Ich freue mich auf Christoph Links

Das sagte ankündigend der bei WIKIPEDIA alterslose Radio- und Fernsehmoderator Matthias Hanselmann, um auf die 9.07 beginnende Sendung „Im Gespräch“ mit Christoph Links im Deutschlandradio Kultur hinzuweisen. Die ersten Fragen des Gesprächs galten dann dem Fernsehfilm „Bornholmer Straße“, in dem Charly Hübner den (noch lebenden) Grenzoffizier spielt, der den Schlagbaum öffnete. Welcher tiefdenkende Journalist es war, der sich selbst befragte, ob er dem lebendigen Vorbild Beifall klatschen darf, habe ich wieder vergessen, ich bin ehrlich gesagt von all dieser ewigen und unverbesserlichen, einem immerwährenden Grundrauschen gleichenden Laberdebatte um die DDR fast nur noch genervt, ich kann nicht mehr lachen über die Talkshow-Gladiatoren, die sich dramaturgiegemäß an die Gurgel fahren, wenn die ach so spannende Frage steht, ob in der DDR alles schlecht war oder doch nicht alles. Ich habe irgendwo einmal geschrieben sinngemäß, dass zum Beispiel die Thüringer Klöße meiner Schwiegermutter sehr gut waren an und in der DDR, trotz Mauertoten, Stacheldraht und Karl-Eduard von Schnitzler.

Die Güte-Siegel-Debatte ist inzwischen ein wenig verschlackert, denn nun heißt die kombinierte Hänsel-und-Gretel-Frage: Siehst du die DDR als Unrechtsstaat oder nicht? Man erheitert sich auf allen Kanälen und in allen Spalten am Szenario Rot-Rot-Grün mit dem Nicht-Baggerführer Bodo Ramelow an der Spitze. Bei der Gelegenheit gelangt mein Ilmenau wieder einmal brachial zu überregionalem Ruhm, denn hier gibt es den gescheiterten SPD-Landtagskandidaten Stephan Sandmann, der seinem Namen insofern keine Ehre macht, als er Leuten eben keinen Sand in die Augen streut. Ich hatte bis zur Wahl nicht einmal gehört, dass es diesen jungen Mann überhaupt gibt, was einiges heißen soll, jetzt kommen bei Anne Will und auch bei vielen anderen, die wollen, Print-, Ton- und Bildbeiträge zu einem, der in Ilmenau die Tradition der Montagsdemo wieder aufleben lässt, um gegen die kommende Koalition zu kämpfen. Es wäre eine wunderbare Medienstory, die vielleicht sogar in den Verlag Ch. Links passen könnte, einmal die komische Rolle der Universitätsstadt Ilmenau in den Medien seit 1990 zu beleuchten.

Da hatten wir einen saulustigen Mathematik-Professor, der immer, wenn er in der Übergangs-Volkskammer für die DSU ans Rednerpult trat, den sofortigen Anschluss an die BRD forderte. Als Seniorenhandballer war er, meine ich heute noch, besser denn als Bundespolitiker. BILD erbaute sich an ihm, als er zur Belohnung Minister ohne Zuständigkeitsbereich wurde. Dann hatten wir ein Rüschenblusenmädchen, das mit 28 Jahren Bundesministerin mit Zuständigkeitsbereich wurde. Der viel zu früh verstorbene Kreisvorsitzende der CDU sagte damals, auf ihr Alter angesprochen, auch in Ägypten hätten neunjährige Pharaonen regiert. Dann hatten wir eine Professorin, die der Sangeskabarettist Rainald Grebe mit einer bulgarischen Kugelstoßerin verglich, die wäre beinahe Bundespräsidentin geworden, wenn sie bei der Wahl eine Chance gehabt und nicht alle anderen möglichen Kandidaten angesichts der totalen Aussichtslosigkeit der Kandidatur abgewunken hätten. Es folgte im Vorfeld von Kommunalwahlen in Ilmenau die Gründung einer Wählervereinigung „Pro Bockwurst“, die jetzt immer noch im Stadtrat hockt. Wieder ein Medienhype bis zum Abwinken und nun der Sandmann. Alle Beispiele folgen einem stupid einfachen Grundprinzip, welches jedem angehenden Medienmenschen schon vom Pförtner, falls es den noch gibt, vermittelt wird: langweilig und Scheiße ist, wenn Hund Mann beißt. Geil und spannend ist, wenn Mann Hund beißt. Das ist so zur Redewendung geworden, dass selbst Menschen, denen es normalerweise peinlich ist, fremde abgelatschte Phrasen nachzuquasseln, diese herzig und pfiffig grienend benutzen.

Zurück ans rettende Ufer des Gesprächs. Christoph Links nannte mit seiner mir so lange, gut und lieb bekannten Kratz-Stimme den Film anfangs etwas klamottig, später aber durchaus realistisch und verwies, perfekt wie immer den Kern treffend, das ist eine seiner eindrucksvollsten Eigenschaften, auf den sachlichen Neuwert der Story: man könne sich nun auch in diese Seite des Geschehens versetzen. Das ist wohl wahr und war phasenweise zu Tränen rührend. Dass die Geschichte von Menschen geschrieben wurde, die am 9. November 1989 ihre Ausreise genehmigt bekamen, wusste ich nicht, dass es „Freunde von uns“ waren (und sind) hörte ich aus dem Munde des Interviewten wenig überrascht. Weil ich Christoph Links seit 1975 kenne und wohl bei ihm keine einstweilige Verfügung provoziere, wenn ich mich auch seinen Freund nenne, ohne auch nur ansatzweise denen zu gleichen, die Links meist meint, wenn er die Formel benutzt, denn dann würde die Zahl seiner Freunde im Lauf der Jahre sicher die Einwohnerzahl des Fürstentums Liechtenstein übersteigen. Und das habe ich noch zu DDR-Zeiten von Soziologen gelernt: mit so vielen Menschen kann man gar nicht befreundet und Freund sein. Wobei ich mit einer Freundeszahl von unter fünf, ich lege die Latte wohl unbewusst hoch, natürlich ein dummes Gegenbeispiel bin. Schon die Stasi, die uns Mitte der achtziger Jahre aus gleichem Grunde am Hacken klebte, er musste zur Strafe promovieren, ich musste meine akademische Laufbahn unterbrechen, um politische Vernunft zu lernen, nannte mich einen Einzelgänger in ihren dusseligen Akten.

Hätte ich nicht aus den Akten von Christoph Links und unseres gemeinsamen Freundes, dessen Unwilligkeit, DDR-Bürger zu bleiben, uns die Soße einbrockte, erfahren, dass da auch über mich etwas steht, hätte ich vielleicht gar keinen Antrag auf Akteneinsicht gestellt. Wäre aus dem kurzzeitig zwischen uns beredeten Projekt, aus Anlass seines sechzigsten Geburtstages im September unseren Briefwechsel von 1980 bis 1989 zu veröffentlichen, etwas geworden, hätte ich es jetzt leicht. Müsste nur auf diese oder jene Buchseite verweisen. Handgeschrieben sind die Briefe von Christoph Links, meine sind mit verschiedenen Schreibmaschinen und deshalb auch mit Durchschlag geschrieben. Vielleicht hätten wir wegen dieser oder jener Persönlichkeitsrechte mehr Ärger als Freunde am Projekt gehabt, das aber ist kein Grund für Weinerlichkeit. Immerhin weiß ich deswegen von den Anfängen der Verlagspläne, wenn auch nicht in allen Details. Es freut mich, dass immer noch täglich gekocht wird reihum im Verlagshause Ch. Links, ein paar Wochen durfte auch meine Tochter an solchen Tagen in Panik geraten, als sie, es war noch in der Zehdenicker Straße, wenn ich mich recht erinnere, an der Reihe war. Da musste immer die Mutter Kochtipps liefern.

Einen Moment bin ich traurig, wenn ich Christoph Links so aus der ruhigen Distanz eines erfolgreichen Weges über die Anfänge reden höre, mit dem Stolz natürlich, es unter mehr als 200 Verlagsneugründungen nach Einführung der Gewerbefreiheit, als einer von nur einem Dutzend geschafft und durchgehalten zu haben. Ich hätte zum allerersten Verlagsprogramm gehört, wenn mir die „Wende“ aus ganz profan materiellen Gründen nicht im übertragenen Sinn den Stift aus der Hand gehauen hätte. Eine Monographie über Günter Kunert wäre es geworden, alles war vorbereitet und vorbesprochen. Nur eben nicht, dass mein für zwei Jahre Freiberuflichkeit ab 1. Septemer 1989 angelegtes Polster sich per Währungsunion halbierte, während Preise explodierten, dass besprochene Verlagsprojekte mit einem anderen Verlag rigoros gestrichen wurden, dass niemand mehr an Buchbesprechungen interessiert war über DDR-Debütanten, wie ich sie als Literaturkritiker für diverse Zeitungen und Zeitschriften verfasste (neben solchen über andere Autoren natürlich). Immerhin habe ich so eine hübsche Erinnerung an eine verpasste Chance, aus der ziemlich sicher keine Erfolgsgeschichte geworden wäre. All die genannten Ilmenauer Medienereignisse freilich, die hätte ich dann nicht aus nächster Nähe erleben können, wie ich es fast 14 Jahre lang als Chef einiger Lokalredaktionen dann durfte und heute nicht missen möchte. Vielleicht hätte ich, wenn die Bundespräsidentenkandidatin Bundespräsidentin geworden wäre, dem einen oder anderen neugierigen Mann-beißt-Hund-Journalisten aus Zeiten erzählt, da sie meine Stellvertreterin war.

Am 9. November 1989 hatte Christoph Links zwei lateinamerikanische Professoren zu Gast und ging nach dem Abwasch ins Bett. Ich bin froh über jeden, der eine solche Geschichte erzählen kann und sie im Radio dann auch erzählt, denn all die anderen, die vom Mantel der Geschichte gestreift wurden, die nerven nur noch. Sie nerven wie die ewig gleichen Bilder vom Mauerfall, die immer von der bunten Seite aus gefilmt sind, weil die graue Seite ja erst viel später frei zugänglich war. Am 20. November 1989 tippte ich den kurzen Brief mit der Anfrage an Christoph Links, ob er mich nebst Gattin für zwei Nächte beherbergen könne: „Ich möchte am 28. vielleicht ein paar Redaktionsgänge machen und am 29. wollen Elke und ich mal den Blick hinter die Mauer wagen.“ Natürlich durften wir nächtigen und wir wagten an beiden Tagen den Blick hinter die Mauer, erster Grenzübertritt zu Fuß am Potsdamer Platz um 15.41 Uhr. Roland Links, der Vater, höre ich, erfuhr aus der Zeitung von der Verlagsgründung, ich habe ihm im Mai 2011 einen hier unter MEINE SCHWEIZ nachlesbaren kleinen Text gewidmet, hatte unvergessliche wunderbare Gespräche mit Vater und Mutter Links (bei der wir in der Pankower Wohnung sogar als Malergehilfen tätig waren). Matthias Hanselmann fragte dann nach der DDR-Zeit, dem Zurechtkommen, eine Antwort des Verlegers: „Das Leben war facettenreicher, als man sich das heute gern vorstellt.“ Das war es, oh, ja. Und es ist eine mediale Katastrophe, wenn es nun selbst in den ehemaligen SED-Bezirkszeitungen, die ja überall überlebten im Gegensatz zu fast allen alternativen Tageszeitungen, zur täglichen Praxis gehört, schlichten Mumpitz zu verbreiten über das implodierte Ländchen. Ich las dieser Tage, ein Mann sei Mitglied einer Gewerkschaftsbrigade gewesen, zum Einsatz seien Ellos gekommen. Als ehemaliger Leiter einer Entgiftergruppe im chemischen Zug einer Stabskompanie der DDR-Armee NVA weiß ich rein zufällig, dass Ello LO war.

Wie viele tränenreiche private Wiedervereinigungsgeschichten werden noch erzählt, heute erst wieder in der ZEIT, mit der nun wirklich bösartig dummen und falschen Behauptung, man hätte aus dem Westen wegen der Mauer nicht in die DDR reisen können. Niemand sagt gern, er sei zu geizig gewesen, den Zwangsumtausch in Kauf zu nehmen wegen der angeblich so lieben armen Verwandten, niemand sagt gern, er habe lieber Billigpakete steuerlich absetzbar gefüllt als tatsächlich zu helfen. Selten erzählt werden auch die Geschichten der Desillusionierung im Westen, wenn man plötzlich sah, wie billig das alles war, was in den Paketen steckte. Wenn man sah, dass es im Westen auch guten Kaffee gab und nicht nur den, der freilich immer noch besser schmeckte als der hiesige. Ich erinne das wiederkehrende Geschmackserlebnis nach den Wochen mit Westkaffee zwischen Weihnachten und Ostern: der erste Mokka-Fix schmeckte wie gerösteter Scheuerlappen, dann aber gewöhnte man sich rasch wieder. In der DDR wäre vielleicht mancher sogar IM geworden, wenn er mit einer brauchbaren Digitaluhr gelockt worden wäre, bei Woolworth gab es für fünf Mark eine und man bekam noch einen Kugelschreiber dazu geschenkt. Zum Thema Unrechtstaat gäbe es übrigens eine Probandengruppe, die zu befragen noch nicht unternommen wurde, soweit ich es überschaue: Die ehrenamtlichen Schöffen, die sich, wie ich sehr genau weiß, nicht selten mit dem Vollzug des alltäglichen Kleinunrechtes herzlich quälen mussten (auch ein mögliches Links-Thema für ein Sachbuch).

Matthias Hanselmann zitierte aus der Märkischen Allgemeinen, die zum zwanzigsten Verlagsjubiläum Ch. Links ein „Kompetenzzentrum für unaufgeregte Vergangenheitsbewältigung“ genannt hatte, worüber der Verleger gern schmunzeln wollte. Aufgeregtheit ist sein Ding nicht, das weiß ich gut, dass keine Zeit für ein echtes Hobby bleibt, natürlich auch, es bleibt ja nicht einmal Zeit für ein unkontrolliertes Freundesgespräch, es sei, man reist gemeinsam gen Meißen oder man sitzt in Dresden-Langebrück in einem Garten. In Dresden saß ich neben ihm in einem Saal des Militärhistorischen Museums, es gibt einen knapp einstündigen Fernsehmitschnitt davon. In Berlin saß ich zuletzt mit ihm beim TAGESSPIEGEL, keine Ahnung, was es davon gibt, ich war nur Begleiter des Verlegers, der ausnahmsweise nicht eine seiner 170 bis 180 Abendveranstaltungen hatte, sondern nur Gast war. Und natürlich Verleger des vorgestellten Buches. Fünf Jahre gibt er sich noch im Verlag, dann kommt die Staffelstab-Variante. Gelernt habe ich schon vor diesem Gespräch: Wer drei Viertel seines Umsatzes im Westen macht, was ja ziemlich direkt die Bevölkerungsanteile spiegelt, muss das in seiner Strategie berücksichtigen. In dieser krassen Deutlichkeit noch nicht gehört hatte ich, dass das Sachbuch über Autorenprominenz läuft, nicht übers Thema. Das gilt offenbar nicht nur für Fußballer-Biographien und Pop-Diven-Bekenntnisse. Auf kleine Haufen scheißt der Teufel nicht, dass soll man ihm nicht übel nehmen. Ich hatte eine gute Stunde, obwohl sie mitten in meiner eigentlich störungsfreien Arbeitszeit lag.


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