Paul Ulrich, in Moers geehrt, in Ilmenau geboren (2)
Dass in den Archiven von Ilmenau und Gotha bestimmte Unterlagen aus den Jahren vor 1945 nicht mehr vorhanden sind, erschwert die Ermittlung weiterer Details aus dem Leben von Paul Ulrich (siehe GEHEIMRAT Ausgabe 57, Seite 24/25), macht sie aber keineswegs unmöglich. Die Stadt Gotha überstellte die Kopie der Sterbeurkunde des Rentners Paul Hermann Ulrich mit der letzten Wohnanschrift Mittelhäuser Weg 13. Er starb in den Kreiskrankenanstalten Gotha am 14. Januar 1956, war verheiratet mit Anna Lydia Minna Clara Ulrich, geborene Neubauer. Auf dieser Urkunde ist vermerkt, dass die Eheschließung der beiden am 6. September 1902 in Ilmenau erfolgte. Aus dieser Zeit wiederum sind die entsprechenden Dokumente noch vorhanden.
Die Urkunde über die Eheschließung enthält neben den Namen der neuen Eheleute auch die Namen der jeweiligen Eltern und einige weitere Angaben. So wissen wir, dass Gattin Clara, so der Rufname, zum Zeitpunkt der Eheschließung ohne Beruf war, sie war gut zwei Jahre jünger als der am 27. Juni 1879 geborene Paul Hermann. Sie wiederum war die Tochter von Friedrich Wilhelm Hermann Christian Neubauer und seiner Frau Maria Karoline, geborene Merten, wohnhaft in der Ilmenauer Pfortenstraße 2. Da die Urkunde den Gatten als Techniker ausweist, wohnhaft in Hamburg, geboren in Trotha bei Halle, lag es nahe, das Archiv der Technischen Universität Ilmenau zu kontaktieren, das auch über einen soliden Alt-Bestand des Technikums verfügt.
Aus den dort einsehbaren Unterlagen geht hervor, das Paul Ulrichs Vater, denn um den handelt es sich definitiv, sich im Sommersemester 1900 am Thüringischen Technikum Ilmenau für das Studium der Maschinentechnik eingeschrieben hat, er beendete seine Ausbildung im Wintersemester 1901/02 als Maschinentechniker mit der Abschlussnote 2, die vor 1925 einem „Genügend“ entsprach, wie Reingard Drescher freundlicherweise erklärend anfügte. Dass ein Student in Ilmenau im Jahr 1900 keine eigene Wohnung bezieht und mit ihr in einem der Adressbücher der Stadt landet, bestätigt die Einsicht in die im Stadtarchiv Ilmenau bewahrten Bände. Die Familie Neubauer ist für die Pfortenstraße 2 gut dokumentiert, einen Paul Ulrich gab es dagegen weder 1901 noch 1904, noch 1907.
Es darf vermutet werden, dass Paul Hermann Ulrich entweder in der Pfortenstraße direkt zur Untermiete lebte oder auf anderen Wegen seine künftige Gattin kennenlernte, die Ehe hielt auf alle Fälle bis zu seinem Tod 1956, also deutlich über die Goldene Hochzeit hinaus, seine Frau starb zweiundzwanzig Monate nach ihm ebenfalls in Gotha. Wann das Paar mit Sohn Paul Ilmenau verließ und aus welchem Grund, ist nicht dokumentiert, es hatte vermutlich mit einer Arbeitsstelle zu tun, die der frisch gebackene Maschinentechniker fand. Nicht zu ermitteln war auch, wann genau Sohn Paul ins Rheinland übersiedelte. Die Melde-Karte des Einwohner-Meldeamtes Moers nennt lediglich die Adresse, von wo der Zuzug erfolgte, das ist der schon genannte Mittelhäuser Weg. Es ist davon auszugehen, dass Paul Ulrich dort bis in die frühen dreißiger Jahre lebte.
Er könnte in Gotha eine Bäckerlehre beendet haben, arbeitete aber später als Bergmann. Der Mittelhäuser Weg war eine Neubaugegend, woraus zu schließen ist, dass die junge Familie zunächst noch eine andere Adresse in Gotha hatte. Welche Gründe es für den Wegzug aus Thüringen gab, ist unbekannt, der Berufswechsel dürfte mit besseren Verdienstmöglichkeiten zu tun gehabt haben. Unbekannt ist auch, wann Paul Ulrich begann, sich politisch zu betätigen, Auskünfte dazu konnten auch seine beiden Töchter Hannelore (Jahrgang 1926) und Helga (Jahrgang 1930) nicht geben, als Bernhard Schmidt für das Buch „Moers unterm Hakenkreuz“ mit ihnen sprach, beide leben noch und freuen sich, wenn sie Neues über ihren im KZ Mauthausen, Außenlager Gusen, 1943 gestorbenen Vater erfahren können.
Tochter Helga geht wie auch das Archiv des Konzentrationslagers in Österreich davon aus, dass die genannte Todesursache erfunden war. Sie muss auch in einem entsprechenden Schreiben an die Familie enthalten gewesen sein, wie sich Tochter Hannelore erinnert. Die ältere Tochter erzählte Bernhard Schmidt 1994, dass Asche an die Familie geschickt wurde, von der natürlich niemand wusste, ob es tatsächlich die von Paul Ulrich war. Der Vater sei in einem Familiengrab seiner Familie in Ilmenau beigesetzt worden. Es kann sich dabei eigentlich nur um die Familie Neubauer gehandelt haben, denn der Vater in Gotha hat sich laut Zeugnis der Töchter von seinem Sohn losgesagt. Auch Ehefrau Else trennte sich von Paul Ulrich und heiratete ein zweites Mal, besuchte den Ex-Gatten jedoch mit der älteren Tochter noch zirka 1940 im Gefängnis.
Dass Paul Ulrich überhaupt aus der Justizhaftanstalt in ein Konzentrationslager überstellt wurde, ermöglichte eine Vereinbarung zwischen dem „Reichsführer SS“ Himmler und dem Justizminister Thierack. Demnach konnten unter anderem auch deutsche Justizhäftlinge mit mehr als acht Jahren Strafe unter dem Stichwort Sicherheitsverwahrung nach Mauthausen eingeliefert werden. Paul Ulrich hatte zunächst als Hauptangeklagter eines Verfahrens gegen 19 Männer wegen gemeinschaftlichen Abhörens des Moskauer Senders und weiterer Delikte sieben Jahre Zuchthaus bekommen (Urteil vom 27. April 1937), juristisch hieß der Tatbestand „Vorbereitung zum Hochverrat“. Das Schwurgericht Kleve erhöhte 1939 auf die zulässige Höchststrafe von 15 Jahren. Als Straftat galt nunmehr ein gemeinschaftlicher Verstoß gegen den Paragraphen 218 in insgesamt 29 Fällen. In Österreich verkürzte sich für die KZ-Unterlagen das auf das Wort „Abtreibung“.
Im Buch „Moers unterm Hakenkreuz“ wird ein der KPD-naher „Sexualreformbund“ genannt, über den das gelaufen sein soll. Und es wird eine Lokalzeitung vom 20. Juli 1939 zitiert, die die Verurteilten „Schwerverbrecher“ und „Untermenschen“ nennt. Ende der zwanziger Jahre hatte sich die KPD besonders des Kampfes gegen den Abtreibungsparagraphen angenommen, der Schriftsteller Friedrich Wolf ist mit seinem Drama „Zyankali“ zum namhaftesten Agitator in dieser Angelegenheit geworden. Paul Ulrich ist letztlich dem unstillbaren Bedarf an billigen Arbeitskräften zum Opfer gefallen, wie sie im Konzentrationslager Mauthausen an der Donau und seinen Nebenlagern in großer Zahl gebraucht wurden. Dass auch die Jahre davor in Gefängnis und Zuchthaus schlimme Jahre waren, steht außer Zweifel.
Zuerst veröffentlicht in: Der NEUE Geheimrat, Ausgabe 59 2014, S. 22/23