Theodor Fontane: Kissingen, Ende August
Wer es unternähme, alles, was Fontane zu, über, von und aus Bad Kissingen geschrieben hat, zu einem Buch zu versammeln, wäre nicht schlecht beraten, mit diesem Feuilleton zu beginnen. Es eine Reportage zu nennen, wäre auch kein schwerer Frevel. In den Augen von Fach-Fontanologen ist mehrheitlich ohnehin alles, was nicht Roman, allenfalls noch „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ ist, Neben-, Seiten- oder Hinführ-Werk zum Eigentlichen und niemand will auch nur erwägen, dass eine Einteilung in eigentliches und damit automatisch so zu sehendes uneigentliches Werk ein Humbug sondergleichen ist. Ohnegleichen, oder wie Fontane selbst schreibt in eben diesem Text: Sanspareil. Die Goethe-Philologie leidet seit 200 Jahren darunter, dass immer, wenn es um den Steine-Sammler, den Vulkantheoretiker, der Urpflanzensucher, noch mehr aber um den Straßenbauer, der Bergbaubeauftragten geht, ein Bedauern durch die Texte rauscht, was der „Geheime Rath“ alles hätte dichten können in dieser Zeit: als wäre alles andere vergeudete Zeit gewesen. Die Fontane-Philologie hält sich an diese Vorlage und das mit schlechten Gründen. Man kann nicht 60 Jahre eines Lebens, fast ein Leben, streichen, nur um den Mythos des „alten Fontane“ fortzuschreiben. Der eingangs erwogene Versuch ist übrigens unternommen worden: ein Fehlschlag.
Der Fehlschlag hat einen Titel: „Eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel …“ und einen Untertitel: „Theodor Fontane, Bad Kissingen und der Deutsche Krieg von 1866“, erschienen als „Kissinger Heft 4“ im Verlag der Stadt Bad Kissingen 2001, Verfasser Ferdinand Schlingensiepen. Dieser Theologe und Fontane-Liebhaber, wie er anderwärts benannt ist, Jahrgang 1929, hat sich Vollständigkeit zwar vorgenommen, ist seinem eigenen Vorhaben aber nicht annähernd gerecht geworden. Und das betrifft am ärgerlichsten ausgerechnet jenen ersten, jenen authentischsten Text zu Kissingen, den Theodor Fontane je schrieb. Er schrieb ihn wie ein richtig guter Journalist: locker und launig, humorig, er steht keinem der früheren und späteren großen Feuilletonisten nach, vor allem aber schrieb er ihn unmittelbar nach dem Erlebnis. Das zweite Ärgernis im genannten Buch: der Autor datiert den Text falsch, denn „Kissingen, Ende August“ erschien keineswegs am 1. September in der Beilage der „Kreuzzeitung“, wie angegeben, sondern erst genau 14 Tage später als zweiter Teil der nur zweiteiligen Kleinst-Serie „Aus Thüringen“. Noch der überaus wohlwollende Kritiker des Buches in den Fontane Blättern, Ausgabe 74, 2002, übernimmt ohne Bedenken (oder ohne besseres Wissen?) das falsche Datum. Wirklich schlimm aber ist die Verstümmelung, die Ferdinand Schlingensiepen dem Feuilleton antat. Platzgründe lassen sich dafür angesichts der Kürze des Werks kaum glaubhaft anführen, es kann aber gezeigt werden, wie Ressentiment aktiv wurde.
Zum Faktischen. Fontane notiert im Tagebuch dies: „Am 27. Abschied auf dem Bahnhofe. Emilie geht über Kösen, wo sie noch 4 Tage bleibt, nach Berlin zurück; ich nach Meiningen. Ankunft etwa 4 Uhr. „Sächsischer Hof“. Am 28. um 11 Uhr Vormittags Abfahrt mit der Post nach Kissingen: zuletzt über Münnerstadt, Nüdlingen, Winkels. Ankunft 6 Uhr. Logis in einer Privatwohnung; gegessen im Sächsischen Hof. Am 29. in die Stadt, Kurgarten, die Brücken über die Fränkische Saale, Zeichnungen, Notizen gemacht. Zum Diner. Kaffe getrunken im Kurgarten. Um 5 zum Kapellenkirchner Caspar Betzer auf den Kissinger Kirchhof. Allerhand Notizen gemacht. Der Eisenbahndirektor aus Glogau (Freund von Otto Fontane) Spatziergang mit Caspar Betzer auf das Schlachtfeld hinaus bis Winkels und zum Sinnberg. Am 30. früh in den Kurgarten. Nach Haus; Notizen gemacht; die Mainfeldzug-Schlachtfelder, namentlich das Terrain von Würzburg noch einmal durchstudiert. Zur Table d'hote in den „Sächsischen Hof“. Nachmittags auf die „Bodenlaube“; hier oben eine lange Correspondenz für die Zeitung geschrieben. Erst bei Dunkelwerden zurück. Gelesen. Gepackt. Am 31. mit der Post über Hammelburg nach Lohr“. Zeitlich ist damit der komplette Aufenthalt umrissen, entscheidende Namen sind genannt, die entscheidenden Örtlichkeiten auch. Das Feuilleton ist augenscheinlich voll dichten Erlebens.
Es ist hilfreich zu wissen, dass die Table d´hôte für Fontane ärgerlich war, wo er auch logierte und diese Form der Verköstigung über sich ergehen lassen musste. Gern und regelmäßig, kritisch, satirisch, verärgert schrieb er darüber. Hier also, in „Kissingen, Ende August“ führt er Lesern der Kreuzzeitung in deftiger Bildlichkeit vor, wie es geht, beschränkt sich in der Schilderung auf die ihm gegenüber sitzenden Personen. „Die Kissinger Brunnenpromenade hat mir wenig imponiert, desto mehr, freilich in einem anderen Sinne, die Table d´hôte. Ich hätte nie geglaubt, dass eine Gesamtheit von Menschen (einzelne mit sogenanntem „gesegneten Appetit“ findet man überall) so viel essen können.“ Den Übergang zur eigentlichen Schilderung hat Ferdinand Schlingensiepen gestrichen: „Schon gestern fiel es mir auf. Ich beschloss, heute schärfer zuzusehen. Und so tat ich. Die auserkorenen Opfer meiner Beobachtung waren natürlich mein Gegenüber und seine Nachbaren rechts und links.“ Noch könnte man meinen, es solle Belangloses entfallen, weil Wichtiges Platz brauche. Doch schon nach der folgenden Passage ist abrupt Schluss: „Mein Visavis, untersetzt, geschwollen, mit fehlenden Augenbrauen und Stahlbrille, machte den Eindruck eines Berliner Rechnungsrats. Er aß: zweimal Suppe, drei Rindfleisch mit Zubehör, ein Wirsingkohl mit Gulasch vom Kalb und Schinkenbeilage, drei Rinderbraten, eine Mehlspeise.“
Dabei geht es so hübsch weiter: „Dieser supponierte Rechnungsrat war aber keineswegs der Sanspareil. Ihm zur Rechten saß ein schmächtiger Magdeburger Kaufmann, jung, nervenverbraucht, mit einer blonden, hahnenkammartigen Hochfrisur. Der ganze Bau sah aus wie auf schlechten Marinebildern eine steife Welle, die eben umkippen will. Dieser blasse Blonde schlug seinen Nachbarn noch um ein Stück Rinderbraten. Dabei verschmähte er das Ratenprinzip, das allmähliche Heranziehen von Kraft und Stoff. Er operierte kühn und sicher zugleich; kein „nach und nach“; ganz ist der Mann. Als er gegen den Braten vorging (vier aufgetürmte Schnitten), sah es aus, als schnitte er eine Torte an.“ Man achte auf die Feinheiten: alles klingt nach militärischer Operation, nach Schlacht. Neckisch fragt Fontane und er antwortet sich auch gleich: „Soll ich nun schließlich auch noch von dem linken Nachbarn erzählen? – Ach, ich muss.“ Immer klarer wird: Hier wird nicht ein Einzelner durch den Kakao gezogen, hier geht es um Gruppenverhalten. Und der Beobachter hat, wenig später, auch eine Erklärung parat: „Von diesen Essleistungen sagt man mir, sie gehörten zur Kur. Mag sein. Aber wie die Wirte bestehen, bleibt ein Rätsel. Jeder Brunnengast unterzieht sich einer Banting-Kur extra.“ Was ist eine Banting-Kur? Die Suchmaschine anwerfen!
Ferdinand Schlingensiepen wollte seine Leser nicht im Dunkeln tappen lassen und erklärte deshalb diese Stelle so: „Humoristische Anspielung auf die von dem englischen Kaufmann William Banting erfundene und 1863 publizierte „Entfettungskur“. Früher hätte man im Stil eines Sender-Jerewan-Witzes gesagt: Im Prinzip ja: Nur war William Banting (1797 – 1878) kein Kaufmann, sondern Bestattungsunternehmer, bis 1928 hatte das Haus das Privileg, sogar Mitglieder der königlichen Familie unter die Erde zu bringen. Erfunden hat er die Kur auch nicht, sondern nach den Vorgaben seines Arztes William Harvey auf sich selbst erfolgreich angewendet. Publik gemacht hat er es in einem „Offenen Brief über Korpulenz, an das Gesamte Publikum gerichtet“. Banting aß vor allem Fleisch, dafür kaum Kohlehydrate, man nennt es „Low Carb Diät“. Was der Fontane-Liebhaber aus Düsseldorf humoristisch nennt, wäre mit sarkastisch präziser beschrieben. Noch heute kann man überall da, wo „All inclusive“ draufsteht oder gemeint ist, dem Phänomen zuschauen, das schon den noch jungen alten Fontane erheiterte. Auch in Bad Kissingen, ich erlebe und genieße es seit etlichen Jahren selbst und es ist eben kein Kissingen-Phänomen, nur dort offenbar eben schon anno 1867 zu erleben gewesen. Was aber war nun mit den anderen im „Sächsischen Hof“, in dem Fontane, siehe oben, seine Hauptmahlzeit zweimal, wie ausdrücklich erwähnt, vielleicht gar dreimal, einnahm?
„Hier mischen sich wehmütige Betrachtungen ein. Persönlich edel und haltungsvoll, scheiterte er doch an der Haltung seiner Kinder, Sohn und Tochter in den hoffnungsvollen Jahren zwischen zwölf und vierzehn. In jener bangen Pause, die zwischen dem Braten und der Mehlspeise liegt, sah ich den Vater plötzlich sich erheben; er verschwand. Das Warum sollte bald offenbar werden. Eine Minute später ragten zwei Ararats über den Rand zweier Teller fort; ringsum ein rotes Meer. Es war ersichtlich, der Vater hatte nicht Zeuge dieser Taten sein wollen. Um etwas zu tun, das zwischen Anstands- und Vatergefühl glücklich vermittelte, hatte er die eigene Portion großzügig zum Opfer gebracht.“ Warum lässt einer das aus, der alles über Kissingen in seinem Buch haben zu wollen vorgibt, was Fontane hinterließ? Es hilft, weitere Streichungen zu analysieren. Da wäre etwa dieser von Fontane gar in Klammern gesetzte Einschub: „(Beiläufig fand ich in der Liste wörtlich folgendes: Duchess of Buccleuch, Herzogin.)“ Die Rede ist von der Kurliste, die man auch heute noch im Stadtarchiv Bad Kissingen einsehen kann. Fontane macht sich zweifellos lustig über Menschen, die nicht wissen, dass Duchess of Buccleuch nichts anderes heißt als Herzogin von Buccleuch. Und die war tatsächlich wenige Tage vor dem Kriegsberichter Fontane eingetroffen.
Ihr kompletter Name ist Charlotte Anne Montagu-Scott, Duchess of Buccleuch, sie wurde fast 84 Jahre alt, geboren am 10. April 1811, gestorben am 18. März 1895. Man könnte die Streichung also deuten als Versuch, den Hinweis auf eine mehr als hundert Jahre alte Fehlleistung der Kissinger Kurbehörden zu unterdrücken. Dagegen setze ich vorsorglich eine eigene Entdeckung: 1889 „vergaß“ die Behörde die Ankunft des Kurgastes Theodor Fontane am 27. Juni, vermeldete erst das Eintreffen seiner Gattin Emilie eine Woche später. Vermutlicher Grund: die Ankunft der Kaiserin Auguste Viktoria mit ihren Kindern am 28. Juni hatte ganz Kissingen so in Aufregung versetzt, dass einer wie Fontane übersehen wurde, was 1890 und 1891 dann nicht wieder geschah. Aber das ist eine andere Geschichte. „Kissingen, Ende August“ ist natürlich nicht nur die lustvolle Karikatur der Table d´hôte im „Sächsischen Hof“, den ein gewisser Donat Fuss in der Salinenstraße führte. Er war von 1847 bis 1854, also sieben Jahre lang, sogar Bürgermeister von Kissingen. Man findet ihn beispielsweise als laufende Nummer 246 im Kissinger Adressbuch von 1838, gedruckt in Würzburg bei Carl Anton Zürn, er vermietete neben 5 „Badzimmern“ 36 Zimmer. „Kissingen, Ende August“ ist vor allem auch ein knappes Porträt der berühmten Kurstadt ein Jahr nach dem 10. Juli 1866.
Im Kriegsbuch, für das Theodor Fontane während seines Kurzaufenthaltes in Kissingen intensiv recherchierte, sind dem für Preußen und seine Verbündeten siegreichen Gefecht alles in allem, in meiner Ausgabe, 50 von Ludwig Burger illustrierte Seiten gewidmet. Das zweibändige Werk „Der deutsche Krieg von 1866“ umfasst insgesamt mehr als 1100 Seiten. Kissingen hat im Band II Platz gefunden. Um alles, was ich hier gegen das Kissinger Heft 4 von Ferdinand Schlingensiepen einwende, nicht ohne Kontext zu lassen, verweise ich darauf, dass Hans-Heinrich Reuter, Autor einer bis heute immer wieder zu Rate gezogenen Fontane-Biographie von ebenfalls 1100 Seiten in zwei Bänden, dem Fontane-Buch ganze fünfeinhalb Zeilen widmet, Kissingen ist bei ihm auf den genannten 1100 Seiten ein einziges Mal erwähnt: als Ort, von dem aus Fontane nach Bayreuth reiste. Freilich entschuldigt eine Fehlleistung keine andere, der ambitionierte Amateur, der sich unter Experten mischt, darf nicht erwarten, dass ihm alles nachgesehen wird. Im Feuilleton aber beginnt Fontane so: „Seit zwei Tagen bin ich in Kissingen. Der 10. Juli 1866 hat die hübsche Stadt nur etwa wie ein Streifschuss getroffen.“ Und erklärt es so: „Der Kampf um Kissingen, zwei, drei Punkte abgerechnet, war ein Kampf in den Bergen, die die Stadt von allen Seiten einschließen, und die zahlreichen Kugelspuren am „Bayerischen Hof“ und den angrenzenden Hotels (dicht an der steinernen Brücke) zeigen eigentlich nur, wieviel bayerische Kugeln ihr Ziel verfehlten.“
Der bayerische Lokalpatriot mag diese Beschreibung missgelaunt registrieren, zumal Fontane nach der Metapher vom Streifschuss sofort zu einem Bilderbogen übergeht, den er am Markt in einem Buchhändlerschaufenster sah und einem Künstler zuordnet, der seine Heimat südlich der Mainlinie haben muss. Zitat Fontane: „Im Hintergrunde wimmelt es zwar von Pickelhauben; nach vorn zu aber kann das preußische Dunkelblau gegen das bayerische Hellblau nirgend aufkommen.“ Ganz ähnlich zeigt es jenes reproduzierte kleine Bild, das man heute am Eingang zum Kapellenfriedhof für Touristen findet, auch Fontane ist da zitiert, freilich nicht sein kritischer Hinweis. Fontane hat den zitierten Satz so beendet: „und vergebens ringt Dreyse gegen Podewils.“ Das ist im Kissinger Heft gestrichen, obwohl es eine für den gesamten Krieg von 1866 wie den davor gegen Dänemark und den danach gegen Frankreich entscheidende Tatsache knapp zur Sprache bringt. Dreyse ist der Name des modernen preußischen Zündnadelgewehrs, mit dem man aus viel größerer Entfernung schon recht sicher treffen konnte als mit den Podewils, den guten alten Vorderladern der jeweiligen Gegner Preußens. Weiter Fontane: „Keine dieser Hotelfronten, von denen einige allerdings aussehen wie durchlöcherte Kompaniescheiben, ist bis jetzt abgeputzt worden; man hat ihnen aus geschäftlichen Rücksichten ihre Ehrenmale gelassen. Wer 1867 nach Kissingen ging, verlangte eben nicht bloß eine Anzahl Brunnenbecher, sondern auch eine verwandte Anzahl Kugelspuren.“
Die nächste Streichung Ferdinand Schlingensiepens offenbart, was ihn substantiell an diesem Fontane stört. Bei dem steht: „Es ist möglich, dass ein Wink der Badedirektion im Hintergrunde stand. Das nächste Frühjahr wird aber wohl mit Mörtel und Farbe über die historischen Erinnerungen hingehen.“ Bis heute gibt es in Kissingen zwar einen „Fontane-Salon“, mietbar für Veranstaltungen, aber zum Beispiel kein Schild da, wo Fontane immerhin ein rundes Vierteljahr seines Lebens verbrachte, eine Fontanestraße auch nicht. Es darf nicht sein, soll das heißen, dass eine Kurdirektion historische Erinnerungen mit materiellen Motiven verknüpft? Man könnte das Thema gerade 2019, im Fontane-Jahr, vertiefen: Bismarck hat eine Sonderausstellung, Fontane nicht, der verschlungene Bezug der beiden Männer gerade über die Verknüpfung über Kissingen wäre eine museumspädagogisch moderne Exposition wert gewesen (was nicht ist, kann immer noch werden). „Wirklich gekämpft wurde am Friedhofe, an der Ostseite der Stadt, dem Dorfe Winkels zu.“ Auch hier folgen knappe Streichungen im Kissinger Heft, weniger relevant, ärgerlich aber alle. „Kissingen, auf kurze Tage ein historischer Ort, ist wieder Kurort und nichts weiter.“ In „Der deutsche Krieg von 1866“ sind der Kampf auf dem Friedhof und das Bild des Friedhofes am 31. August 1867 ausführlich dargestellt, im Feuilleton widmet sich Fontane der Kissinger Gegenwart.
Und natürlich kennt er auch das Wasser aus der Quelle, deren Name bis heute der bekannteste unter allen Kissinger Quellenamen ist: Rakoczy, gewählt nach jenem ungarischen Fürsten, den man jetzt als Plastik sitzenderweise auf der Kurgartenstraße findet. Alljährlich am letzten Juli-Wochenende feiert Bad Kissingen das Rakoczy-Fest, auf dem Pin für 2019 war Fontane zu sehen. Der schrieb in „Kissingen, Ende August“: „Es schmeckt vorzüglich (ähnlich wie Seefische riechen); was aber schließlich am besten schmeckt, ist doch immer wieder der Kaffee, der folgt.“ Während seiner Brunnenpromenade hat Fontane getan, was seines Amtes war: beobachtet, gesehen: „Dieselbe Wahrnehmung, die ich seit einer Reihe von Jahren in Bädern und Kurorten gemacht habe, drängte sich mir auch hier wieder auf: eine tiefe Kluft nämlich zwischen der Badeliste und dem Badepublikum. Überfliegt man die Badeliste, so kriegt man ein Zittern, wie wenn man zu Hofe geladen ist. Mit einem russischen Fürsten fängt sie an und mit einer englischen Herzogin hört sie auf.“ Begegnet ist er diesen Herrschaften selbst nicht, dafür aber erkennt er: „Titel und Vermögen sind da, aber die Persönlichkeit reicht an beides nicht heran. Wenigstens erscheint es mir so. Ich weiß auch nicht, woran es liegt.“ Fast hinterhältig stellt er Vermutungen an, die gar keine sind.
„Ist es, dass Morgenfrühe und Brunnenluft eine andere Beleuchtung geben als der Salon? Liegt es daran, dass Geschwätz und Manieren, die man sich unterm Kristall-Lustre gefallen lässt, die Nachbarschaft der Natur nicht ertragen können? Oder – und ich fürchte, dass dies das Richtige ist – haben die Bäder aufgehört, das Rendezvous der wirklich vornehmen Gesellschaft zu sein? Jedenfalls, wenn diese da ist, hält sie sich zurück. Und sie tut recht daran.“ Ein Lobgesang auf Bad Kissingen Ende August 1867 würde anders klingen. Und vermutlich genau deshalb enthält das Kissinger Heft 4 die folgende halbe Druckseite des Originals vom 15. September 1867 nicht. Was gemeinsamen mit der schon dokumentierten zweiten Großstreichung die Wiedergabe im Buch „Eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel …“ im Kern wertlos macht. Dabei ist wiederum mit Genuss lesbar, was Fontane beschrieben hat: „Weniger verwitterte Militärs und ein paar junge Ladies in roten Matrosenjacken abgerechnet, die ihren weißen Spitz an einer roten Schnur kokett durch die Promenadengänge führen, habe ich hier nichts Vornehmes gesehen, als etwa ein halbes Dutzend ältere Herren mit Ponceau-Nasen. An solchen Nasen kann man nun hier in Kissingen die merkwürdigsten Studien machen.“ Man darf Ponceau-Nasen vielleicht als Knollen-Nasen sehen.
Fontane entwirft sogleich eine ganz eigene Nasen-Typologie: „Der mildeste Grad ist der, wo die Bezeichnung „Ponceau-Nase“ einfach durch die Farbe gerechtfertigt wird. Bald aber - und dies ist der zweite Grad – entwickelt sich dieselbe auch zu einer besonderen Formspezies; die allgemeine Rundung wird Prinzip, bis endlich, verzeihen Sie, die Doppelknolle geboren wird. Über die Schönheitsansprüche dieser letzteren Form ist alle Welt einig; niemand aber hat vielleicht bis jetzt darauf aufmerksam gemacht, dass diese Nasen etwas entschieden Distinguiertes haben und gleichsam nur eine andere Erscheinungsform der hochvornehmen Gicht sind. Ich mache diese Bemerkung in allem Ernste. Wer sich der übrigens lohnenden Mühe unterziehen will, den Feldmarschall im Berliner Kadettenkorps zu besuchen, kann sich mit Leichtigkeit überzeugen, dass von den Feldmarschällen einer bestimmten Epoche unsrer Geschichte zwei unter dreien immer mit Ponceau-Nase ausgestattet waren. Und bis zu welchem Grade der Entwicklung!“ Sage noch einer, der Kurzbesuch in Kissingen 1867 sei Fontane nicht wie eine Badekur bekommen: ganz ohne Krieg. Dem Promenadenkonzert entwich er, wir lasen es, auf den Finsterberg. Das frühe erste Kissingenerlebnis dieser drei Tage fand knapp 20 Jahre später in einen kleinen Erzähltext. Dass auch der im Kissinger Heft 4 eine fragwürdige Einschätzung erfährt, ist schon ein neues Thema.