Schreck bei, 1937 der NSDAP. Er promovierte über Rilkes „Sonette an Orpheus“. Und als 1960 der renommierte Fontane-Preis an die 1907 geborene Mascha Kaléko vergeben werden sollte, eine vierbändige Gesamtausgabe ihrer Werke und Briefe brachte im Vorjahr der 1975 in Zürich Verstorbenen noch einmal große Aufmerksamkeit selbst im SPIEGEL, wollte die den Preis nicht annehmen wegen der früheren SS-Zugehörigkeit des Jury-Mitgliedes Hans Egon Holthusen. Ruth Klüger hat in ihrer natürlich lesenswerten Besprechung der mehr als 4000 Kaléko-Seiten („Literarische Welt“ 47/2012) auf gerade diese Episode noch einmal detailreich aufmerksam gemacht. Als Holthusen 1997, fast 84 Jahre alt, starb, hielt der SPIEGEL fest: „Der Literaturkritiker und Essayist ... entwickelte sich zu einem beharrlichen Querkopf, der die linken Intellektuellen der Bundesrepublik immer wieder genüsslich vor den Kopf stieß...“.

In die Literaturgeschichte der alten Bundesrepublik ist Hans Egon Holthusen zuerst und vor allem mit einer Essay-Sammlung eingegangen, die 1951 unter dem Titel „Der unbehauste Mensch“  erschien, drei Auflagen erlebte und später noch einmal auf der Basis der dritten Auflage von 1955  verändert als Taschenbuch aufgelegt wurde. Die Erstauflage schließt mit „Goethe als Dichter der Schöpfung“. Es handelt sich um eine Rede, am 28. August 1949 vorgetragen, dem Tag, an dem unzählige Goethe-Reden gehalten wurden, denn es war der 200. Geburtstag des größten deutschen Dichters. Was sagt einer mit jener Vergangenheit an einem solchen Gedenktag? Wie sinnvoll ist es, sich diese Frage überhaupt so vorzulegen? Folgt aus jener Vergangenheit diese Gegenwart wie der Donner auf den Blitz, wie der Gestank auf den Furz? In Zeiten, da Menschen bereits wissen, was in einem Buch steht, wenn sie es noch gar nicht gelesen haben, eine Fähigkeit, um die nicht nur der Kritiker Holthusen, sondern alle Kritiker, ja alle, die gern viel lesen und nie genug Zeit dazu haben, diese Menschen beneiden, ist es wider Erwarten immer noch gut, den Text zu nehmen, wie er geschrieben steht.

Dabei ist dennoch Vorsicht geboten, aber aus anderen Gründen als den scheinbar nahe liegenden. In „Ja und Nein“, einer späteren Essay-Sammlung, findet sich eine Einleitung mit der Überschrift „Über den Kritiker und sein Amt“. Dass dergleichen immer pro domo gesprochen ist, versteht sich von selbst. Holthusen gruppiert dort seine Thesen um den Begriff der Autorität, was allen, die „antiautoritär“ auf ihren Fahnen stehen haben, exakt jene Möglichkeit einräumt, eigene Kenntnisnahmen für überflüssig zu erklären. Da steht dann also: „Denn nur wo man in eigener Sache spricht, ist man Autorität, vorausgesetzt, daß man ein Dichter ist.“ Und wenig später, wahrhaft frappierend: „Denn maßgebend ist nicht der buchstäbliche Text eines Urteils, sondern die Autorität des Urteilenden.“ Was so apodiktisch formuliert klingt, kann scheinbar nur empört zurückgewiesen werden. Die Praxis des Literaturbetriebes bestätigt freilich bis heute, was damals von Holthusen an den Namen Lessing, Schlegel, Goethe und Schiller festgemacht wurde.

Plötzlich ist Autorität gar nicht die Autorität: „Autorität ist gegeben, wo eine historische Aufgabe vorbildlich erfüllt und in der Sprache eines geschichtlichen Augenblicks eine übergeschichtliche Sinnfigur für alle Zukunft befestigt wird.“ Es mündet in: „Ein produktiver Kritiker vereinigt in sich mit dem Fleiß, der Sachlichkeit und der Genauigkeit des Gelehrten nicht nur den streitbaren Elan des Publizisten, sondern auch die formende Kraft des Dichters.“ Es ist hilfreich, das gelesen zu haben vor dem Blick in die Goethe-Rede, sicherheitshalber wäre zuletzt festzuhalten noch dies: „Jeder Kritiker geht von bewußten und unbewußten Vorentscheidungen aus und führt die Gesamtheit seines geistigen Schicksals ins Treffen.“ Ich lese in einem bestimmten Internetportal nicht selten Kritiken, die diesen Satz im Negativen bestätigen. Ihre Autoren können die Gesamtheit ihres geistigen Schicksals auf der Daumenkuppe eines Koboldmakis platzieren und es bleibt Platz für einige saftige Fruchtkrümel.

„Es ist, als ob die Wahrheit der Welt in dieser großen Vita auf mustergültige Weise dargelebt worden sei.“ „Er wußte zu leiden, aber er wußte auch zu schlafen, zu überleben, und dies war seine eigentliche Wahrheit.“ Das sagt Holthusen gegen jene, die den Anschein erwecken, jede andere als diese wäre die eigentlichere Wahrheit. Er zitiert aus Goethes Brief an Zelter vom 21. November 1830, er hat die Nachricht vom Tod seines Sohnes in Rom erhalten. „Kann man angesichts dieser Briefstelle noch sagen, daß Goethe sich vor der Furchtbarkeit menschlicher Grenzsituationen verschlossen hätte, um sein Gleichgewicht zu bewahren und den Begriff des Kosmos zu retten? Ich glaube, daß der Dichter für diejenigen, die nur „im Scheitern eines Chiffre des Seins“ lesen wollen, eine Antwort bereit hält, die der ihrigen mindestens gewachsen ist.“ Las ich nicht erst vor Tagen in einem langen Interview mit einem sehr berühmten Theaterregisseur, er freue sich geradezu auf sein absehbares Scheitern? Solcher Weltsicht ist Goethe in der Tat mindestens gewachsen.

Für alle, denen es noch deutlicher gesagt werden muss, sagt es Holthusen auch noch deutlicher: „Was wir an dem Phänomen Goethe immer von neuem anstaunen und verehren müssen, das ist eben dies: daß in ihm der Mensch schlechthin gelungen ist, nicht großartig-ehrwürdig gescheitert wie in Hölderlin oder Nietzsche.“ Und er fragt: „Ist es christlicher, fortwährend aus einer extremen Situation heraus zu argumentieren und ununterbrochen dialektisch zu explodieren, oder ist es christlicher, sich in der Mitte zu halten? Goethe hielt sich in der Mitte.“ „Seine Poesie wird wunderbar ergänzt durch seine Weisheit, die immer eine Mitte und ein Gleichgewicht bewahrt zwischen Sinn und Tun.“ „Die Urkonzeption, von der Goethe ausgeht und auf die er immer wieder zurückweist, ist die Idee des Lebendigen, das sich durch keine Doktrin, keine Metaphysik, kein philosophisches System einfangen, zähmen und festlegen lässt.“ Natürlich ruft dergleichen Meinen genau alle Doktrinäre, alle Metaphysiker, alle System-Akrobaten auf den Plan. Holthusens Vergangenheit ist mit einer These wie: „... die Goethesche Idee des Lebens hat doch mit dem brutalisierten und demoralisierten Lebensbegriff Nietzsche wenig zu tun.“ schlecht in ein und dieselbe Schublade zu packen. Da wäre es denn: das Leben.

1949 hatte es, meine ich, keineswegs nur vergänglich-aktuellen Sinn, wenn Holthusen resümierte: „Goethes Wort kann uns zurückrufen aus den Verirrungen eines exzentrischen, hysterischen, das Nichts provozierenden Denkens.“ Knapp dreißig Jahre später widmete Holthusen Erich Heller sein  „Dankbarkeit. Versuch über ein Goethesches Leitmotiv.“ Das liest sich streckenweise wie eine Paraphrase der 49er Rede, der Respekt scheint in den Jahren größer geworden. Das scheint mir logisch, denn die größere und tiefere Einsicht würde sich selbst ad absurdum führen, hätte sie ein gegenteiliges Ergebnis. Holthusen schreibt von Goethes wie seiner eigenen Dankbarkeit, ohne letztere vordergründig zu akzentuieren. „Nichts ist schwerer als sich seiner ein für allemal zu vergewissern, nichts leichter, als durch ausschweifende Idolatrie oder durch fahrlässig-maßstablose Abwertung an ihm vorbei und ins Leere zu reden.“

Er argumentiert mit und gegen Max Kommerell und Max Rychner, er zitiert Ernst Robert Curtius, um später dann fast aus heiterem Himmel zu schreiben: „... es ist nicht ohne humoristischen Effekt, wenn man ... den flott aufgezäumten Fortschritt von heute eine Position beziehen sieht, die mit Sicherheit schon morgen als obsolet gelten wird...“. So schmerzlich es den „Legionären des Augenblicks“ (Nietzsche) auch immer sein mag: nichts ist heute so alt wie die Avantgarde von gestern. Das meint Holthusen, wenn er von Dankbarkeit als Ausdruck mitmenschlicher Kultur schreibt und eine Szene aus dem ersten Buch von „Dichtung und Wahrheit“ in Korrespondenz bringt zur „Harzreise im Winter“, weil dort der ALTAR eine Rolle spielt. Die letzte Stunde Werthers im Blick, er hält sie neben der Kerkerszene im „Faust“ für das „Schrecklichste, was Goethe je geschrieben hat“, ist er sich sicher: „Noch die zum Äußersten entschlossene Verzweiflung wirft einen Adamsblick zum nächtlichen Firmament empor und freut sich, freut sich der unerschütterlichen Ordnung der Konstellationen. Soll man es für möglich halten?“ Man soll.


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