Notizen zu Clifford Odets
Wer hätte das gedacht: Ausgerechnet eine DDR-Anthologie aus dem Jahre 1968 hat den deutschsprachigen Alleinvertretungsanspruch in Sachen Clifford Odets. „Amerikanische Dramen aus fünf Jahrzehnten“ heißt die Sammlung des Aufbau-Verlages, Herausgeber war Eberhard Brüning, der seinerzeit auch ein Taschenlexikon „Amerikanische Literatur“ für das Bibliographische Institut Leipzig verfasste. Brüning nahm „Waiting for Lefty“ aus dem Jahr 1935 in seine Auswahl auf, einen Einakter, dessen Erfolg in den dreißiger Jahren in den USA und weltweit wir uns heute kaum vorzustellen vermögen. Schon gar nicht nach Kenntnisnahme des Textes, der auf den ersten und auch auf den zweiten Blick arg vordergründig wirkt, bisweilen fast penetrant agitatorisch. Der 1906 geborene Odets aber galt zeitweilig als das größte dramatische Talent Nordamerikas nach Eugene O'Neill.
Heute vor 50 Jahren starb Clifford Odets und fordert damit heraus, dem Phänomen seines Verschwindens wenigstens ansatzweise nachzugehen. Es ist radikaler als bei manchen anderen Autoren, die zu Lebzeiten buchstäblich Massen bewegen konnten. Der Kontrollblick nach Werkpräsenz im großen Online-Portal ZVAB, das Millionen von Büchern anbietet aus unzähligen Antiquariaten, hält noch am heutigen späten Nachmittag ganze elf Treffer bereit, drei davon sind Exemplare der genannten DDR-Anthologie, vier sind unterschiedliche englischsprachige Titel, ein Neudruck darunter aus dem Jahr 1994, es gibt ein Bühnentyposkript in deutscher Sprache, es gibt zwei Theaterprogramm-Konvolute mit verschiedenen Heften des Berliner Schlossparkheaters und der Komödie am Kurfürstendamm und es gibt, Überraschung, eine französische Ausgabe. Die amerikahörige alte Bundesrepublik, in deren Territorium noch heute von rechts bis links mit einer verblüffend einheitlichen Tonlage Anti-Amerikanismus erschnüffelt und an den Pranger gestellt wird, darin dem Symmetrie-Phänomen des Antisowjetismus früher im Osten peinlich ähnlich, sie hatte Clifford Odets offenbar ausgeschlossen aus ihrer universalen Liebe.
Das kann nicht an seinen linken Jahren gelegen haben, diese Jahre hatten fast alle US-Autoren in der Zeit, die gern „Red Decade“ genannt wird, denn schon mit Beginn der vierziger Jahre trat bei Odets das ein, was auch bei den meisten anderen eintrat: der revolutionäre Eifer ließ nach in wenig überraschender Übereinstimmung mit dem Nachlassen der großen Krise, mit dem Früchtetragen des New Deal, vor allem aber natürlich auch mit dem von der Rüstungswirtschaft angekurbelten Wirtschaftsaufschwung. Für die DDR-eigene Amerikanistik, vor allem für die beiden Karl-Heinze, die über Jahre fast alle Vorworte und Nachworte verfassen durften - also Wirzberger und Schönfelder - in ihrer Eigenschaft als Verfasser des Leipziger Reclam-Bandes 373, der in der ersten Auflage noch „Amerikanische Literatur im Überblick“, in der veränderten und erweiterten dann „Literatur der ÚSA im Überblick“ hieß, sind die letzten 25 Lebensjahre von Clifford Odets komplett ausgeblendet. Nicht einmal die sonst gern geübte Renegatenkritik kommt vor.
Hat Clifford Odets nach seinen frühen Stücken aus den dreißiger Jahren überhaupt noch etwas geschrieben, ist er in Hollywod versumpft, hat ihn eine heimtückische Krankheit um seine Kreativität gebracht? Ich fand keine Antwort auf diese Fragen. Dafür aber, und zwar beunruhigend genug, das völlige Ausbleiben von Kritik in den DDR-Darstellungen des doch offenbar in seiner ersten Periode mehr als nur akzeptierten Dramatikers. Während etwa Friedrich Wolf in seinem Aufsatz „New York – Theaterfront 1935“ dem im Eilverfahren fabrizierten Einakter „Till the Day I Die“ (1935) jede, aber auch jede Qualität abspricht, referieren die Amerikanisten der DDR nur in aller Grobheit, dass es sich um ein Stück über die Naziherrschaft in Deutschland handelt, auch die, die Wolf in anderen Passagen zitieren. „Till the Day I Die“ sog sich Odets in fünf Tagen und fünf Nächten anhand eines Briefes aus Deutschland, den „New Masses“ veröffentlicht hatte, aus den Fingern, um mit „Waiting for Lefty“ zusammen eine Broadway-Abendfüllung zu erreichen.
„Waiting for Lefty“ sah Friedrich Wolf während seines knapp zweimonatigen USA-Aufenthaltes 1935 und er traf auch auf Odets dort. Warum Wolf-Biograph Pollatschek wiederum dieses Treffen verschweigt, während er andere erwähnt, ist unerklärlich. Wolf jedenfalls ordnete das Streik-Drama in die Zusammenhänge mit dem europäischen, nicht zuletzt deutschen Agitprop-Theater ein. Er sah drohende Gefahren, vor allem aber die Wichtigkeit genau einer solchen Entwicklung für Amerika und die westliche Theaterwelt. Auch Brecht sah „Waiting für Lefty“ und zwar im Madison Square Garden, auch Brecht traf Odets und hatte ausführliche Debatten mit ihm. Manchmal zog er den Amerikaner auf. Die plastische und sicher auch in die eigene Pfiffigkeit verliebte Darstellung einer solchen Debatte gibt der emigrierte Augsburger in seinem Arbeitsjournal unter dem Datum des 30. Mai 1942. Zugegen waren Hanns Eisler und Fritz Kortner, einige Tage später war man zum Lunch bei Fritz Lang. Brecht hielt offensichtlich sogar eine Zusammenarbeit mit Clifford Odets für denkbar, man entwarf schon einmal probehalber Filmszenen miteinander.
1948 zeigten die Kammerspiele des Deutschen Theaters „Awake and Sing“, deutscher Titel „Wach auf und singe!“ in der Regie von Franz Reichert. Friedrich Luft war von Stück, Autor und Inszenierung angetan. Wenige Sätze von ihm sagen mehr als all die DDR-Sätze: „Seine Stücke zielen auf die Verwandlung des Menschen, provozieren den Protest gegen seine unzulängliche Umgebung. Sie wollen bessern. Sie sind ungenügsam. Sie beschreiben erst, detailliert und nicht ohne Liebe zum dramatischen Gegenstand. Aber sie sind dann der Beweis von der Bühne, daß diese Welt nicht erträglich wird, ehe sie nicht besser ist. Stücke, die in die Nähe der Aktion kommen.“ Luft vergleicht Odets mit William Saroyan und dessen Weltsicht auf der Bühne, sein Fazit: „Bei der von Odets ist uns ethisch wohler.“ 1951 sah Luft dann „The Country Girl“ im Schlosspark-Theater, deutscher Titel, etwas abschreckend, obwohl keineswegs unkorrekt: „Das Mädchen vom Lande“. Ernst Deutsch und Marianne Hoppe müssen da brilliert haben. Von dieser Inszenierung Boleslaw Barlogs ist übrigens eines der oben genannten Programmhefte.
Was offenbar für die DDR eine so grauenhaft unerträgliche Entwicklung eines Autors war, mit dem sich vormals so schön die Wolf-These „Kunst ist Waffe!“ belegen ließ, sah auch Friedrich Luft durchaus: „Die Wandlung eines Theaterautors: vom szenischen Prediger zum dramatischen Beobachter. ... Als ob ihn die Beschäftigung mit der Welt zurückgeführt hat auf den Menschen selbst. Und sei es der Mensch im Sonderfall.“ Menschen im Sonderfall sind in der DDR-Terminologie Menschen, die das Kriterium des Typischen nicht erfüllen, am Typischen hing aber seit der unendlich strapazierten Formulierung des Realismus-Begriffes durch Friedrich Engels genau die Qualität eines beliebigen Literaturwerkes, die über das Schicksal von allem entschied, was Erbe oder Ausland war, das Rezeptionsschicksal. Um bestimmte allzu offenbar großartige Werke von Autoren beerbbar zu machen, deren Weltanschauung auch beim besten Willen nicht in die entfernteste Nähe von Marx und Lenin zu bringen war, hatte man eigens den klassiker-basierten Begriff des Balzac-Effekts erfunden, das war gewissermaßen der Realismus von hinten durch die Brust ins Knie, der Realismus gegen den Willen seines Fabrikanten.
Der frühe Clifford Odets, insbesondere sein „Waiting for Lefty“, von dem ich nicht weiß, ob ihn irgendein DDR-Theater je aufführte, brachte nach DDR-Lesart kämpfende Arbeiterklasse auf die Bühne. Die Arbeiterklasse bestand seltsamerweise aus Taxi-Fahrern in diesem Einakter, was mit der reinen Lehre auf alle Fälle nicht vollkommen in Deckung zu bringen war. In allen vorgeführten Ehen des Einakters gehen alle Beteiligten mit einer deprimierenden Selbstverständlichkeit davon aus, dass der Mann der Ernährer ist und dass ein Mann, der es nicht schafft, Frau und Kinder zu ernähren, ein Versager ist. Das erinnert viel mehr an die heute angeblich immer schlimmer drückende Ideologie des wirtschaftlichen Neoliberalismus als an irgendeine proletarische Weltsicht. Typisch, der Begriff hat ja keineswegs keinen Inhalt, sind die Figuren bei Odets in der Tat nicht, man stelle sich nur eine Vorzimmerdame vor, die ihren eigenen Chef bei wildfremden Leuten schlecht redet, die ihr Büro betreten und ein Anliegen an den Chef haben. Dergleichen geht hier und heute immer als Grund für eine fristlose Kündigung durch und nicht einmal Linke protestieren je ernsthaft dagegen.
Das Stück unterscheidet sich, las ich, von anderen Streikstücken der Zeit dadurch, dass der Streik das Handlungsziel auf der Bühne sei. Bei einer Londoner Inszenierung soll sogar Herbert George Wells so mitgerissen worden sein, dass er am Ende in den Ruf „Streik, Streik, Streik!“ einstimmte mit erhobener Faust. So wollte das kleine DDR-Theorie-Mäxchen am liebsten Bühnenwirkung haben, nach dem letzten Vorhang rasch auf die Barrikade. Schaut man sich aber den Text genau an, dann stößt man auf einen durchgängigen Zug, der regelrecht erschreckt. Das ist seine Affinität zu nackter Gewalt. Wenn gleich in der ersten Binnenszene Edna ihrem Joe empfiehlt, sich Stahlspitzen an die Stiefel zu machen, dann weckt das ganz merkwürdige Assoziationen. Auch Laborassistent Miller hat fast ansatzlos den Wunsch, seinem Chef Fayette „in die Fresse“ zu hauen. Es gibt proletarische Bildungs- und Intelligenzfeindlichkeit im Stück, es gibt Klischees aus allerunterster Schublade. Der mafiöse Gewerkschaftsboss heißt Fett und ist fett. Lefty kommt übrigens nicht, auf den alle warten, denn er ist erschossen worden.
Dass „Waiting for Lefty“ ganz ursprünglich nur das Spiel für einen Benefizabend sein sollte, denn es gab tatsächlich einen Taxi-Fahrerstreik, es gab tatsächlich einen toten Lefty 1934, ist wenigstens eine Fußnote wert. Ich würde, das weiß ich jetzt, das Stück auf keiner Bühne sehen wollen. Ob ich dem Bühnen-Noah in „The Flowering Peach“ (1954) auch so böse wäre, weil er sich auf seine uralten Tage nicht für den Kampf, sondern für den reichen seiner beiden Söhne entscheidet, wie Eberhard Brüning ihm vorwortlich böse war, wage ich zu bezweifeln. Und: Ohne die termingebundene Neugier auf Clifford Odets wäre ich so schnell nicht auf diesen wunderbaren Satz von Julius Bab gestoßen: „Dichter, die vom Dichten dichten, statt die doch sonst erfreulich große Gotteswelt in künstlerischen Angriff zu nehmen, sind in 99 von 100 Fällen trübselige Dilettanten.“ Wer einen solchen Satz schreibt, dem nehme ich auch den folgenden noch ab:„Aber Odets ist kein Dilettant.“ An dieser Stelle enden diese Notizen, sie laufen sonst Gefahr, keine mehr zu sein.