Frühstücksgespräch über Harald Gerlach

Insbesondere Wulf Kirsten wusste natürlich, dass Harald Gerlach keineswegs mit einem schönen ersten Satz aus „Das Graupenhaus“ (1976) in die Literatur eintrat, sprach er doch, als er schließlich zu Wort kam, davon, wie er 1969 Gerlach-Gedichte in NEUE DEUTSCHE LITERATUR fand und umgehend versuchte, mit dem Dichter in Kontakt zu kommen, was gelang und schöne Früchte zeitigte. Die Stühle im Schillerhaus habe ich nicht gezählt, auch nicht die Zahl der Schnittchen, die es neben frischem Obst und viel Rührei zu verspeisen gab. Für solch frugales Mahl nehmen selbst mäßige Hotels locker das Dreifache und nie wird als Beilage über einen Dichter gesprochen. Veranstalter war das Schillerhaus, keineswegs die Literarische Gesellschaft Thüringen, doch grünherzliche Urheberrechtsstreitigkeiten unterblieben, denn es wurde eine geschlossenene Gesellschaft der öffentlichen Art, da muss man keine Schaukämpfe ausfechten, Schuld tragen ohnehin in allen denkbaren Fällen immer die anderen.

Harald Gerlach war allen anwesenden Frühstücksgästen, den erwarteten wie den überraschenden, gut bis sehr gut bekannt, wenngleich nicht immer persönlich. Eine missionarische Aufgabe hatten die zwei Stunden also nicht zu erfüllen, deutsche Vereinsnormalität demnach, man bleibt unter sich. Das hat enorme Vorteile, niemand muss fürchten, dass ein eben gekrönter Morgensieger den Preis nicht annimmt und den zweiten Sieger vorlässt. Den zeitig genannten Georg Oswald Cott kannte ich nicht, freute mich dagegen sehr, dass unter den beiden Frühstücksvorlieben Gerlachs das Heimische den Vorzug erhielt, die gehobene französische Cuisine, die er dem Vernehmen nach sehr liebte, wäre vielleicht nicht nur dem Budget des Hauses weniger gut bekommen. Gerlach als einer, der eher den Rand als das Zentrum liebte, der sich lieber nicht mit Kollegen traf, schon gar nicht bei offiziellen Anlässen, es sei, man wanderte gemeinsam und er mit langen Beinen vornweg, wurde freundlich von Mund zu Mund gereicht im Kreis, dem mehrheitlich das ständige gegenseitige Treffen Lebensinhalt ist, nicht zu reden von den freundlichen Worten, die man füreinander findet.

Verena Blankenburg, Schauspielerin, Neubaunachbarin in Volkstedt, wenn ich meiner Notiz trauen darf, erinnerte an 59 Quadratmeter inklusive dreier Kinder, so war eben diese kleine DDR, ich lebte auf meinen 59 Quadratmetern mit lediglich zwei Kindern also tatsächlich arg feudal. Sie las aus Gerlachs Schillerbuch und Gedichte, ihr Intendant Steffen Mensching schilderte vor allem die über Gerlach vermittelte Bekanntschaft mit einer anderen Lyriktradition als der, die er selbst zunächst bevorzugte. Er las aus einem Gerlach-Essay und verband das mit dem Lob der Essayistik insgesamt, natürlich vollkommen zu Recht. Verena Blankenburg memorierte therapeutische Besuchseffekte bei Gerlach und Bettina Olbrich nebenan: Erdung vollzog sich, Blutdrucksenkung ohne Medikament, Persönlichkeitswirkung also. Steffen Mensching griff sich den Aspekt der auffallend hohen Zahl von Porträt-Gedichten bei Gerlach und generell in der DDR-Lyrik und fand so zum besondern Verhältnis zur Geschichte in einem Land, das seinen Bürgern eher die Bewegung in der Zeit als die im Raum genehmigte, nicht immer mit erwünschten Folgen.

Einen Essaysatz Gerlachs habe ich mir hoffentlich treffend notiert: „Wo jeder gegen alles ist, herrscht Einverständnis.“ Was für ein verteufelt kluger Satz, den der verteufelt kluge Mensching mit sicherem Insinkt herausgriff. Dazu die schönen Episoden vom rechts- und linkselbischen Wandern, die Wulf Kirsten vortrug, auch Martin Straub ließ es anekdotisch angehen. Man ist selbst mit Episoden vom Bahnhof Orlamünde verständnisinnig unter sich in Rudolstadt, wobei mich auch die  stärkste Persönlichkeit eines Dichters nicht dazu animieren könnte, Bahnhofs-Aufenthalt als Luxus zu betrachten. Es stank einfach zu oft zu sehr in den vielen Mitropahallen meines Bahnfahrerlebens seligen Angedenkens, man wurde einfach zu oft von Blödmännern angelabert, musste der Transportpolizei zu oft den gültigen Fahrschein vorweisen. Ich habe Harald Gerlach nur gelesen und schied von Rudolstadt mit der bekräftigten Gewissheit, dass die groteske Schilderung eines Provinztheater-Innenlebens in „Gehversuche“ Rudolstadt gar nicht gegolten haben kann, weil der Roman schon da war, ehe Harald Gerlach dort für runde zwei Jahre literarischer Mitarbeiter wurde.

Vertreter der unter Rudolstädter Vordenkern gern Schornstein-Presse genannten Organe waren keine anwesend, weshalb ich mich dennoch nicht gedrängt fühle, protokollarische Pflichten zu übernehmen. Wenn ich also Jens Henkel nenne, der neben mir saß, und Matthias Biskupek, der entfernt von mir saß, und Petra Rottschalk, die neben mir saß, während Daniela Danz wiederum neben ihr saß, dann sind das Übungen tiefster Freiwilligkeit. Ulrich Kaufmann stellte sich mir vor und ich mich ihm, obwohl wir uns gelegentlich treffen, Lothar Ehrlich warf mir einen als wohlwollend interpretierbaren Blick zu, nachdem ihm Bettina Olbrich etwas ins Ohr geflüstert hatte. Ich hätte ihr gern Kopien in die Hand gedrückt, wenn ich geahnt hätte, dass ich nach unserem noch taufrischen Mail-Wechsel nun sie selbst treffen und sprechen würde. Sie las eine Rede Harald Gerlachs vor, die er auf dem Marktplatz Rudolstadt am 19. November 1989 gehalten hat. Wulf Kirsten verfügte umgehend ihre Aufnahme, notfalls unter Streichung eines anderen Textes, in, ja das weiß ich nun nicht zu sagen. Jedenfalls offenbar ein Druckwerk.

Es wird, verkündete Bettina Olbrich, in nicht allzu ferner Ferne unter tätiger Mithilfe des Sohnes von Verena Blankenburg eine eigene Harald-Gerlach-Website geben, auf dass er zu finden sei unter seinem Namen sofort, wenn man ihn aufrufe. Das Internet wäre deshalb ausnahmsweise mit Wohlwollen zu sehen, was unter den Altvorderen der Kultur ja keineswegs die Norm ist, will ich meinen. Denn die schönste Bibliographie eines wichtigen Mannes wie eben Harald Gerlach, die in einem unzugänglichen Buch eines Kleinverlages auf unzugängliche Sekundärliteraturstellen verweist in Zeitschriften von Kleinverlagen, hilft zwar den Zitierten für ihr altphilologisches Selbstwertgefühl. Eine tatsächliche Wirkung auf das Nachleben ist davon aber nicht zu erwarten. Wenn jedoch der neuseeländische Gerlach-Freund echte Texte aufrufen kann, dann lebte der Dichter weiter, die Liebe seines Freundeskreises ist ihm ohnehin sicher. In aller Stille habe ich mir vorgenommen, meinen acht Publikationen zu Gerlach nun doch noch Neues folgen zu lassen, allein das von Lothar Ehrlich erneut angesprochene Hennecke-Stück reizt und die nach 1990 erschienenen Sachen ohnehin. 2016 gibt es ja einen fünfzehnten Todestag, keine schlechte Zielmarke dazu.


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