Theodor Fontane in Ilmenau
Am 23. September 1873 schrieb Theodor Fontane seiner Gattin Emilie einen gut gelaunten und humorigen Brief aus Neu-Ruppin. Er zitierte den Dichter Adelbert von Chamisso mit dem Refrain „Es regnet, regnet immer noch.“, um seine Situation vorstellbar zu machen. In Neu-Ruppin ist er, um für die dritte Auflage des ersten Bandes seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ neues Material zu sammeln, denn er will „Die Grafschaft Ruppin“, wie er es nennt, „total umarbeiten“. Als Begleiter hat er den Unternehmer Alexander Gentz (1825 – 1888) an seiner Seite. Der Witz an seinem Zitat besteht darin, dass es den genannten Refrain in dem Chamisso-Gedicht „Der Szekler Landtag“ aus dem Jahr 1831 gar nicht gibt, auf das er sich bezieht. Die Ruppin-Reise dauert vom 16. bis 29. September 1873, Fontane unterbricht sie nur einmal kurz, um am 20. September, einem Sonntag, in Berlin die Premiere von „König Ödipus“ des Sophokles zu sehen. An Emilie schreibt er von Brühsuppe, Schnittbohnen, Hering und Kalbsbraten sowie vom „Wirth“, der 15 Zahnstocher verbrauchte. „Ich empfand wieder ganz die Wonne einem höhren Culturvolk – nach einigen dem „einzigen“ – anzugehören. Schweine sind es und Rüpel, nur dies steht fest.“
Mit Ilmenau hat dies augenscheinlich nichts zu tun. Oder doch. Denn dieser Brief ist ein Beweisstück. Und zwar ein deutlich beweiskräftigeres als das ausgerechnet für das Jahr 1873 sehr spärliche Tagebuch. Dort lesen wir in einer an Goethes „Tag- und Jahreshefte“ erinnernden, kaum anderthalbseitigen Zusammenfassung alles 73er Geschehens von einer im Juli angetretenen Reise nach Groß-Tabarz in Thüringen. „Oft Ausflüge nach Gotha, Reinhardsbrunn und Friedrichroda. Dann mehrtägige Reise nach Schmalkalden, Coburg, Neusaß, Eisenach, Wartburg.“ Warum der Anmerkungsapparat der „Großen Brandenburger Ausgabe“ zu dieser immerhin sieben Wochen dauernden Reise nichts, rein gar nichts, zu sagen hat, entzieht sich meiner Kenntnis, ist aber wohl auf die dürftige Quellenlage zurückzuführen. „Mehrwöchentlicher Besuch erst von Tante Merckel, dann von Frl. v. Rohr. Mit dieser, zum Schluss reizende Fahrt nach Ohrdruf, Stutzhaus (Frau v. Zieten), Schneekopf, Schmücke, Ilmenau; am andern Tage nach Blankenburg, am Chrysopras vorbei, bis Schwarzburg. Gewitter. Emilie und Martha verirren sich im Unwetter im Walde; vollständiges Romankapitel. Am Abend wieder in Ilmenau. Tags drauf nach Arnstadt; neue Abenteuer, die mit einer Ohnmacht schließen.“ Abenteuer in Arnstadt!? Und wir ahnungslos.
Immerhin belegt das Tagebuch somit eine Übernachtung in Ilmenau. Was die Bemerkung „am Chrysopras vorbei“ bedeuten könnte, wäre zum Beispiel eine Anmerkung der Herausgeber wert gewesen, denn es geht nicht um den grünlichen Quarzstein als solchen, sondern um ein Wehr des Namens „Chrysopras-Wehr“ an der Schwarzburger Straße in Bad Blankenburg. Das Wehr in der Schwarza ist heute Eigentum der Thüringer Landesanstalt für Geologie und Umwelt und löste vor reichlich anderthalb Jahren lokalen Medienwirbel aus, weil das unter Denkmalschutz stehende Wasserbauwerk stark gefährdet war. Wenn also Theodor Fontane schlicht „Chrysopras“ schrieb, darf daraus ziemlich direkt auf einen hohen Bekanntheitsgrad schon zu seinen Zeiten geschlossen werden. Was einfach damit zu tun hat, dass der in Blankenburg geborene Schneider Georg Friedrich Danz als Hobby-Mineraloge in Polen auf den Quarz stieß und einen Handel damit begann. In Diensten des Preußenkönig Friedrich II. wurde Danz Bergrat, kehrte 1800 in seine Heimatstadt zurück und suchte dort, vergeblich allerdings, nach Chrysopras. Das Wehr kam so zu einem Namen. Und Fontane zu einer prägnanten Wegmarke auf dem Weg von und nach Ilmenau anno 1873.
An welchen Tagen dieser Reise was genau geschah, wissen wir nicht, wir wissen aber, dass Fontane nach dem uns leider unbekannt gebliebenen Romankapitel zurückkehrte nach Berlin, wo er die Einweihung der Siegessäule, die bis 1938 auf dem Königsplatz vor dem Brandenburger Tor stand, miterlebte. Das Tagebuch indirekt, der Brief an Emilie Fontane aus Neu-Ruppin direkt, beweisen, dass Theodor Fontane auf gar keinen Fall am 26. September 1873 in Ilmenau gewesen sein kann.Das aber behauptet ohne die geringste Quellenangabe dazu die ansonsten höchst verdienstvolle Website www.literaturland-thueringen.de, deren Text weitestgehend identisch ist mit einer Passage des Buches „Das literarische Ilmenau“ von Detlef Ignasiak (quartus Verlag), wo das Datum der Übernachtung aber auffällig fehlt. Da Ignasiak auch als Autor für die Website genannt wird und der Buchtext neuer ist, darf vermutet werden, dass eine Aktualisierung anhand der tatsächlichen Quellenlage bisher nur vergessen wurde. Die oben verwendeten Details zu Bad Blankenburg und seinem Wehr verdanke ich meinem einstigen Journalisten-Kollegen Henry Trefz, auf den zu stoßen ich bei meinen Recherchen wahrlich nicht gerechnet hatte. So wie mir auch ein Zusammenhang Ilmenaus mit Fontane, warum es verschweigen, erst aus einem späten Fontane-Buch sich andeutete.
Wer auch nur ein wenig Fontane-Kenntnis hat, weiß, dass bei ihm vorkommende Örtlichkeiten fast immer eigene Ortskenntnisse zur Voraussetzung haben. Wenn also in der knapp elf Druckseiten umfassenden kleinen Geschichte „Nach der Sommerfrische“, für die der Autor selbst 1880 als Entstehungsjahr angibt, ein Hofrat Gottgetreu mit Gattin nach sechs Wochen Aufenthalt in Ilmenau wieder in die Residenz Berlin zurückkehrt, dann darf nahezu messerscharf auf Ilmenau-Erfahrungen Theodor Fontanes geschlossen werden. Und die wiederum stammen sehr wahrscheinlich eher aus dem Jahr 1867 als aus dem hier schon erörterten 1873. Nur die bereits erwähnte Mathilde von Rohr spielt in beiden Reisejahren eine eigene Rolle. Sie war es, die Fontane neugierig auf Ilmenau machte, schrieb sie ihm doch von Wald, Berg und Quellen, von freundlichen Menschen und, sie kannte ihren Adressaten, von billigen Preisen und setzte ihrer Schilderung gewissermaßen die Krone auf, indem sie vom Vortrag zweier Balladen auf Bergeshöhen berichtete. Fontane antwortete am 4. August 1867, er könne schwerlich vor dem 21. August reisen und dann allenfalls zwei Tage bleiben, er wolle ihr aber nicht zumuten, deswegen eigens länger in Ilmenau zu verweilen.
Fontanes lebenslange Freundschaft mit Mathilde von Rohr, sie lebte vom 9. Juli 1810 bis 16. September 1889, er widmete ihr nach ihrem Tode einen liebevollen biographischen Essay, muss hier ausgeklammert bleiben, beide sahen sich oft in Berlin, er schrieb über ihre Familie in den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“. Erwähnt werden muss aber zwingend, dass sie natürlich auf ihn wartete. Fontane schreibt ihr im genannten Brief, er werde am 17. August seinen Urlaub antreten, seine Frau Emilie treffe am 10. August aus Schlesien wieder in Berlin ein, beide würden die Reise nach Thüringen gemeinsam antreten und zuerst in Kösen Station machen für einige Tage. Kösen liegt, seltsam genug scheinbar, für Theodor Fontane „zehn Meilen vor Ilmenau“. Er meint freilich die deutsche oder Landmeile, und die ist rund siebeneinhalb Kilometer lang, da sieht die Zahlenangabe schon sehr viel nachvollziehbarer aus. „Ich fasse alles Gesagte kurz dahin zusammen: Bleiben Sie ohnehin bis Ende August in Ilmenau, so sehen Sie mich jedenfalls, und ich folge Ihrer bewährten Führung durch Tal und Berg; haben Sie aber in der Mitte des Monats von Ilmenau genug, und dies erscheint mir das natürlichere, so wär`s eine Art Verbrechen, Sie auch nur einen Tag länger dort festhalten zu wollen.“ Es wurde kein Verbrechen, zeigt der nächste Brief.
Der datiert vom 20. August und ist sehr kurz: „Wir wollen übermorgen reisen und hoffen am 22. nachmittags (die Stunde werden Sie besser wissen als ich) in Ilmenau eintreffen. Wir sind beide wohl, auch meine Frau recht munter.“ Noch ohne Ilmenau zu erwähnen, hatte Fontane seiner Gattin seine Reisepläne mitgeteilt: „Von Kösen aus, reist Du entweder zurück, während ich noch ein Stück weitergehe (darüber mündlich) oder, wenn Du Dich bis dahin als reisefähig, reiselustig, reiseliebenswürdig bewährt hast, begleitest Du mich noch ein Eckchen, sei es Weimar, sei es Eisenach und Wartburg.“ Das uns heutigen Lesern merkwürdig erscheinende Anforderungsprofil für die Reisefortsetzung an seine Frau hat eine recht einfache Erklärung. Bei stets knappen Kassen hatte Emilie Fontane immer zuerst die anstehenden Kosten vor Augen, die ihr regelmäßig alle Vorfreude verdarben. Noch sieben Jahre später, vor der ersten und zugleich letzten gemeinsamen Urlaubsreise nach Italien, musste Fontane zuerst diesbezügliche Bedenken ausräumen. Emilies Antwort sagt viel: „Wenn die Summe dazu da ist, dann sollst Du noch nie einen liebenswürdigeren Reisegefährten gehabt haben als mich.“ Am 15. August bestätigt Fontane nochmals: „Was unsere Fahrt gen Thüringen angeht, so bleibt es bei unseren Abmachungen.“ Und zählt auf, was sie mitbringen soll.
Fontanes Tagebuch für das Jahr 1867 können wir, anders als für 1873, detaillierte Angaben zur Thüringen-Reise entnehmen. Er kam am 18. August über Magdeburg und Halle nach Kösen, wo am Abend auch Gattin Emilie eintraf. Was immer es meinte, er hielt fest: „Wunderliche Confusions-Scene.“ Nach drei Tagen in Kösen, die Reiseliebenswürdigkeit hat sich offenbar bewährt, geht es weiter: „Am 22. Abreise – über Weimar, Erfurt, Arnstadt - nach Ilmenau. Hier von Frl. v. Rohr begrüßt. Forellen-Souper. Wir machen die Bekanntschaft von Geh. Regierungsrath Heise nebst Frau und zwei Töchtern. Am 23. Vormittags-Spatziergänge, nach Tisch reizende Fahrt nach Gabelsbach, Kiekelhahn, Hermannstein etc. Am 24. kleine Spatziergänge, Einkäufe; gleich nach Tisch Abreise gemeinschaftlich (bis Arnstadt) mit Frl. v. Rohr. Am Abend des 24. (Sonnabend) Ankunft in Weimar.“ Das Paar trennt sich am 27. August, nachdem es noch gemeinsam Erfurt und Eisenach sah, Fontane besucht Meiningen und fährt dann nach Kissingen, wo er viele Jahre später, 1889, 1890 und 1891 jeweils einige Tage und Wochen verbringen wird. Als schon berühmter Kurgast.
Anders als Bad Kissingen heute hat Ilmenau weder eine Fontane-Straße noch einen mietbaren „Salon Fontane“, Fontane hat kein Gedicht wie sein „Berühmte Männer in Kissingen“ zu Ilmenau hinterlassen. Sein Resümee vom 5. September 1867, in Berlin an Mathilde von Rohr gerichtet, hat dennoch Potential für einen Stadtmarketing-Flyer der Universitätsstadt: „Es war eine sehr schöne Reise, reich an den angenehmsten Eindrücken und Erlebnissen, durch kaum irgendetwas Unschönes oder Widerwärtiges getrübt. Für die schönen Stunden in Ilmenau haben wir Ihnen zu danken. Landschaftlich ist es, nach meinem Geschmack, die Krone meines diesmaligen Sommerausfluges geblieben. Der Blick vom Gabelsbach aus zählt überhaupt zu dem Schönsten, das ich gesehn.“ Seinem Hofrat Gottgetreu überlässt Theodor Fontane den für Ilmenau unvermeidlichen Goethe-Hinweis: „Ich war ein andrer Mensch, und nicht ein einziges Mal hab ich von dem herrlichen Kickelhahn-Kamm in das Waldesmeer und die Waldesruhe niedergeblickt, ohne die Schönheit und Tiefe der dort oben eingerahmten Dichterzeilen an mir selber empfunden zu haben.“ Worum es sonst noch geht in „Nach der Sommerfrische“, soll wärmstens zum Nachlesen empfohlen sein in Fontanes zu Unrecht weitestgehend vergessenem späten Büchlein „Von, vor und nach der Reise“.