Medienblick auf Gabriele Tergit

Es versteht sich, das niemand, der ein Buch mit 84 Gerichtsreportagen gegen das übliche Honorar besprechen muss, den Ehrgeiz entwickelt, der gesamten thematischen Breite, allen stilistischen Eigenarten, dazu besonders prägnant formulierten Überlegungen, den vielen gut versteckten Seitenhieben, den Vorschlägen an die Staatsanwaltschaft, den Ironien und Direktheiten, gerecht zu werden. Es ist schon viel, wenn der eine oder andere einzelne Titel Erwähnung findet, die eine oder andere Paraphrase von Inhalten vorgetragen werden. Die Gerichtsreporterin Gabriele Tergit, am 4. März 1894 in Berlin geboren, am 25. Juli 1982 in London verstorben, wird heute unangefochten als Pionierin gesehen: sie war nicht nur die erste, sondern offenbar auch die bedeutendste ihrer Zunft, die in die Phalanx der Männer erfolgreich einbrach. Dennoch hat sie eine Sammlung ihrer diesbezüglichen Arbeiten in einem Buch nicht mehr selbst erlebt und der Journalist Jens Brüning, der bis zu seinem Tod 2011 sich die größten Verdienste um die Wiederentdeckung Tergits erwarb, konnte noch auf einen von ihm entdeckten Nachlass-Brief verweisen, der der bisherigen Annahme, sie habe sich einer solchen Sammlung immer standhaft verweigert, den Boden entziehen half.

Schaut man sich nun Besprechungen an, die nach Erscheinen der Gerichtsreportagen (Verlag Das Neue Berlin 1999) veröffentlicht wurden (ich kenne selbstredend nicht alle), dann fällt vor allem auf, dass ein Text immer wieder erwähnt wird: Er trägt den Titel „Wilhelm der Dritte erscheint in Moabit“ und widmet sich einem Verfahren, das sehr rasch ein Ende fand, nachdem es sehr seltsam begann. Einer der drei Angeklagten hieß Hitler, neben ihm auf der Anklagebank saßen ein Redakteur des „Angriff“, Tergit nennt nur den Familiennamen (Lippert) und ein Rechtsanwalt, Tergit nennt ihn Frank II. Lippert war der Journalist Julius Lippert (9. Juli 1895 – 30. Juni 1956), den Goebbels 1927 zum Hauptschriftleiter des Blattes „Der Angriff“ gemacht hatte, er wurde 1936 gar (für nicht sehr lange allerdings) Oberbürgermeister von Berlin. Frank II war der 1946 in Nürnberg zum Tod durch den Strang verurteilte und hingerichtete „Reichsrechtsführer“ Hans Frank, als Jurist Rechtsbeistand Hitlers, als Generalgouverneur für Polen einer der schlimmsten Kriegsverbrecher. Gabriele Tergit fand sich im Moabiter Gericht mit ihren Kollegen in die Rolle gezwungen, dem Hauptangeklagten Hitler gewissermaßen Spalier zu sehen.

Jahre später soll sie darüber sinniert haben, dass 50 Millionen Tote der Welt womöglich erspart geblieben wären, hätte sie an diesem Januartag 1932 aus nächster Nähe von drei, vier Metern die Angeklagten erschossen. Gegen Hitler und Co. hatte übrigens nicht etwa ein politischer Gegner aus dem antifaschistischen Umfeld geklagt, sondern der Hauptmann a.D. Walter Stennes (12. April 1895 – 18. Mai 1989), der als hoher SA-Mann im April 1931 gegen die NSDAP-Parteizentrale putschte und Goebbels für abgesetzt erklärte. (Ich stütze mich bei diesen Angaben auf Ernst Klees überaus nützliches „Personenlexikon zum Dritten Reich“). Vom Auftakt zum Verfahren schrieb Gabriele Tergit, ihr Bericht erschien am 26. Januar 1932 in der „Weltbühne“: „Es war genau so, wie man es machen muss, um eine Stimmung des Besonderen, der Sensation entstehen zu lassen.“ Dass Hitler selbst dann als der falsche Angeklagte nach einer kurzen Aussage vom Gericht entlassen wurde, ist ihr am Ende kaum mehr als die Nachricht selbst wert. Natürlich hätte jede Kritik hier allen guten Grund, sofort an das einzige Buch der Reporterin zu denken, das während ihrer Jahre in Berlin erschien: „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“, das Buch mit dem dämlichen Titel und der bis heute alle Neurezensenten verblüffenden, „unheimlichen“ Aktualität.

Niemand verweist in den mir bekannten Besprechungen auf „Alfred Döblin vor Gericht“. Dabei wäre das Verfahren eines Zahnarztes gegen den Autor von „Berlin Alexanderplatz“ auch von unheimlicher Aktualität, wie das aus mir nicht bekannten Gründen so gern genannt wird. Was ist an Aktualität immer gleich unheimlich, liebe Kritiker? Damals jedenfalls gab es einen Freispruch für den Dichter mit dieser unheimlichen Begründung: „Ein Schriftsteller kann seinen Stoff nur aus seiner Umwelt nehmen und hat dabei Wiedergabefreiheit.“ Würde die nächsthöhere bundesdeutsche Instanz heute dieses Urteil nicht wegen genau dieser Begründung aufheben und Schwärzung von Textstellen verordnen? In der Sammlung findet sich neben dem Hitler-Bericht auch einer über die andere Seite des politischen Spektrums, Titel: „Kommunisten vor Gericht“ (Berliner Tageblatt, 19. September 1930). Angeklagt ist Heinz Neumann (6. Juli 1902 – 26. November 1937) neben zwei namenlosen Männern, die Tergit nur Statisten nennt. Neumann hatte eine Wahlversammlung der Nationalsozialisten mit einer Rede gestört, es kam, weil außer ihm zahlreiche weitere Kommunisten im Saal waren, zu einer Schlägerei, wie sie bis heute den Tatbestand des Landfriedensbruches bei Verurteilungsbedarf erfüllen würde. An ihrer eigenen Sicht lässt Tergit wenig Zweifel.

„... ein junger Herr aus dem westlichen Berlin, klein, schmal, elegant, was offenbar zur Folge hat, dass er sich immerzu einen klassenbewussten Arbeiter nennt. Aber er ist nur ein kleiner Propagandareisender des großen Glückszuchthauses im Osten. Es ist ihm peinlich, unbestraft zu sein.“ Die schlimme Ironie der Geschichte: Neumann wurde wenige Jahre später selbst Opfer des Glückszuchthauses, sprich: Stalin-Terrors und in Moskau erschossen, seine Frau Margarete Buber-Neumann (21. Oktober 1901 – 6. November 1989) wurde zu fünf Jahren Lagerhaft in Kasachstan verurteilt, dann nach Deutschland ausgeliefert, wo sie für weitere fünf Jahre ins KZ Ravensbrück kam. Ob Gabriele Tergit von diesen Dingen erfuhr und wie sie es aufnahm, weiß ich nicht. Die „Jüdische Zeitung“ jedenfalls, die in ihrer Märzausgabe 2014 (Nr. 97) anlässlich ihres 120. Geburtstages Gabriele Tergit eine ganze informativ illustrierte Seite widmete, nannte sie ohne weitere Einschränkung eine Antikommunistin und zitiert, leider ohne Quellenangabe, eine angeblich Drohung eines Komintern-Abgesandten. Der soll gesagt haben: „Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Name nirgends mehr erscheint, dass Sie nirgends verlegt, nirgends gedruckt werden. Sie sind für die ganze Linke erledigt.“ Ob deshalb, oder warum immer, in der DDR war sie „erledigt“.

Der Grund für die Drohung: Tergit wollte nicht für die in Moskau erscheinende Exilzeitschrift „Das Wort“ arbeiten. Sie wollte nach dem Krieg, als sie 1948 erstmals wieder aus ihrem Londoner Exil nach Berlin kam, wo ihre alte Wohngegend völlig zerstört war, auch für keine andere jetzt in Deutschland erscheinende Zeitung mehr Gerichtsreportagen schreiben, es schien ihr unmöglich, nach allem, was geschehen war, wieder zur notorischen Kleinkriminalität zurückzukehren. Den Beginn einer bescheidenen Renaissance ihres Rufes nach 1977 hat sie noch mit erlebt. Und hat sogar an ihrem Erfolgsbuch „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ geändert für die erste Neuausgabe (inzwischen ist die fünfte erschienen mit dem Urtext, und, wie jemand quasi klagte, mit immer neuem Nachwort). Im Eifer des Gefechts 2014 machte Birgit Schmidt für die „Jüdische Zeitung“ Erich Carow statt Georg Käsebier zur Zentralfigur des Romangeschehens um den Sänger aus der Hasenheide. Erich Carow (17. Juni 1893 – 31. Januar 1956), der 1927 im Berliner Weinbergsweg (den ich zwischen 1976 und 1980 täglich mindestens zweimal passierte) seine Lachbühne begründete, galt tatsächlich vorübergehend, aber nie gut begründet, als das Vorbild des Sängers Käsebier, war es aber nicht. Gabriele Tergit hat keinen Schlüssel-Roman verfasst.

Anders als Birgit Schmidt in der „Jüdischen Zeitung“ wollte Thomas Wörtche im „Freitag“ 1999 am liebsten über den unüberhörbaren Antikommunismus hinweggehen. Wörtche behandelte die Gerichtsreportagen interessanterweise in seiner Kolumne „Wörtches Crime Watch“ (Nr. 27). Einer seiner Sätze lautet: „Was Weegees Fotos für New York geleistet haben, haben Tergits Texte für Berlin und Deutschland geschaffen.“ Dumm, dass kein einziger weiterer Satz im gesamten Text diese merkwürdige Feststellung erhellt. Wer oder was Weegee war, hatte man als Wörtche-Leser offenbar im Schlaf zu wissen. Tatsächlich war der als Ascher Fellig in Galizien geborene Arthur Fellig gemeint, dessen Familie 1910 in die USA einwanderte und den jüdischen Vornamen des späteren Starfotografen passend amerikanisierte. Vermutlich meinte es Wörtche gut mit Tergit, als er seinen Vergleich an den langen Haaren herbei zog. Für ihn geißelt sie „den Verfall von Rechtsnormen anlässlich der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Nazis und Kommunisten auf den Straßen der Weimarer Republik und der zunehmenden Blindheit der Justiz auf dem rechten Auge.“ Und empfahl für heutige Krawall-Reporter des Genres „eine Art Tergit-Test“.

An ungewöhnlichem Platz würdigte Anfang 2014 die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ Gabriele Tergit, auch hier darf der 120. Geburtstag als äußerer Anlass unterstellt werden, wenngleich der erst sechs Wochen später war. Die Chefredaktion räumte eine komplette Seite des Zeitungsbuches „Chancen“ frei, deren Hauptzweck seit Erfindung bis heute die Publikation von Stellenanzeigen für Professoren der Kategorien C1 bis C4 ist. Der Beitrag von Nadine Ahr erschien als elfter einer Reihe mit dem Titel „Denn du bist nur eine Frau“, die mit der ersten Kosmonautin der Welt, Valentina Tereschkowa, begann und bis zur Witwe Cliquot führte. Als Reporterin vor Tergit bereits vertreten Martha Gellhorn, die viel mehr war als nur eine der Frauen von Hemingway, vorgestellt auch die Autorinnen Enid Blyton und Simone Weil, das weite Spektrum ist damit umrissen. Nadine Ahr zitiert am Ende ihres wohltuend unprätentiösen Beitrags Tergit aus ihrem ersten Roman: „Weißt du, es ist so: Ein paar haben einen großen Namen. Kein Mensch merkt, dass sie nichts können. Ein paar können sehr viel, aber bis es sich herumgesprochen hat, können sie auch nichts mehr.“ Was für ein tiefer, schöner Satz! Auch eine archivbasierte „Zeit“-Selbstkritik fehlt nicht.

Die liest sich so: „Auch auf ihre Bittbriefe an die „Zeit“ bekommt sie nur eine knappe Antwort: Nein danke.“ Die große Nachfrage nach Tergit-Reportagen, Feuilletons und Porträts der Jahre bis 1933 blieb unwiederholbare Vergangenheit. Auch deshalb, liest man, hat sie sich nach der doch noch erfolgten Publikation ihres zweiten, wesentlich umfangreicheren Romans „Effingers“ 1951 auf leicht lesbare kulturgeschichtliche Sachen verlegt, das „Büchlein vom Bett“, das „Tulpenbüchlein“, „Der glückliche Gärtner“, „Der alte Garten“. Die keineswegs leichtsinnig geringzuschätzen sind, man muss nur einfach zu lesen beginnen in ihnen. Warum ausgerechnet der langjährige Ressortleiter Feuilleton der „Zeit“, Jens Jessen, 2016 unter der Überschrift „Lügenpresse 1931“ die folgende schlicht wahrheitswidrige Aussage drucken ließ, bleibt unerfindlich: „Sie floh noch vor der Machtergreifung ins Exil.“ Zu diesem Zeitpunkt lagen reihenweise Schilderungen jenes 4. März 1933 vor, da nicht nur die Machtergreifung, sondern auch der Reichstagsbrand schon eine beziehungsweise sechs Wochen her waren. Der SA-Sturm 33 versuchte sich der Autorin zu bemächtigen in ihrer Wohnung an ihrem 39. Geburtstag, erst danach floh sie.

Sie floh zuerst in die Tschechoslowakei, später nach Palästina, später nach England. Nicht nur die siebenbändige Geschichte „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945“ aus dem Leipziger DDR-Reclam-Verlag übte sich im Verschweigen des Namens Gabriele Tergit, auch Autoren des Feuilletons der vergangenen zwanzig Jahre vergessen schon einmal in aller Eile ausgerechnet die erste Exilstation. In der ebenfalls mehrbändigen Darstellung „Deutsche Exilliteratur 1933 – 1945“ von Hans-Albert Walter (3. Juni 1935 – 22. Februar 2016) ist Tergit freilich vorhanden. Woher aber kommen die in Details mehr als verblüffend voneinander abweichenden Schilderungen des 4. März 1933? Ein paar wenige Beispiele sollen unkommentiert für sich sprechen. WIKIPEDIA: „Am 5. März 1933 und drei Uhr morgens überfiel die SA die Tergit-Reifenbergsche Wohnung in Siegmundshof in Berlin-Tiergarten. Die SA scheiterte an der mit Eisenbeschlägen verstärkten Tür.“ Stefan Berkholz in der „Zeit“ 1994: „Anfang März 1933 steht der Terror vor ihrer Tür, eben der SA-Sturm 33. Geistesgegenwart rettet ihr das Leben, am selben Tag beginnt ihre Flucht.“ Anke Heimberg: „Die neuen Machthaber hatten ihre kritischen Berichte und Kommentare aufmerksam gelesen und revanchierten sich Anfang März 1933 mit einem Überfall der SA auf ihre Berliner Wohnung. Tergit floh sofort in die Tschechoslowakei.“ (literaturkritik.de)

Juliane Ziegler in „chrismon“ 7/2018: „Am 4. März, es ist ihr 39. Geburtstag, versucht ein SA-Trupp, sie in ihrer Wohnung zu verhaften. Die Männer schaffen es nicht, die Tür aufzubrechen.“ Tobias Rapp im „Spiegel“ 6/2016: „Anfang März 1933, kurz nach der Machtübernahme Hitlers, versuchten SA-Leute, in ihre Wohnung einzudringen, scheiterten aber an der massiven Tür.“ Birgit Schmidt in der „Jüdischen Zeitung“: „... am 4. März 1933 kam die SA auch in ihre Wohnung und hatte einen Haftbefehl. Sie konnte ihn abwehren, indem sie vorgab, mit höhergeordneten Stellen zu telefonieren.“ Nadine Ahr („Zeit“): „Am 4. März 1933 hat Gabriele Tergit Geburtstag, sie wird 39. Um fünf Uhr morgens … donnern Fäuste an ihr Haustor im Siegmundshof, Berlin Tiergarten. Das Hausmädchen eilt schon zur Tür, als Tergits Mann, Heinrich Julius Reifenberg, aus dem Schlafzimmer stürzt … Er geht selbst zur Tür und öffnet sie nur einen Spalt breit. Die eiserne Sicherheitskette hält er verschlossen.“ Natürlich ist es in der Sache nicht entscheidend, wie es genau ablief, ob mit oder ohne Haftbefehl, die SA war zu diesem Zeitpunkt eher die Schlägertruppe, die ohne solche Papiere auf Opferjagd ging. Es geht eher darum, wer was bei wem abschreibt.

Eine komische Geschichte wird auch aus Gabriele Tergits Kinderjahren erzählt, als sie noch Elise Hirschmann war. Sie soll, so Ulrike Baureithel zum 100. Geburtstag von Gabriele Tergit 1994, „als Kind mit dem späteren Schriftsteller-Kollegen Bredel im Berliner Norden“ herumgetobt haben. Genauer weiß es der Journalist Jens Brüning: „Als Kind spielte Lieschen in den Straßen um die Jannowitzbrücke mit den Knaben „Himmel und Hölle“ und Murmeln. Zu diesen Knaben gehörte auch der später als Schriftsteller bekannt gewordene Willi Bredel.“ Das Unglück will, dass Willi Bredel nicht nur volle sieben Jahre jünger war als Gabriele Tergit, er wurde auch in Hamburg geboren, es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass er zum Murmelspiel eigens von der Waterkant zur Jannowitzbrücke in Berlin reiste, seine Eltern waren Arbeiter in Hamburg. Sollte die seltsame Geschichte eines großen Mädchens, das mit einem viel jüngeren Buben spielt, der dann auch noch zufällig später ein kommunistischer Schriftsteller wird, nicht frei erfunden oder auch nur falsch aufgeschnappt sein, müsste eine Quelle benannt werden, die aber da wie dort einfach fehlt. Ärgerlich.

Marc Reichwein gehört zu jenen, die „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“ im jüngsten Neudruck bei Schöffling & Co in Frankfurt/Main fast wie einen Gegenwartsroman lesen, er operiert mit leserfeindlichen Worten wie „brand“ und „cheesy“, um das Buch irgendwie zu charakterisieren, flockig weiß er: „Berliner Journalisten sind auch nur Menschen, die nach Redaktionsschluss etwas Angesagtes erleben wollen.“ Wäre dies wahr, müsste einem vor Berliner Journalisten grausen. Vor diesem einen Text mit der Überschrift „Abiturienten schreiben für zehn Pfennig die Zeile“ darf einem auf jeden Fall grausen: er vergleicht Tergits Roman mit Falladas „Kleiner Mann, was nun“ und mit Erich Kästners „Fallada“. Reichweins letzte Sätze treffen ihn selbst: „Er zeigt, was ein hochdynamischer Medien- und Amüsierbetrieb alles möglich macht. Und das gilt im Grunde noch heute.“ In diesen hochdynamischen Medienbetrieben liest niemand mehr Korrektur und wo es Faktencheck gibt, zeigt ein Relotius, wie man darauf pfeift. Die „Literarische Welt“, für die Reichwein bis dato unbekannte Kästner-Romane erfindet, hat übrigens 2018 ihre Rubrik „Fortsetzung folgt“ Gabriele Tergits Erinnerungen „Etwas Seltenes überhaupt“ geöffnet, lobenswert.

Was bedeutet es eigentlich, wenn heutige Buch-Besprecher einen Roman aus dem Jahr 1931 fast euphorisch wegen seiner Heutigkeit loben? „Käsebier erobert den Kurfüstendamm“, das fällt extrem ins Auge, wird allüberall als Erfolgsbuch gelobt, es habe Tergit quasi zum Star gemacht, der Ruhm sei gar über Deutschland hinaus gegangen. Niemand aber zitiert auch nur eine einzige Kritik eines einzigen namhaften Kritikers oder gar eines namhaften Kollegen, der wie etwa Kurt Tucholsky bezüglich Irmgard Keun sich in die Bresche warf. Wer hat sie denn eigentlich wo in den höchsten Tönen gelobt, wie hoch war die verkaufte Auflage? Man weiß dergleichen doch sonst aus den Verlagsarchiven? Oder ist es vielleicht so, dass der Erfolg dem Medienhype glich, den der Roman selbst, bezogen auf einen sehr bescheidenen Sangesbruder, vorstellte? Dann wäre die mediale Begeisterung jetzt vielleicht eine Art von Selbstberuhigung: Wenn das früher schon so war, dann ist es jetzt, wo es immer noch so ist, nur noch halb so schlimm? Birgit Schmidt hat sich für ihre Erinnerung an Gabriele Tergit ein Zitat aus deren letztem Text genommen: „So wie es jetzt ist, wird es bleiben, es kommt nicht drauf an, ob noch vier oder nur zwei Jahre, bis man spurlos verschwindet.“ Mehr Optimismus klänge schöner, klüger wäre er sicher nicht.


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