Zu Klopstock nach Langensalza

Nicht an die ganz große Glocke hängt die Stadt Bad Langensalza die keineswegs unbekannte Tatsache, dass Friedrich Gottlieb Klopstock als Universitäts-Abgänger ohne Abschluss für eine Weile in den städtischen Arbeitsmarkt einwanderte. Im Haus Salzstraße 3 begann er zu Ostern 1748 eine Tätigkeit als Hauslehrer bei Kaufmann Johann Christian Weiß. Im Jahr 1750 verließ er die Stadt wieder, eigenem Antrieb folgend und einer Einladung aus Zürich. Die hatte der seinerzeit überaus bekannte Schweizer Johann Jakob Bodmer (19. Juli 1698 – 2. Januar 1783) ausgesprochen, der meist im Doppelpack mit Johann Jakob Breitinger (1. März 1701 – 14. Dezember 1776) genannt wird. Beide Schilder am Haus Salzstraße 3 halten sich mit exakten Daten vornehm zurück, gäbe es sie, wären sie wohl auch öffentlich dokumentiert worden. Das Haus, in dem die Söhne des späteren Bürgermeisters unterrichtet wurden, macht kurz vorm 299. Geburtstag des Dichters einen mehr als nur passablen Eindruck. Der ein äußerer bleiben muss bis auf weiteres, denn aus durchaus schon in die Jahre gekommenen Plänen, dort wenigstens ein Klopstock-Zimmer einzurichten, ist bis heute nichts geworden. Was sicher mit Geld zu tun hat, obwohl in unserem schönen Land kaum ein Satz öfter gesagt wird als: „Das kann doch nicht immer nur alles am Geld hängen.“ Doch, es hängt.

Aus dem Jahr 1987, manche nennen das „tiefe DDR-Zeiten“, stammt ein literarischer Reiseführer, den der Greifenverlag zu Rudolstadt in zweiter, überarbeiteter Auflage herausbrachte. Autor war Werner Liersch (23. September 1932 – 23. August 2014), der höchst lapidar nur dies festhielt: „Friedrich Gottlieb Klopstock wirkte 1748/50 als Hauslehrer in der Familie des Kaufmanns Weiß, Salzstraße 2. Klopstocks Mutter stammte aus Langensalza, wo auch seine Cousine Maria Sophie Schmidt lebte, an die er seine „Oden an Fanny“ richtete.“ Der Vollständigkeit halber sei erwähnt: Klopstock kommt auch im Stichwort Halberstadt vor, im Stichwort Friedeburg (Kreis Hettstedt), natürlich unter Quedlinburg (Kreisstadt), Schulpforta (Ortsteil von Bad Kösen, Kreis Naumburg) und Leipzig (Bezirksstadt). Die längst historisch gewordenen regionalen Zuordnungen sind heute etwas wie Folklore. Alle sonstigen Aufenthaltsorte Klopstocks lagen außerhalb des Ersten Arbeiter- und Bauern-Staates auf deutschem Boden und mussten deshalb nicht eigens erwähnt werden. 2004 publizierte Liersch ein Buch mit dem Titel „Dichterland Brandenburg“, Untertitel „Literarische Streifzüge zwischen Havel und Oder“, dort erscheint Klopstock im dritten Kapitel „Voltaire in Sanssouci“ als einer, den Preußenkönig Friedrich wie andere deutsche Dichter nicht lesen mochte.

Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz hält auf ihren Internetseiten dies fest: „Am 14. März 2003 jährte sich zum 200. Mal der Todestag des Lyrikers, Schriftstellers und Dramatikers Friedrich Gottlieb Klopstock. Das Gebäude Salzstraße Nr. 3, in dem Klopstock von 1748 bis 1750 unterrichtete, ist im touristischen Sinne – von der sanierten Fassade abgesehen – wohl noch auf längere Sicht nicht vorzeigenswert. Die Räume sind bis auf ein Büro im Erdgeschoss ungenutzt. Die grau marmorierte barocke Fassade ist in der Stadt eine ganz besondere. Die mit kräftiger Rustikarahmung umgebenen, weithin originalen Fenster und die zwischen ihnen in den einzelnen Geschossen aufgebrachten plastischen Tuch- und Fruchtgehänge, Fruchtgebinde, Pflanzen- und Muschelmotive sowie das Portal der von „Braulöchern“ und einer Wappenkartusche gesäumten hohen Toreinfahrt imponieren jedem Betrachter. Im Innern des Hauses, dessen große Räume zu früheren Zeiten für mehr Wohnraum verkleinert wurden und dabei manchen Verlust erfuhren, signalisieren Stuckdecken, zwei aus der Bauzeit überkommene Treppenhäuser sowie Türen und Dielenfußböden die gewesene repräsentative Ausstattung. Bis jedoch hier ein von allen Beteiligten favorisiertes Klopstock-Gedenkzimmer öffnen kann, braucht es noch sehr viel Geld. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz förderte die bisherigen Maßnahmen.“ Was eben leider nicht reicht.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist in Langensalza mit Blick auf den 300. Geburtstag am 2. Juli 2024 (noch) nichts geplant, Größeres hätte ohnehin mehr Vorlauf nötig. Doch ist das nichts, was man der Stadt und ihren für Kultur, Tourismus, Marketing Verantwortlichen vorzuwerfen hätte. Denn wenn auch die „Oden an Fanny“ in der deutschen Lyrik-Geschichte eine exponierte Stellung einnehmen, wie generell die Lyrik Klopstocks, die Rückbindung ist weniger die Stadt Langensalza als eben die junge Dame, die eine Cousine des Dichters war. Und ganz so ungenau, wie es schien, sind die bekannten Aufenthaltsdaten Klopstocks in Langensalza dann doch nicht. Wenn er, wie bekannt, zu Ostern 1748 in der Salzstraße Wohnung und Arbeit aufnahm, wissen wir sogar genau, wann das war, der Ostersonntag 1748 fiel auf den 14. April. Wenn er dann gegen Ende Mai 1750 die Stadt wieder verließ, können wir verlässlich behaupten, dass er reichlich als 25 Monate dort verbrachte. Maria Sophia Schmidt wohnte mit ihrer Mutter damals im Haus Bei der Marktkirche 10, auch dort hängt eine Gedenktafel, auf die schon der Tourist-Führer „Literatur. Dichter, Stätten, Episoden“ von Herbert Greiner-Mai 1984 hinwies. Dass Goethe mit dem, was er „Gelegenheitsdichtung“ nannte, nicht zuletzt auf Klopstock fußt, gilt als gesichertes Wissen natürlich auch in Bad Langensalza.

Keinen Hinweis gibt es auf das Haus, in dem Klopstocks Mutter Anna Maria Schmidt (1703 – 1773) aufwuchs, deren Schwester Sophie wiederum die Mutter von Johann Christoph Schmidt und eben Maria Sophia Schmidt wurde, Klopstocks Cousin und Cousine. Anna Maria Schmidt heiratete zwanzigjährig 1723 in Quedlinburg den fünf Jahre älteren Gottlieb Heinrich Klopstock (1698 – 1756), nicht wie Jochen Klaus behauptet, in Langensalza. Eine abenteuerliche Falschbehauptung hat 2011 der langjährige Fachlehrer für Deutsch/Kunsterziehung und Englisch in Langensalza, Rudolf Pöhlig, im Heimatblatt „Thüringer Allgemeine“ drucken lassen. Unter dem Titel „Große Oden, keine Küsse“, die er sich vermutlich nicht selbst ausgedacht hat, behauptete er, Klopstocks Mutter sei gestorben, als er noch im Kindesalter war. Tatsächlich ist diese Mutter 70 Jahre alt geworden, obwohl sie sage und schreibe 17 Kinder gebar, von denen nicht weniger als elf, eine damals außerordentliche „Quote“, das Erwachsenenalter erreichten. Es gibt sogar ein von Johann Wilhelm Ludwig Gleim (2. April 1719 – 18. Februar 1803) für sich selbst in Auftrag gegebenes Gemälde der Mutter, von dem eine Replik an Klopstock ging per Post, wie ein Brief Gleims an ihn vom 16. Juli 1770 bezeugt. Der Maler war Benjamin Calau (25. Juni 1724 – 27. Januar 1787).

Von Rudolf Pöhlig, der jetzt 91 Jahre alt sein müsste, hängt im Langensalzaer Rosenmuseum, das niemand verpassen sollte, wenn er den sehr schönen Rosengarten besucht, ein Gedicht „Gast im Rosengarten“, dass, wie sag ich's milde, neben Klopstock nicht wirklich glänzt. Warum der Hobby-Dichter aber als Hobby-Autor fürs Kreisblatt nicht einmal erwähnte, dass nämliche Mutter eben in Langensalza geboren wurde, dass vor allem deshalb überhaupt ein Familienbezug dahin bestand für Friedrich Gottlieb, das älteste von den siebzehn Kindern, bleibt sein Geheimnis. Womöglich auch das der verantwortlichen Redaktion, die vielleicht einen viel zu langen Text auf Kurzmaß streichen musste. „Der neue Hauslehrer war gewiss genial; ob er bei seiner Gehemmtheit junge Mädchen für sich einzunehmen vermochte, darf bezweifelt werden, doch dass er keine gute Partie für eine bürgerliche Ehe abgab, stand außer Frage.“ Von dieser Gehemmtheit muss der Fachlehrer aus geheimen Quellen erfahren haben. Der Hauslehrer hatte zudem mit Mädchen gar nicht zu tun, seine Zöglinge waren Söhne. Die Maria Sophia kannte er schon von Leipzig her, wo sie einmal ihren Bruder besuchte, der seit 1746 mit Klopstock zusammen dort studierte und lebte: in einem 1927 abgerissenen Haus namens „Zum Hirschkopf“, finanziert von der Langensalzaer Verwandtschaft.

Zu Pfingsten 1751, die Feiertage fielen auf den 30. und 31. Mai, hielt sich genannter Gleim, dessen seltsame Rolle in der zeitgenössischen Literaturgeschichte mehrere eigene Kapitel verdient, in Langensalza auf, um Klopstocks Verhältnis zu Fanny zu klären. Über Details dieses Besuchs schweigt sich www.literaturland-thueringen.de aus, wir wissen also auch nicht, ob Klopstock von dieser Reise je erfuhr. Einen Brief des Schweizers Bodmer an Fanny, den er selbst zu überbringen gehabt hätte, hielt er zurück. Bei Arthur Eloesser (20. März 1870 – 14. Februar 1938) lesen wir in vermutlich sehr realitätsnaher Deutung dazu: „Klopstock war geschmackvoll oder vorsichtig genug, diesen Brief an die Angebetete nicht abzugeben; er war nur Ekstatiker, wenn er schrieb, er nahm das Leben ohne tragischen Widerstand an, in seiner nüchternen Vorgeschriebenheit, wie er sich im Wirklichen immer mit Verstand, Würde, Zurückhaltung benommen hat. Vor der Wertherzeit gab es keine tragischen, mit Zerstörung drohenden Leidenschaften“. Dass Klopstock schon sehr zeitig in seinen Langensalzaer Monaten an Weggang dachte, ist überliefert, sein erster Brief an Bodmer, geschrieben am 10. August 1748 in lateinischer Sprache, beschreibt seine Situation. Bodmer lud ihn erstmals zu Neujahr 1749 nach Zürich ein, erhielt aber erst im September eine pauschale Zusage.

Wer jetzt in Langensalza unterwegs ist, es gibt seit der Wiedereröffnung der Friederikentherme mit Tag der offenen Tür und Fernsehauftritt einen guten weiteren Grund dazu, kann neben dem schon genannten Klopstockhaus auch eine Klopstockstraße anschauen. Sie führt von der Thamsbrücker Landstraße auf die Thamsbrücker Landstraße und hat kaum mehr als diese Funktion. Lassen wir noch einmal Rudolf Pöhlig zu Wort kommen: „Die Stadt Langensalza hat ihn nie vergessen. Das Haus, in dem er zwei Jahre lang gewohnt und gearbeitet hatte, trägt heute seinen Namen. Eine Straße wurde nach ihm benannt. Und bei den Figuren des Bad Langensalzaer Glockenspiels, das seit 1995 den dortigen Rathausgiebel ziert, gehört Friedrich Gottlieb Klopstock zu den historischen Persönlichkeiten, die bewundert werden können.“ Außerdem findet man, ins Pflaster eingelassen, eine Gedenktafel für Klopstock mit seinen Lebensdaten und der vielleicht nicht ganz glücklichen Angabe „Dichter, Lyriker“. Sehr ähnlich auch eine Tafel für Christoph Wilhelm Hufeland, der am 12. August 1762 in Langensalza geboren wurde, 1836 in Berlin starb und vorher in Weimar Goethe, Schiller, Herder und Wieland zu seinen Patienten zählte. Auch Anni Berger (23. Oktober 1904 – 1. November 1990) hat eine solche Tafel im Pflaster, geboren in Wien, 1941 nach Ufhoven gezogen.

Die berühmte Rosenzüchterin hat insofern auch mit Klopstock zu tun, als die nach ihr benannte Anni-Berger-Stiftung das neuere der beiden Schilder am Klopstockhaus förderte. Wie auch das Schild, das über Rathaus und Rathausbrunnen informiert. Dem ist zu entnehmen, dass das Rathaus in seiner jetzigen Form nach dem letzten großen Brand im Jahre 1711 in den zehn Jahren von 1742 bis 1752 erbaut wurde, vorhandene Reste nutzend. Damit kann als sicher gelten, dass Johann Gottlieb Klopstock in seiner Langensalzaer Zeit vermutlich täglich an dieser Rathaus-Baustelle vorbeikam. Ob Albert Köster (7. November 1862 – 29. Mai 1924) als Herausgeber des Büchleins „Klopstock und die Schweiz“ (Leipzig 1923), es ist somit eben 100 Jahre alt, die Langensalzaer Zeit absichtlich schwarz malte, wenn er schrieb „erdrückt von dem dortigen Philistergeist, zermürbt von der aussichtslosen Schwärmerei für Fanny“, kann hier nicht entschieden werden. Immerhin weiß er auch, dass Bodmer aus Zürich 300 Taler Reisegeld nach Langensalza schickte, um Klopstock den Abgang zusätzlich schmackhaft zu machen. „So war der junge Dichter gegen Ende Mai 1750 das ganze empfindsame Getue der Kleinstadt los und schüttelte den Staub Langensalzas von den Schuhen.“ Klopstock ging vor Zürich erst noch nach Quedlinburg und Braunschweig.

Jochen Klauß, am 21. April 1951 in Weimar geboren und Verfasser zahlreicher Bücher vor allem rund um Goethe, der sich schon hinsichtlich des Hochzeitsortes der Klopstock-Eltern irrte, liegt in seinem Buch „Thüringen. Literarische Streifzüge“ (Patmos Verlag 2009) auch hiermit falsch: „Neben den Liebesgedichten entstanden in zwei Jahren im Haus der Familie Weiß in der heutigen Salzstraße 3 auch bereits Teile des Messias, der dann erst in Dänemark abgeschlossen wurde. 1750 jedenfalls verließ Klopstock Langensalza; Fanny hatte ihn nicht erhört und heiratete 1753 einen Eisenacher Kaufmannssohn.“ Dass andere Quellen, siehe oben, das Hochzeitjahr 1754 nennen, sei wenigstens erwähnt, dass der „Messias“ in Dänemark vollendet wurde, ist schlicht falsch, auch wenn andere Autoren den Fehler ungeprüft wiederholen. Und Liebesgedichte an Fanny, unleugbar, entstanden auch schon in Leipzig, sie sind als Alleinstellungsmerkmal für die Zeit in Langensalza wenig tauglich. Von einem irgendwie gearteten Eheanbahnungsversuch Klopstocks ist außer gern wiederholten Aussagen, er sei keine geeignete Partie gewesen, nichts überliefert. Nimmt man hinzu, wie rasch er sich bald in Meta Moller (16. März 1728 – 28. November 1758) verliebte, die ihn 1754 auch heiratete und schon mit 30 im Kindbett verstarb, darf man die Fanny-Liebe nüchterner sehen.

Karl-Heinz Hahn (6. Juli 1921 – 5. Februar 1990), als langjähriger Direktor des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar und Präsident der Goethe-Gesellschaft auf Klopstock durch die Goethe-Brille blickend, trug in seiner Einleitung zu „Klopstocks Werke in einem Band“ (Aufbau-Verlag 1971) zu Fanny in Langensalza dies bei: „Man wird sie sich wohl als ansehnlich, kenntnisreich, das heißt vor allem literarisch gebildet denken müssen, zurückhaltend, aber mit klarem Verstand und kritischem Sinn. Im Alter hat Klopstock ihr die Frage vorgelegt, ob sie während jener Langensalzaer Zeit seine Gefühle erwidert habe.“ Ohne nähere Quellenangabe zitiert er die Antwort: „… so können Sie doch sicher annehmen, daß ich bei der so edlen Liebe eines der besten Menschen nicht gleichgültig geblieben, und, wenn, wenn es in meiner Gewalt gestanden, ihn glücklich zu machen, ich es gewiß getan haben würde.“ Viel Konjunktiv, viel Wissen um den späteren Ruhm des einst in Langensalza Verschmähten, mehr ist dazu kaum zu sagen. Arthur Eloesser hat das letzte Wort zu Fanny: „Sie nahm statt des armen Dichters einen reichen Kaufmann, sie wurde, bevor die Neue Heloise nach Deutschland kam, bevor die irdischere Lotte alle noch übrigen Tränen einsammelte, die berühmteste und umschwärmteste Geliebte unserer Literatur.“ Vor Rousseau also und vor Goethe. Das bleibt.

Nachtrag für Lokalpatrioten: Friedrich Gottlieb Klopstock war auch in Arnstadt und Ilmenau, nur auf der Durchreise freilich. In Arnstadt könnte vielleicht sogar ein Halt gelegen haben, wie ein Brief vom 15. Juli 1750 aus Rodach nahelegt, Ilmenau ist nur erwähnt bei Albert Köster. Demnach trat Klopstock „früh am 13. Juli 1750 von Quedlinburg aus die Reise nach der Schweiz an; durch Thüringen, über Ilmenau und Koburg, dann über Nürnberg, Ulm, Schaffhausen“. Für Gedenktafeln wäre das entschieden zu wenig.


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