Aufstand im Rathaus-Foyer

Aufstände und Revolutionen sind in Deutschland nur gestattet, wenn sie vorher schriftlich, und zwar in vierfacher Ausfertigung, beantragt wurden. Wenn es ausgerechnet in der so genannten DDR innerhalb von weniger als vierzig Jahren zu einem Aufstand und einer Revolution kam, beweist das im Nebenher, wie undeutsch dieses Gebilde letztlich doch war. Wobei darauf zu bestehen wäre, dass die Russifizierung des Ostens nicht annähernd je das Ausmaß erreichte, wie die bis heute nicht nur anhaltende, sondern anwachsende Amerikanisierung des Westens. Kulturimperialismus, so könnte eine forsche These lauten, funktioniert um Längen besser als ideologieverbrämte Panzerherrschaft. Womit die schriftliche Anmoderation die Kurve zum Thema des Ilmenauer Vormittags erreicht hätte.

Im Rathaus-Foyer zu Ilmenau probten nämlich nicht etwa die Mitarbeiter der Museumsverwaltung aus dem Hinterhaus oder die des Einwohnermeldeamtes von vorn die Revolte. So war auch nicht der drohende Volkszorn der Grund der Abwesenheit des Doktors, wie hausintern der Hauptamtsleiter gern genannt wird, sondern sein Übergang in den Status des Großvaters. Da der Oberbürgermeister nicht nur die Einladungen unterschrieb, sondern auch selbst den Anlass wichtig genug nahm, eine paar Worte, also ein paar mehr Worte, zu sagen, fiel das Fehlen des Doktors gar nicht weiter auf. Geladen war zur Eröffnung einer Plakatausstellung mit dem Titel „Wir wollen freie Menschen sein! Der DDR-Volksaufstand vom 17. Juni 1953“. Die Partei, gegen deren Rechtsvorgänger sich vor sechzig Jahren der Aufstand richtete, entsandte keine Zuschauer, die Debatte, ob die Konterrevolution damals vielleicht doch wenigstens ein bisschen Aufstand war, ist möglicherweise in ihren Reihen noch nicht bis zum bittersüßen Ende geführt worden.

Bei der Ausstellung handelt es sich um eine Wanderausstellung der Bundesstiftung Aufarbeitung, aus zwanzig Plakaten bestehend, die so aufgestellt sind, dass es ein geübter Theaterkritiker verstörend nennen würde, denn sie stehen entgegengesetzt dem Uhrzeigersinn. Hervorgehoben sei, dass die Ausstellungstexte nicht von der Stiftung Richard Löwenthal stammen, sondern von Stefan Wolle, den Leute, die ich schätze, den besten Historiker für DDR-Geschichte nennen. Aus schleichwerbetechnischen Gründen erwähne ich hier den Verlag nicht, bei dem wir beide, also er ganz groß, ich ganz klein, unter Vertrag stehen. Für Ilmenau und Thüringen nimmt sich der Sache die Landeszentrale für politische Bildung an, flankiert vom Verein „Gesichter geben - Opfer der Diktatur von 1945 bis 1989 in Ilmenau“ e.V. Franz-Josef Schlichting, Leiter der Landeszentrale, sprach die Einführung. Er stützte sich auf eine Publikation zum fünfzigsten Jahrestag des Aufstands, die vergriffen ist, und auf eine neue, deren Verfasser Udo Grashoff am Abend des 17. Juni selbst nach Ilmenau kommen wird zu einer Vortragsveranstaltung im Ratssaal (Beginn 19 Uhr).

Schlichting beschränkte sich wohltuend auf wenige Fakten und Zahlen. Die Ereignisse von 1953 sind, es sei vermerkt, auch wenn es manchem vielleicht selbstverständlich erscheint, definitiv affektfreier Betrachtung zugänglich geworden. Es toben keine Weltanschauungskämpfe mehr, weil es die Fakten und Zahlen gibt. Es gab die Toten und die Todesurteile, es gab Gefangenenbefreiung und Vandalismus und es nahmen tatsächlich in Berlin auch einige zehntausend Leute aus Westberlin am Aufstand teil. Es gab den Einfluss des RIAS und wer annimmt, dass geheimdienstliche Aktivitäten des Westens keine Rolle spielten, gehört sehr sicher zur Gruppe derer, die sich ihre Hosen mit zwei Beißzangen gleichzeitig hochziehen. Doch um eine Million Beteiligte in 700 Städten haben eigene Beweiskraft, der Redner hob die erstaunliche Dynamik des Geschehens hervor in Zeiten ohne Internet und Handy. Dass im Norden und im Bezirk Suhl eher nichts geschah, muss uns heute nicht peinlich sein, Ilmenau gehörte gar nicht zu den Orten des Geschehens, auch dafür haben wir uns nicht zu schämen.

Auf dem Land sah damals vieles anders aus, immerhin gab es Bewegung, es lösten sich im Gefolge Genossenschaften wieder auf. Unter den Reaktionen des Staates ist eine vielleicht besonders interessant, weil randständig: Im Dezember 1953 erschien die erste Ausgabe der „Wochenpost“, die etwas mehr Unterhaltung in die öde Presselandschaft zu bringen hatte. Die Belegschaften in den Betrieben waren, so der Redner, meist geteilt, selten einhellig, der Westen ließ den Feiertag zum inhaltlosen Ritual verkommen. Franz-Josef Schlichting erinnerte an eine Zusammenkunft in der Berliner Normannenstraße am 31. August 1989, als Minister Erich Mielke seine Generale fragte, ob nun am nächsten Tag ein neuer 17. Juni bevorstehe. Für diese Ränge war das Datum traumatisch. Auch 60 Jahre später bleibt es erstaunlich, dass gerade die berühmteste aller literarischen Abhandlungen der Ereignisse, „Fünf Tage im Juni“ von Stefan Heym, der offiziellen Lesart der Parteilinie so nahe kam, dass es deren Repräsentanten gar nicht bemerkten.

Bis zum 2. Juli wird die Ausstellung im Rathaus zu sehen sein. Ob die sehr informative Bibliographie „Der 17. Juni 1953 in der Literatur der DDR“, von Stephan Bock verfasst und die Jahre von 1953 bis 1979 umfassend, veröffentlicht 1980 im Bonner Bouvier Verlag im ersten Band des „Jahrbuchs zur Literatur in der DDR“, später komplettiert wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht weiß es ja Udo Grashoff, man könnte ihn am 17. Juni fragen.


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