Echter Herzog, starke Texte

Perfekt informiert war die Presseagentur nicht, denn das Großherzogpaar aus Luxemburg fuhr keineswegs nur in der Kutsche an der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar vorbei, Henri von Luxemburg und Gattin Maria Teresa kamen auch herein. Sie saßen in der ersten Reihe, während ihre drei Landeskinder Anise Koltz, Jean Krier und Guy Helminger vor geladenem und erlesenem Publikum im Kubus aus ihren Werken vortrugen. Ich kann es bezeugen, denn ich saß in  Block B, Reihe 6, Platz 3. Es war mein erster Großherzog und es werden nicht mehr viele folgen, denn es gibt einfach zu wenige von ihnen in unserer schönen modernen Welt und mich gibt es vollends nur ein einziges Mal, die Wahrscheinlichkeit solcher Zusammentreffen geht also sehr hart gegen Null.

Man musste sehr zeitig da sein, was den großen Vorteil hatte, Einblicke zu bieten, die nicht an jeder Ecke zu haben sind. Sicherheit zum Beispiel. Große Mengen Polizei waren aufgeboten und die Damen und Herren in den dunkelblauen Uniformen zeigten sich freundlich. Wo sie gefragt wurden, gaben sie Auskunft, wo sie standen, erweckten sie keineswegs den Eindruck, in jedem Passanten den potentiellen Herzogsattentäter zu vermuten. Und die ersten rollten schon in ihren Mannschaftswagen wieder von hinnen, während im Kubus noch der anschließende Empfang lief. Die Bibliothek selbst wimmelte von Sicherheitskräften meist älteren Jahrgangs, und viele Blicke wandten sich nach oben, als Jean Krier als dritter im Lesebunde mit dem Vers schloss „Die auf der Galerie lachen sich krumm.“ Oben aber wurde nicht gelacht.

In der Bibliothek wickelte geballte Freundlichkeit alles ab. Alle, alle waren so unendlich freundlich, entgegenkommend, hilfsbereit. Man bekam eine gedruckte Zutrittsberechtigung, deren Double auf dem Platz lag, man wurde zum Platz geleitet wie ein Oligarch auf Spendenreise, man hatte außerdem anhand der Double auf den Sitzflächen die Möglichkeit, seine Nachbarn namentlich kennenzulernen. Neben mir beispielsweise saß Siegfried Nucke, den ich mittels Lexikons „Thüringer Autoren der Gegenwart“ als Angehörigen eines mir sehr sympathischen Jahrgangs identifizierte, während er beim Bödecker-Kreis einfach nur so geboren wurde. Er belichtete die Szenerie, was ich nicht tat. Meine dicke alte Nikon F 801 wollte ich einfach nicht herum schleppen, weiter in die fotografische Moderne bin ich nicht vorgestoßen bisher.

Stiftungspräsident Hellmut Seemann begrüßte, die Hoheiten begrüßten ihre Landeskinder und Germaine Goetzinger, die seit 1995 das Literaturarchiv in Mersch leitet, bis 2000 Vorsitzende des Luxemburger Germanistenverbandes war, führte die Hörer prägnant nicht nur mit einem Kurzkurs in die Literatur ihres kleinen Landes ein, sie stellte auch die drei Autor/inn/en des Nachmittags mit knappen, werbenden Charakteristiken vor. Ich will gar nicht erst lange herumreden:  Mir war nur der Name Guy Helminger geläufig. Der als jüngster, er wird im kommenden Jahr erst 50, eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Theater“ las, während Anise Koltz (Jahrgang 1928) und Jean Krier (Jahrgang 1949) Gedichte vortrugen. Eines der knappsten Gedichte von Anise Koltz geht so: „Gestern hatten die Menschen Angst vor der Zukunft.// Heute hat die Zukunft Angst vor den Menschen.“ Mit solchen Zeilen hält man sicher nicht tagelang alle Medien und alle Schwätzer in Bewegung, solche Zeilen aber haben mehr Substanz und mehr Gewicht als vieles, was angeblich auch unbedingt gesagt werden musste. Ich habe mir sofort ein Bändchen von Anise Koltz erworben, sie chrieb mir eine kleine Widmung hinein.

Der Beifall nach jeder Lesung, schien mir, war kein Höflichkeitsbeifall, sondern galt tatsächlich allem Gehörten. Es wären andere Textauswahlen denkbar gewesen, so aber einte die drei Luxemburger der dankbar angenommene Vorsatz, verständlich sein zu wollen. Nur wer Lyriklesungen kennt, deren Macher sich schämen, wenn sie keine Ratlosigkeit hinterlassen haben, weiß das wohl zu würdigen und zu schätzen. Germaine Goetzinger benutzte in ihren Charakteristiken die Formulierung „resolut mehrsprachig“ als Kennzeichnung Luxemburger Literatur. Ich habe die schöne Prägung in mein kleines Notizbüchlein aufgenommen. Bei Guy Helminger ging es um eine Familie, die nicht weniger als 50mal „Maria Stuart“ sieht, immer mit beiden Kindern, immer am Theaterausgang wartet, nie etwas sagt, nie ein Autogramm will. Was für eine schöne Geschichte mit überraschend schwarzem Finale.

Jean Kriers Gedichte sind deutlich länger als die von Anise Koltz, er las melodiös und knüpfte mit einem Woyzeck-Text wie ein Entertainer bei Helminger an, bei dem Büchner auch eine Rolle spielte. Das angekündigte Wort des Großherzogs nach der Lesung entfiel. Das Protokoll drängte und so war Christine Lieberknecht mit ihren Staatsgästen schon entschwunden, ehe es alle wirklich bemerkt hatten. Kann sein, dass auf „Luxemburg in Weimar“ in näherer Zukunft einmal „Weimar in Luxemburg“ folgt. Der Stiftungspräsident gab für diesen Tag ausnahmsweise der Bibliothek den Namen  „Großherzogliche“ zurück. Im Scherz natürlich. Die hinter mir sitzenden Mitglieder der Luxemburger Delegation erinnerten mein eher ungeübtes Ohr mit ihrer Sprechweise an Köln, die vor mir sitzenden älteren Damen kommentierten die Verhaltensmaßregeln des Protokolls mit: Wie in der Kirche! Wie früher in der Schule! Schön, wenn einem nicht einfällt: Wie im Gericht! Ein Zeichen, dass man sich dort nicht auskennt. Es gibt unsympathischere Ahnungslosigkeiten.


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