Nobelpreis Tomas Tranströmer
Seit ich 2007 erstmals den Vortrag „Der Literatur-Nobelpreis: Alle Jahre wieder wissen alle alles besser“ hielt, damals vor Literaturfreunden im Rahmen der Senioren-Akademie der TU Ilmenau, inzwischen abgewandelt wiederholt vor jungen Ausländern, die den Sommerkurs der TU Ilmenau besuchen, nutze ich meine eigenen Statistiken. Sie betreffen die Häufigkeit der Preisvergabe an einzelne Länder, sie betreffen das Alter der jeweils Preisgekrönten und sie betreffen auch, in einer Sonderrubrik, den Zeitraum, in dem kein Preis mehr in ein bestimmtes Land ging.
Soweit es die aus solchen Erhebungen ablesbaren Wahrscheinlichkeiten betrifft, wohin wohl der nächste Preis gehen wird, liege ich regelmäßig falsch. Denn ich erlaube mir mit einer gewissen Hartnäckigkeit den Hinweis, dass das schöne große Land Kanada noch nie einen Preisträger bejubeln konnte, obwohl mit Alice Munro und Margaret Atwood dort sogar zwei Kandidatinnen denkbar wären, die außerdem die immer noch extrem dürftige Frauenquote wenigstens verschämt aufbessern würden. Ich schäme mich meiner Fehlleistung selbstredend nicht, weiß ich mich doch einig mit der ganzen Kohorte Feuilleton-Hellseher, die alle Jahre wieder ihren Philipp Roth aufs Schild heben, ihren Syrer Adonis und die sonstigen ewigen Geheimtipps.
In meinem Vortrag sagte ich dann, dass das Rekordland Frankreich seit 1985 nicht bedacht wurde, bald darauf ging der Preis an LeClezio. Ich sagte, die USA warten seit 1993, und las, dass angeblich die schwedische Akademie am liebsten gar keine Amerikaner berücksichtigen würde, weil denen zu viel Unterhaltung beigemixt sei. Bis jetzt hat es funktioniert und Philipp Roth wird immer älter. So muss nun sogar schon Joyce Carol Oates ins mediale Kandidatenrennen geschickt werden, was nicht half. Sie hat immer noch die Chance, als dünnste Literatur-Nobelpreisträgerin aller Zeiten in die Geschichte einzugehen, das wird aber frühestens 2012 klappen.
Dem Mutterland des Preises widmete ich brav die nüchterne Feststellung: seit 1974 keiner mehr, bis dahin waren es sechs, einmal sogar, wie beim tapferen Schneiderlein im Vorruhestand, zwei auf einen Streich, genau in diesem Jahr 1974: Eyvind Johnson und Harry Martinson. Ich weiß nicht, ob Marcel-Reich-Ranicki auch schon damals bekannte, die Preisträger nicht zu kennen, möglicherweise ist er bei Prosa-Autoren ja etwas milder im Erinnern als bei Lyrikern. Den Lyriker Tomas Tranströmer jedenfalls, den kennt er nicht, er hat den Preis trotzdem bekommen am 6. Oktober 2011 und damit so rechtzeitig, dass die Tranströmer-Verlage noch ein paar Exemplare aus der Backlist-Lagerhalle mit nach Frankfurt zur Buchmesse schleppen können.
Tranströmer bessert in meiner Privatstatistik die Gruppe Ü 80 entscheidend auf, denn er hat seinen achtzigsten Geburtstag im April diesen Jahres schon gefeiert. Älter als er waren zur Preisvergabe bisher nur Jaroslaw Seifert, der Tscheche, Theodor Mommsen, der ewige deutsche Rekordhalter, den erst Doris Lessing vom Thron stürzte. Ein zweiter Deutscher, Paul Heyse, bekam 1910 den Preis ebenfalls nach seinem achtzigsten Geburtstag. Sollten die Juroren des deutschen Georg-Büchner-Preises, bei dessen Vergabe freilich Google nicht schon sechs Stunden später knappe 600 Artikel im Netz vermeldet, sich unter dem Druck der Kommentiermedien nicht ein Ü-80-Verbot auferlegt haben, dann wäre da bis auf weiteres ein prima Kandidat im Rennen: meine persönliche Nummer 1, GÜNTER KUNERT.
In meinem Archiv finde ich, neugierig nach der Verleihungsnachricht, die ich leider nicht live erleben konnte, weil ich ein Gerichtsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung für eine andere Nummer 1 zu beobachten hatte, einen schönen großen Artikel aus dem Jahre 1997. Er beginnt so: „Würde ein besonderer Preis verliehen für das schmalste lyrische Werk von Weltrang, der Schwede Tomas Tranströmer wäre ohne Zweifel einer der ersten Anwärter darauf.“ Damals umfasste ein Band mit „sämtlichen Gedichten“ 260 Druckseiten, Verfasser jenes Satzes war Thomas Fechner-Smarsly, den ich, tut mir leid, nicht kenne, wie er umgekehrt wohl auch mich nicht kennt. Dann finde ich noch Besprechungen zu den Haikus, die Tranströmer veröffentlicht hat, innerhalb des Schmalen das schmalste, was sich an Formen denken lässt. Wikipedia zitiert Tranströmers Schlaganfall vom November 1990 herbei, um seine zunehmende Kürze zu erklären, nun ja.
Ich würde im Zweifelsfalle etwas ganz anderes hervorheben: dieser Tomas Tranströmer hat immer gearbeitet in einem bürgerlichen Beruf, seinem als Psychologe. Das hat ihn sicher auch davon abgehalten, von Messe zu Messe ein neues Buch aus dem Hut zu zaubern, was nach Auskunft des Dachverbands der Buchmesse-Betriebsnudeln das einzige Mittel ist, um im Gespräch zu bleiben. Dünne Bücher aus dieser Quelle sind nur deshalb dünn, weil sie nicht genug Zeit hatten, fett zu werden, die Tranströmer-Schmalheit, behaupte ich tapfer, kommt aus der bestmöglichen Quelle: der tiefen Gewissheit, selbst nicht der Nabel der Welt zu sein. Das rechne ich den Juroren zu Stockholm dann doch sehr hoch an. Weil Lyrik in der akuten Bedrohung steht, nur noch von anderen Lyrikern wahrgenommen zu werden, ist eine solche Preisvergabe an einen solchen Mann ein Signal. Es wird seine Wirkung nicht ganz so schnell verlieren wie die Sonntagspredigt in der Kirche die ihre, aber sehr viel mehr wird auch nicht bleiben.