Johannes Freumbichler in Ilmenau

Ein Buch mit dem ehrgeizigen Titel „Das literarische Ilmenau. Autoren-Galerien und Dichter-Stätten“ zu füllen, ist Detlef Ignasiak sichtlich schwergefallen. Großzügig hat er Elgersburg und Gräfenroda, Geraberg und Gehlberg, Dörrberg und Schmiedefeld zugeschlagen, auch Langewiesen. Doch während Langewiesen inzwischen zu Ilmenau gehört, wenn auch nach literaturwürdigen Abwehrkämpfen und Animositäten (zuweilen), haben die anderen Genannten andere Bindungen, das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Nach Seite 78 eröffnet Ignasiak eine Abteilung „Literarische Texte“, was ihn am Ende inklusive Register zu 135 Druck-Seiten führt. Er veröffentlicht seine Bücher im eigenen Verlag, das vereinfacht das Verfahren. Die Zeitschrift „Palmbaum“, ebenfalls quartus-Verlag, gab dem Experten für lobende Besprechungen, Ulrich Kaufmann, die Möglichkeit, „Das literarische Ilmenau“ zu würdigen. Den breitesten Raum widmete er, wie Ignasiak, natürlich Goethe. Nur muss niemand mehr über Goethe und Ilmenau schreiben, das Feld ist abgegrast. Der einzige Autor, der auch in Ilmenau geboren ist, Friedrich Michael, kommt bei Ignasiak zwar vor, ist Kaufmann aber nicht aufgefallen. Dafür schreibt er selbst Hitler einen Ilmenau-Bezug zu, der bei Ignasiak wohl vorkommt, aber eben nicht in Ilmenau. Da war auch Georg Lukacs nicht. Bodo Kühn kommt bei Ignasiak viel zu gut weg, nichts davon merkt Kaufmann. Und niemand sagt es ihm.

Hätte es der an seinem Hauptwerk schaffende und darüber seine „Palmbaum“-Abonnenten locker vergessende Detlef Ignasiak wissen können, dass Johannes Freumbichler etwa ein dreiviertel Jahr in Ilmenau, und zwar tatsächlich in Ilmenau, verbrachte, wenn auch lange bevor er sein Leben als erfolgloser Schriftsteller und dann Großvater von Thomas Bernhard führte? Ich lasse die Frage so stehen. Wir wissen aus der deutschen Geschichte, wie oft Leute etwas hätten wissen müssen, was sie aber dann doch nicht wussten, weil sie es nicht wissen wollten. Im vorliegenden Fall ist keinerlei Unterstellung nötig. Freumbichler kommt in „Das literarische Ilmenau“ nicht vor, wohl aber der Maler Siegfried Burmeister, den das „SED-Regime der DDR“ (gab es noch andere andernorts?) einst von Weimar nach Ilmenau auswies. Ilmenau war, wie wir ahnen, von Weimar aus gesehen, 1964 so etwas wie das Sibirien der Bezirke Erfurt und Suhl. Von Burmeister ist nie irgendetwas erschienen, was man Literatur nennen könnte, da habe sogar ich bescheidene neun Bücher mehr als er veröffentlicht, was mit dem literarischen Ilmenau natürlich wenig zu tun hat. Ich lebe da einfach nur so vor mich hin. Freumbichler, auf ihn zurückzukommen, gehört zum Jahrgang 1881, er starb am 11. Februar 1949, heute vor 75 Jahren, in einem Krankenhaus in Salzburg. Ein katholischer Priester wollte damals eine Beerdigung nicht erlauben, weil er nicht kirchlich getraut war.

Das Wort, das im Zusammenhang mit Freumbichlers Namen am häufigsten fällt, heißt Erfolglosigkeit: er lebte mit der Erfolglosigkeit, er litt an der Erfolglosigkeit, er redete sich seine Erfolglosigkeit schön. Bisweilen sprach er von Selbstmord, bisweilen drohte er mit Selbstmord. Am Ende starb er an einer zu spät erkannten Krankheit. Seine Frau Anna, mit der er 34 Jahre zusammen gelebt hatte, ehe er sie endlich heiraten konnte, starb 1965. Seine uneheliche Tochter Hertha wurde die Mutter von Thomas Bernhard, sie brachte ihn im holländischen Heerlen in einer Anstalt für unverheiratete Mütter zur Welt. Freumbichler, der Großvater, spielt, wo immer von ihm die Rede ist, die größere Rolle als Freumbichler, der Autor. Er hat, nachdem er einmal den Entschluss dazu fasste, immer geschrieben, stand wie unter Schreibzwang, hat nichts anderes für sich zugelassen und, wenn man sich nichts schönreden will, zuerst seine Frau Anna, dann seine Tochter Hertha in schwer nachvollziehbarer Art ausgenutzt. Die drei Jahre ältere Anna, die ihren ersten Mann und ihre beiden ersten Kinder verlassen hatte, war nach allen Zeugnissen, die wir kennen, mit der dienenden Rolle bis zum Ende immer zufrieden, war bereit, auf alles zu verzichten, damit er an seinem Werk schaffen konnte. Das von Verlegern aller Art mit größter Regelmäßigkeit abgelehnt wurde, das im Fall eines Druckes (seine ersten beiden Romane 1911 und 1918) offenbar niemand kaufen wollte.

Johannes Freumbichler lebte oft in nackter Not, litt oft Hunger, hatte oft nichts anzuziehen, um damit das Haus zu verlassen. Wohnungswechsel kennzeichnen sein Leben ebenso wie stets neue, stets eigentlich unbegründete Hoffnungen. Er war ein Büchernarr, er war belesen und immer in Versuchung, sein jeweilig nächstes Buch, wie dieser oder jener der ganz Großen, bisweilen auch der halb Großen, zu schreiben. Ich kenne keine Zahlen, wie viele Seiten er im Laufe seines Leben füllte, Manuskripte sollen mehrfach auf tausend und mehr Seiten gekommen sein. Das einzige Buch, das ihm zu Lebzeiten einen gewissen Ruhm einbrachte, trug den Titel „Philomena Ellenhub“. Aus den 1000 Manuskriptseiten, die in Handschrift bei Carl Zuckmayer landeten, machte dessen Gattin Alice in Abstimmung und Zusammenarbeit mit Freumbichler selbst, beide lebten da unweit voneinander, ein halb so starkes. Zuckmayer brachte es in Wien bei Paul Zsolnay unter, es erschien 1937 und von den 3000 Exemplaren der Erstauflage ist derzeit keines aufzutreiben. Das liegt aber nicht an der rasenden Nachfrage, die es nie gab. Was es 1937 gab, war ein Förderungspreis des Großen Österreichischen Staatspreises für Literatur, nicht etwa den Großen Preis selbst, wie man leider auch lesen kann, selbst in einem renommierten Lexikon. Den erhielt Heinrich Suso Waldeck (3. Oktober 1873 – 4. September 1943), der heute sicher kaum bekannter ist als Freumbichler.

Volker Schindler meinte, Freumbichlers Werke „lagen zu weit ab von zeitgenössischen Strömungen, um nachhaltigere Wirkung zu erzielen“. Was aber waren, kurz vor Hitlers Einmarsch in seine alte Heimat Österreich, die zeitgenössischen Strömungen? In Henndorf gingen, bis 1938, namhafteste Autoren der deutschsprachigen Literatur ein und aus, bei Carl Zuckmayer allerdings, nicht bei Johannes Freumbichler. Einigen von ihnen hat Zuckmayer den von ihm so geförderten Roman zugeschickt, zitierfähige Aussagen von ihnen liegen offenbar keine vor. Seit 1933 gab es in Henndorf aktive und laute Bekundungen pro Hitler und gegen die sehr oft jüdischen Besucher des Ortes. 1938 verließ Zuckmayer seine Wahlheimat. Johannes Freumbichler sah keinen Grund für eine Emigration. Dietmar Grieser schrieb sehr viel später: „Immer größer also wird die Zahl derer, die bei ihrem Rundgang durch den 3000-Seelen-Ort auch nach dem Geburtshaus von Thomas Bernhards Großvater Johannes Freumbichler fragen, nach Gut Ellenhub, das dessen bekanntestem Roman, der Bauernsaga „Philomena Ellenhub“, den Namen gegeben hat“. Ob sich der Trend in den dreißig Jahren nach Griesers Besuch vor Ort gehalten hat, weiß ich nicht, Neuausgaben in der Ullstein-Reihe „Die Frau in der Literatur“ (1982) oder im Insel-Verlag 2009 (mit Nachwort von Thomas Bernhard) führten zu keiner erkennbaren neuen Aufmerksamkeit für das Werk des Autors.

Als das als Buch höchst eigenartige Arbeitsergebnis ihres Wirkens im Salzburger Literaturarchiv im Otto Müller Verlag Salzburg erschien, lebte Caroline Markolin bereits in Canada, wo sie auch heute noch tätig ist. Mit Bernhard und Freumbichler hat sie sich seither offenbar nie wieder beschäftigt, dennoch bleibt ihr „Die Großväter sind die Lehrer. Johannes Freumbichler und sein Enkel Thomas Bernhard“ (1988) für immer eine Art Basis-Publikation. Sie hatte im Archiv das überlieferte Material gesichtet, geordnet und katalogisiert: „Mein Lebensbild von Johannes Freumbichler möchte die Mitteilungen in einen Zusammenhang stellen und die Wesenheit der Briefe ohne Auslegung weitergeben. Ich erlaube mir auch keine Wertungen oder Vermutungen.“ Das mag als Arbeitsansatz ehrenwert sein, das gedruckte Ergebnis ist dennoch an nicht wenigen Stellen sehr unbefriedigend, weil schlichte Aufklärung fehlt, begründete Vermutungen sind zudem keineswegs wissenschaftsfremd. Das Buch weist nicht weniger als 29 absichtsvoll unbedruckte Seiten auf, die bequem Ergebnisse zusätzlicher Recherche hätten aufnehmen können, manches Zitat von Enkel Thomas Bernhard, dem jeweils linke Seiten im Druck zugeordnet werden, ist redundant und so eben auch entbehrlich. Dafür ärgert den Leser in Ilmenau, wenn er von den drei Ilmenauer Wohnadressen Freumbichlers im Jahr 1903 eine gleich doppelt falsch geschrieben findet.

Denn ein Zeihenhaus gab es in Ilmenau nie, wohl aber ein Zechenhaus und eine Anschrift „Am Zechenhaus“. Ob die heutige Nummer 9 mit jener Nummer 9 identisch ist, die in den Monaten Juli und August 1903 seine Postanschrift war, wissen selbst Anwohner nicht auf Anhieb zu sagen. Dafür scheint es, als seien die beiden anderen Postanschriften, Alexanderstraße 23 und Marienstraße 14, leichter zu identifizieren. Die Alexanderstraße ist seit 1946 die jetzige Poststraße, die Nummer 23 das große Gebäude in Fahrtrichtung der Einbahnstraße rechts, Ecke Kirchplatz, nach 1990 diverse Nutzungen, derzeit die Lebenshilfe e.V. offenbar allein. Die Marienstraße wurde um 1930 mit der Nordstraße zusammen zur Erfurter Straße, eine Nummer 14 gibt es gegenüber der Einmündung in den Teichweg, sie hat den Friedhof im Rücken. Nach Ilmenau kam Johannes Freumbichler von Altenburg her, damals Sachsen. Er besuchte das „Technikum für Maschinenbau, Electrotechnik und Chemie-Werkstätte“ dort und wohnte in der Karlsstraße. Im März 1903 wechselte er nach Ilmenau, „um dort eine Schule für Elektrotechnik zu besuchen“, so Caroline Markolin. Gemeint ist das am 3. November 1894 eröffnete „Thüringische Technikum“, das Ingenieure der Elektrotechnik und des Maschinenbaus ausbildete, später auch kurz die Reichsfinanzschule Ilmenau beherbergte, heute Curie-Bau der Technischen Universität, die sanierte Aufschrift „Technikum“ ist weithin zu sehen.

Vielleicht war die Episode Ilmenau inhaltlich für Markolin zu uninteressant, vielleicht enthielten die gesichteten Briefe auch wirklich keinerlei Informationen zum Studium. Am Ende hat Freumbichler auch die Lebensstationen in Altenburg und Ilmenau zu kurzen Zwischenstationen ohne Bedeutung für ihn gemacht, er war eben Schulabbrecher, Ausbildungsabbrecher und schließlich auch immer wieder Arbeitsabbrecher. Seine wenigen Zeiten der Festanstellung für einfachste Tätigkeiten kürzte er so bald als möglich, um sich wieder seinem Schreiben zu widmen. Auch die Website zu Thomas Bernhard enthält übrigens in ihrer Rubrik „Johannes Freumbichler“ zu Ilmenau schlichten Unfug. Er habe sich 1903 an der Hochschule für Elektrotechnik angemeldet. Wie ihm das fünfzig Jahre vor deren Gründung gelingen konnte, verschweigt der Internet-Sänger Höflichkeit. Dafür offenbart sie den zweiten Vornamen des Großvaters: Capistran. Freumbichler versuchte in seiner Ilmenauer Zeit auch seinen Freund Rudolf Kasparek zur Technikerschule zu überreden. Der bittet auch tatsächlich um einen Anmeldeschein und schickt ihn in der Hoffnung ab, nicht angenommen zu werden (laut Markolin). Doch wird er angenommen, telegrafiert das Freumbichler und zieht zu ihm in dessen Wohnung Alexanderstraße 23. Aus Ilmenau beginnt Freumbichler seiner späteren Lebensgefährtin Anna Bernhard Briefe zu schreiben, ihr Gedichte zu schicken. Schwulst und Pathos herrschen vor.

Auch Anna Bernhard zieht es nach Ilmenau, im September 1903 schreibt sie: „Ich bin täglich gefasst, dass mein Mann mich hinauswirft.“ Caroline Markolin: „Johannes Freumbichler entscheidet sich für ein Leben mit Anna Bernhard. Er verlässt Ilmenau und zieht mit Dietlinde zu Beginn des Jahres 1904 nach Basel.“ Dietlinde war Annas Name im Freundeskreis. Wann genau der Auszug aus Ilmenau vonstatten ging, scheint nicht bekannt. Auch in Basel gibt es den Besuch eines Technikums. Ob Kasparek länger in Ilmenau blieb oder ebenfalls abreiste, ist mir nicht bekannt. Er müsste mit Freumbichler gemeinsam aus der Alexanderstraße zum Zechenhaus gezogen sein und von dort in die Marienstraße 14, die von September bis Dezember Freumbichlers Postanschrift war. Seit 2006 gibt es ein Buch von Bernhard Judex mit dem Titel „Der Schriftsteller Johannes Freumbichler, 1881 – 1949. Leben und Werk von Thomas Bernhards Großvater“, erschienen im Böhlau-Verlag. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) lobte es am 24. Februar 2007 wegen seines „beeindruckend umfassenden“ Materials. Den Roman „Philomena Ellenhub“ stellte die Literarische Welt am 7. Februar 2009, kurz vor dem 60. Todestag, ihren Lesern knapp so vor: „Der Patriarch und Misanthrop, der seine Künstlerexistenz rücksichtslos durchzusetzen versuchte, war für Bernhard Vorbild und Schreckbild. ... das ist auch eine Geschichte weiblicher Selbstbehauptung“.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround