Die Ungleichheit berühmter Brüder

1957 sandte Arnold Zweig dem lieben Robert Neumann zu dessen sechzigsten Geburtstag einen Gruß. Er erinnerte sich der alten Zeiten früher, als die eigenen Augen noch zum Lesen taugten und an den dicken Neumann-Roman „Die Sintflut“. Als er den zu sich genommen hatte, schrieb Zweig kulinarisch, „dachte ich: zwei Manns, zwei Zweigs, zwei Franks und jetzt zwei Neumanns. Vier Paare, von denen der berühmtere Zwilling auch der schwächere ist. Denn damals, vor fünfundzwanzig Jahren, galt Thomas mehr als Heinrich, Bruno mehr als Leonhard, Stefan mehr als Arnold und Alfred mehr als Robert.“ Zwei Manns also auch, Thomas Mann, Jahrgang 1875, Heinrich Mann, Jahrgang 1871, diesenfalls in Zweigs Perspektive, der jüngere und berühmtere zugleich auch der schlechtere. Wir ahnen, wie tief es Zweig verletzt haben muss, in der öffentlichen Anerkennung hinter Stefan Zweig zurückstehen zu müssen, mit dem er weder verwandt noch verschwägert war. So tief, dass der Glogauer Arnold sich eine seltsame Reihe der Leidensgenossen erschuf, mit deren Schicksal er sich wenigstens teilweise verbunden wähnte. Thomas und Heinrich Mann eben auch.

Helmut Koopmann hat sich in seinem Vortrag in der Seniorenakademie der TU Ilmenau mit Ranglistenfragen der beiden echten Brüder Thomas und Heinrich Mann nicht befasst. Er hat sich, dem eigenen Buchtitel folgend, mit der Ungleichheit der Brüder befasst und dabei, die schiere Stoffmasse lässt gar keine andere Wahl, in gut hundert Minuten ununterbrochener Redezeit dennoch beinahe mehr ausgelassen als erwähnt. So beschwerten sich im Gespräch untereinander nach dem Schlussbeifall zwei Partei-Veteranen aus den DDR-Jahren der Hochschule, dass „der wichtigste Satz von Thomas Mann“ nicht gefallen sei. Für sie heißt der bis heute immer noch „Der Antikommunismus ist die Grundtorheit unserer Epoche.“ Man kann nicht einmal streiten darüber, ob das der wichtigste Satz Manns sei, die Wertung ist einfach nur albern. Zumal der Satz ja wie in Zeiten des „ideologischen Klassenkampfes“ vollkommen aus seinem Zusammenhang gerissen und außerdem als Lob des Kommunismus missverstanden wurde und wird.

Einer der beiden Gesprächspartner pflichtete dem anderen bei und ergänzte, bei einem von dort könne man ja nichts anderes erwarten. Helmut Koopmann, der Mann von dort, sprich aus Augsburg, war derweil im Dialog mit zwei begeisterten Hörerinnen, die ihm schon am Vortag zu Goethes Tagebüchern gelauscht hatten. Es hätte ihn diese erstaunliche Sicht vielleicht verwundert, die vor jedem beliebigen Thema immer erst die ideologische Zuordnung des Gegenstandes klärt, ehe sie sich diesem selbst zuwendet. Auch daran ist letztlich die DDR zugrunde gegangen, an der unfassbaren Verbohrtheit ihrer Betonköpfe, die nicht einmal dadurch besser wird, wenn der Nachweis gelingt, sie seien nicht die letzten ihrer Art gewesen. Es darf nicht erwartet werden, dass ein Literaturhistoriker alter Schule, der sein akademisches Leben in Bonn und Augsburg verbrachte, an seinen Stoffen zuerst das wichtig findet, was den „gelernten DDR-Bürger“ aus diesem und jenem Grund heute interessiert. Schon gar nicht reist er an, dessen uralte Vorurteile aus berufenem Munde zu bestätigen. Hörer, die das wollen, missverstehen außerdem das Akademie-Anliegen.

Koopmann nahm Fotos zum symbolträchtigen Einstieg für das Verhältnis der Brüder: Heinrich schaut auf Thomas von oben herab, Thomas schaut an Heinrich vorbei. Es gibt nur wenige Fotos, auf denen beide gleichzeitig zu sehen sind, einige aus Kinderjahren, später seltene Zufallsmomente. Das mit der Begrüßungsszene in New York im Exil, wo Heinrich viel später anlangte als Thomas und nie heimisch wurde. Um die Dimensionen zu verdeutlichen, nannte der Emeritus einige wenige Zahlen. Thomas Mann ließ sich in Pacific Palisades sein Haus für 35.000 Dollar bauen. 5000 Dollar sei das Jahresgehalt für Professoren gewesen damals, 19 Dollar der Wochenlohn für Emigranten, so sie denn Lohnarbeit fanden. Es ging Thomas also sehr gut, Heinrich also sehr schlecht.

Der Vortrag hielt sich sehr lange bei den frühen Jahren der Brüder auf, ging milde mit Thomas Manns Ansichten aus dem Umfeld der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ um und ignorierte vollständig den erhaltenen Briefwechsel der Brüder. Das ist insofern bemerkenswert, als Helmut Koopmann am Vorabend bei Gelegenheit der Goethe-Tagebücher es ausdrücklich als Versäumnis der Forschung deklarierte, sich um diese Textsorte zu wenig gekümmert zu haben. Zu Thomas und Heinrich Mann als den ungleichen Brüdern aber, da operierte Helmut Koopmann wie die kritisierten Kollegen bei Goethe: Er konzentrierte sich auf die Werke, die im engeren Sinn als solche gelten, vor allem also die Romane, dann schon, weit abgeschlagen, noch die Novellen, ganz selten nur noch die Essays. So nimmt es nicht wunder, dass in der Darstellung des phasenweise den Hass berührenden Bruderzwistes die Brüche zum Guten, jeweils von Krankheiten eines der Brüder ausgelöst, gar keine Erwähnung fanden. Dafür aber hörten die Anwesenden höchst eingehende und interessante Details aus den Romanen, die jeweils auf die Vorleistung des Bruders reagierten. Koopmann führte Zitate vor, Anspielungen, Polemiken, die bei Heinrich Mann beispielsweise in nicht weniger als vier Romanen versteckt sind, die auf die „Buddenbrooks“ von Bruder Thomas Bezug nehmen.

Eine Vorlesung, die in des Wortes strenger Bedeutung eine solche ist, führt an einem Freitagnachmittag in Koopmanns Länge auf alle Fälle an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit seiner gutwilligen Hörer. Die wachsende Unruhe zeigte es, der ausgearbeitete Text aber ist eben nicht flexibel genug, wie eine freie Rede zu reagieren. Was über die Qualität des Textes selbstverständlich nichts besagt. Koopmanns Redetexte sind druckreif, das ist ihr Vorzug und zugleich ihre Tücke. Es wäre außerdem ein Minimum an Editionsgeschichte der Romane Heinrich Manns vonnöten gewesen, denn seine Aussagen zu den späten, angeblich nahezu unbekannten Romanen Heinrich Manns lassen sich für die DDR einfach nicht verifizieren. Ignoriert wurde Heinrich Mann bis in die jüngste Vergangenheit im Westen, im Osten gab es eine sehr große, in hohen Auflagen erschienene Werkausgabe mit allen Romanen. Ich habe noch als Goetheschüler 1971 zum hundertsten Geburtstag Heinrich Manns eine große Wandzeitung mit kleiner Ausstellung gestaltet. Und der Roman „Der Atem“, der in Koopmanns Sicht der brüderlichen Beziehung ein spätes Denkmal setzt, erschien schon 1968 innerhalb der Werkausgabe als Band 15 in DDR-üblich hoher Auflage. Das aktuelle Interesse an den Manns rührt nicht zuletzt von den Filmen her, die von Heinrich Breloer und anderen in jüngster Vergangenheit realisiert wurden. Helmut Koopmann hätte mit einem Satz über Heinrich Manns letzte Partnerin, etwa: Das ist die, die von Veronika Ferres gespielt wurde, an die Erfahrungen seiner Hörer anknüpfen können. Müssen freilich nicht.


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