Gustav Freytag "Verehrt und Vergessen"

Fast ist es nun schon wieder vorbei, dieses Gustav-Freytag-Jahr, über die strengen zwölf Monate hinausgedehnt vom 30. April 2015 bis zum 16. Juli 2016. Die Eckdaten gesetzt von den Lebensdaten: am 30. April 1895 starb Freytag, der Tag jährte sich folglich zum 120. Male, am 13. Juli 1816 wurde er geboren, der 200. Todestag gibt den auf jeden Fall willkommeneren Anlass für das Rückbesinnen auf einen Mann, der nun wahrlich nicht mehr zum Bildungskanon der Gegenwart gehört. Den Urteile und Vorurteile begleiteten zu Lebzeiten und später noch manches Jahr. Das auf Gotha und vor allem Siebleben konzentrierte Jubiläumsjahr kann vom geografischen Ort des Ge- und Nachdenkens natürlich nicht abstrahieren. Folglich scheint ein Exkurs zum Thema DDR und Freytag eine vermeintliche Pflicht. Und genau an der Stelle beginnt Zeitgeist heftig aktiv zu werden, es bietet sich seit 1990 ganz offenbar einfach an, auf den Rehabilitationstisch zu schieben, was die DDR, soweit sie sich offiziell und offiziös äußerte, verwarf, ausklammerte oder gar verbot. Wenn wir auch längst wissen, dass manches vermeintliche Verbot keine tiefere Ursache hatte als den hinteren Platz des „Verbotenen“ auf der Warteliste eines von Kontingentierung geplagten Staates.

Der bisweilen groteske Eifer einiger Enthusiasten im wenig von Gotha entfernten, bald mit ihm via Kreisreform sogar vollends verbundenen Arnstadt um eine Neubewertung von Eugenie Marlitt hat auch nicht dazu geführt, dass die Bücher der Guten besser wurden, als sie je waren. Womit ganz notwendig der Hinweis aufgerufen wird, dass natürlich, selbstverständlich und vollkommen klar der Autor Gustav Freytag mit der Autorin Eugenie Marlitt auf keinen gemeinsamen Sockel wie auch in keine gemeinsame Mottenkiste gehört. Einer, den selbst gestandene Historiker mit Seriositäts-Image sich heute herausnehmen, ungenannt zu lassen, Franz Mehring, hat 1895 einen verblüffend wohlwollenden, gar nicht verblüffend klugen und zu allem auch noch sehr gut lesbaren Nachruf auf Gustav Freytag verfasst, dem man, so mein unbescheidener Eindruck, gar nicht so schrecklich viel hinzufügen müsste für eine heutige Gedenk- und Festrede. Am Ende eines Festjahres freilich, wo schon einige Reden gehalten, ein zweitägiges wissenschaftliches Kolloquium veranstaltet wurden, steht der Redner vor der Aufgabe, möglichst etwas vorzutragen, was noch nicht vorgetragen wurde. Hans-Werner Hahn entschied sich gestern im Spiegelsaal von Schloss Friedenstein unglücklich.

Dass ein Professor, der viele Jahre das Fach Geschichte des 19. Jahrhunderts vertrat, am liebsten Geschichte des 19. Jahrhunderts vorträgt, versteht sich. Doch auch das kann man so oder so machen. Hans-Werner Hahn setzte auf ein über die Maßen vorkenntnisreiches Publikum, das er, ich mag niemandem zu nahe treten, sichtlich nicht hatte. Dem Historiker gehen die Namen leicht von den Lippen, da Treitschke, dort Mommsen, gar Ruge, alle nicht einmal mit Vornamen erwähnt, dazu Generale, die selbst Militärhistoriker wohl nachschlagen müssten, Adlige, Kronprinzenpaare, so popularisiert man einen Mann nicht, der aus der Vergessenheit gerissen werden soll. Mein Hauptvorwurf aber, und da hilft mir auch der Blick auf die bereits gehaltenen Vorträge des Jubiläumsjahres nicht: als Zeitkritiker, als Kurzzeit-Parlamentarier, als Vereinsmeier oder als Publizist muss Freytag wirklich nicht zu neuen Ehren geführt werden, er hätte sie nicht verdient. Denn, den auch von Hans-Werner Hahn geltend gemachten Grundsatz angewendet, man habe Freytag aus seiner Zeit zu beurteilen und zu verstehen, bliebe das Fazit wohl unabweisbar: Er hatte nicht wenige Zeitgenossen, die ihn als Denker, Analysten, Prognostiker weit und locker übertrafen.

Verstehen aus der Zeit heraus würde ja wohl verlangen, ihn in Quervergleiche zu verwickeln, um Leistungen und Fehlleistungen erkennen zu können. Wie fein hat der alte Franz Mehring da doch gesehen, gelesen, gedacht. Er hat ihn sogar vor unberechtigter, vor dummer und falscher Kritik geschützt, teilweise sogar gegen seine Herolde und Nachlass-Verwalter. Das will etwas heißen bei einem doch angeblich so dogmatischen Denkfundament, wie Mehring es vertrat, dem selbst auch dumme, unberechtigte und falsche Kritiken anzukreiden wären, das ist weder sein noch irgend jemandes Alleinstellungsmerkmal. Gesprochen hat Professor Hans-Werner Hahn im lange wegen des Besuchs des Fürsten von Monaco, Albert II., in Gotha nur schwer erreichbaren Spiegelsaal aus Anlass einer Ausstellungseröffnung. Das Konzept der Ausstellung erläuterte vor ihm Katja Vogel, was zu sehen ist, ist letztlich ihr Werk. Wer, was und wie sie unterstützte, gehört ins Protokoll, nicht hierher. Die Ausstellung ist sehenswert, weil sie nicht überladen, klar gegliedert und nachvollziehbar dargeboten wird. Das im adelsstolzen Gotha des Jahres 2016 ein handgeschriebener Brief eines Kronprinzenpaares wie ein Star-Exponat gehandelt wird, versteht sich mit Schmunzeln.

Der Vortrag hätte allerdings schon darauf aufmerksam machen dürfen, dass die Freundschaft eines bürgerlichen Schriftstellers mit einem Prinzenpaar kein reines Rührstück war. Dass Freytag sich, wenn man so mag, als undankbar erwies, indem er in einer seiner allerletzten Publikationen ein wahres, sprich unverfälschtes Porträt seines Freundes, des Kurzzeit-Kaiser Friedrich, entwarf und sich damit zum Teil bösartigste Kritiken auf den Hals lud, nicht zuletzt den Vorwurf des Antisemitismus, der demnach deutlich älter ist, als allgemein und im Vortrag angenommen, der vielleicht sogar die Schrift Freytags über den Antisemitismus herausforderte, die allerdings schon 1889 in Berlin als eine „Pfingstbetrachtung“ erschien. Die Ausstellung hat ein Exemplar der Erstauflage. Die Ausstellung zeigt Mineralien und Fossilien des Sammlers Freytag, seinen Reisepass von 1892, sein Testament vom dritten November 1891 und vieles mehr. Es ist eine Ausstellung für Entdecker, die dennoch keine wirklichen Überraschungen präsentiert, woher auch. Zu sehen ist auch ein Theaterzettel der Stuttgarter Inszenierung von „Die Journalisten“ vom 18. Mai 1895, knapp drei Wochen nach seinem Tod also. Dazu die Handschrift der Rolle des Schmock.

Ein politisch-ideologischer Vorteile wohl unverdächtiger Mann wie der Schweizer Walter Muschg, der große Walter Muschg, füge ich gern an, hat in seinen umfänglichen Werken zur Geschichte der deutschen Literatur den Namen Gustav Freytag auffällig selten überhaupt nur erwähnt. Einmal in einem Beitrag zum Jean-Paul-Jubiläum, 1962 in den Blättern der Jean-Paul-Gesellschaft erschienen: „Was jene Generation von 1863, die im Glauben an einen gigantischen Aufschwung Deutschlands lebte, als herrliche Zukunft vor sich sah, ist für uns grauenvolle Vergangenheit. Und die Größen der deutschen Literatur, auf die man damals stolz war – die Freytag, Spielhagen, Jordan, Scheffel, Wildenbruch, Geibel, Schack - , modern mit den politischen Idealen ihrer Zeitgenossen in den Gruben der Geschichte.“ In seiner „Tragischen Literaturgeschichte“ heißt es ergänzend: „Es waren die monumentalen Philister von der Art Gustav Freytags und Emanuel Geibels, in denen wie einst in Hans Sachs das Spießertum des Bürgers poetisch wurde. In ihrem Ruhm triumphierte der Ungeist der Bourgeoisie, und der Dichter zog sich schweigend aus dieser Welt zurück.“ Nur wer bereit ist, allein den merkantilen Erfolg eines Autor als Qualitätsausweis zu sehen, darf Anderes übersehen.

Wobei bis heute auch täglich und nachdrücklich zu betonen bleibt, dass der umgekehrte Fall, die dezidierte Erfolglosigkeit hermetischer Kunst, die mit erschütternder Konsequenz dem Schema „Des Kaisers neue Kleider“ folgt, keineswegs den wahren Qualitätsbeweis liefert. Hans-Werner Hahn hat in Gotha gestern das literarische Werk Freytags fast nur nebenbei erwähnt, „Soll und Haben“ zum Schlüsselroman ernannt, als wäre dieser Begriff beliebig dehnbar. Franz Mehring war da sehr präzise und genau: „Eine gewisse Periode ihrer Entwicklung (gemeint ist die Bourgeoisie – E. U.) spiegelt sich nirgends so treu wider wie in Freytags historischen, poetischen und politischen Schriften. Es war die Periode von 1850 bis 1870; um ein Vierteljahrhundert hat der Dichter von „Soll und Haben“ die Tage seines Glanzes überlebt.“ Das schließt neue Neugier auf ihn weder speziell noch generell aus. Die Aktivitäten des Vereins „Freunde der Heimatgeschichte Siebleben“, Träger des Jubiläumsjahres, sind ohnehin über jeden Verdacht erhaben. Es gäbe ein unendliches Spektrum dümmerer Vereinsziele, als sie verfolgen, sie verdienen Respekt, Lob und Anerkennung. Auch deswegen endet das Jubiläumsjahr am 16. Juli vor Ort in Sieblebens Kirche.


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