Eloesser - Wege einer deutschen Familie
Als die Einladung zur Filmpremiere in Frankfurt am Main mich erreichte, war das eine echte Überraschung. Nicht die Einladung selbst, sehr wohl aber der Anlass. Denn dass ein Filmprojekt in Arbeit war, wusste ich nicht. Es gab auch keine Andeutung dahingehend, als wir vor reichlich zwei Jahren in Berlin den 90. Geburtstag von Irene, der Tochter Elisabeths, der Enkelin von Arthur Eloesser in würdigem Rahmen begingen. Begonnen im Margarete-und-Arthur-Eloesser-Park nahe Bahnhof Charlottenburg und der Dahlmannstraße, fortgesetzt am Stolperstein für Margarete Eloesser vor dem Haus Lietzenseeufer 1. Nun also ein Film. Nicht über Arthur und Margarete Eloesser allein, was denkbar gewesen wäre, sondern über die Familie, die groß ist und großartig miteinander verbunden, wie ich schon in Berlin und jetzt wieder in Frankfurt am Main erleben durfte. Und erlebte. Es ging mir nahe, warum es verschweigen. Irene G. Freudenheim (Jahrgang 1932) ist immer noch von bewundernswerter Vitalität und sie spielt, wie könnte es anders sein, im fertigen Film eine wichtige, in mancher Hinsicht sogar die Hauptrolle. Aus nicht weniger als 100 Stunden Filmmaterial, darunter eigenen Aufnahmen aus den Jahren 2021 bis 2024, haben Miriam Jakobs und Gerhard Schick (FILM UND KONTEXT) einen Dokumentarfilm von üblicher Spielfilmlänge gefertigt, Dramaturgie und Postproduktion heißt das in der Abspann-Sprache.
Der Abspann nennt Jens August als Regisseur. Er ist 2020 im Alter von nur 54 Jahren verstorben, konnte sein 2011 begonnenes Projekt nicht zu Ende bringen. Teile dessen, was er filmte, waren auf der Website https://arthureloesser.de/ zu sehen. Jetzt ist alles in einen Zusammenhang integriert, der einzelnen Sequenzen erst wirkliche Bedeutung gibt. Um es gleich zu sagen: die Postproduktion hat eine für den Zuschauer, der die hundert Stunden Roh-Material nicht kennt, absolut überzeugende Auswahl getroffen. Die Dramaturgie hat eine, wie soll ich sagen, leicht an beste Seiten Hollywoods erinnernde Schnitt- und Kontrastfolge entwickelt. Instinktsicher kommt der Schnitt von tieftraurig, fast unerträglich berührend, zum feinen, zum unaufdringlichen Humor (und umgekehrt). Viele Lacher im Publikum, das vor allem aus der oben erwähnten großen Familie bestand, zeigten mir, was ich sicher in einem x-beliebigen Kinosaal nie hätte empfinden können. Jüdische und deutsch-jüdische Kultur vermittelte sich ohne jeden aufklärerischen Zeigefinger, Lerneffekte en passant sozusagen, immer die angenehmsten, die einem begegnen können. Die singenden und tanzenden Kinder am Ende, die Margarete Eloessers Kinderlied gegen die Dummheit vortrugen, gaben dem Film ein freundliches, ein optimistisches Finale, das hörbar Beifall fand. Wie zuvor mehrfach die Szenen um Urenkel Yoram bei seinem ernsten Bemühen, dem jüdischen Ritual gerecht zu werden.
Die kurioseste Sequenz des Films führt Arthur Eloessers Enkel Michael, jetzt für die Produktion des Films verantwortlich, zum schon uralten Kritiker Marcel Reich-Ranicki. Der beweist einerseits, dass er auch im höchsten Alter noch schlagfertig genug war, sich aus einer ihm sichtbar wenig angenehmen Situation herauszumanövrieren. Weder der Name Arthur Eloesser noch der Name Max Eloesser sagten ihm wirklich etwas. Den Jüdischen Kulturbund kannte er natürlich. Wie viel eigene Erinnerung präsent war dabei, blieb offen. Eloesser-Vorträge im Kulturbund selbst gehört zu haben, behauptete er munter, obwohl das aus rein zeitlichen Gründen wenig wahrscheinlich ist. Die Namen Schiller und Kleist brachte er wohl mit Eloesser zusammen, Goethe dagegen blieb ungenannt. Die Erwähnung der Thomas-Mann-Biographie Eloessers aus dem Jahr 1925 verführte den einstigen „Kritikerpapst“ zu keinerlei Reaktion. Ein Blick in ein Originalheft der Neuen Rundschau mit Text-Auszug Eloesser über Thomas Mann entlockte ihm ein kopfwiegendes „Naja“. Ebenfalls zur Freude des Publikums im Kino „Orfeos Erben“ in der Hamburger Allee. Michael Eloesser besucht im Film mit Sohn Yoram auch W. Michael Blumenthal (Jahrgang 1926) in seinem damaligen Büro im Jüdischen Museum Berlin. Yoram erweist sich als gut informiert und examenssicher, Blumenthal trägt humorvoll seine Erinnerungen an die alljährlichen Besuche bei Onkel Arthur vor.
Hier gibt mir der Film willkommene Gelegenheit, eigene Zweifel und Vermutungen in einer nicht völlig unwichtigen Hinsicht zu korrigieren. Ich neigte aus nachlesbaren Gründen zur Annahme, dass der Umzug des Ehepaares Eloesser aus der Dahlmannstraße 29 zum Lietzenseeufer 1 erst 1933 und damit schon in der Frühzeit des Naziregimes erfolgte. Aussagen Blumenthals über die imposante Bibliothek am Lietzenseeufer meinen aber tatsächlich den wohl für etwa ein halbes Jahr noch komplett vorhandenen Bestand, aus dem dann mehr als 4000 Bände in die Auktion von Ende Juli 1933 im Auktionshaus Max Perl gingen. Wie groß die Bibliothek vor der Auktion war, ist nicht bekannt, eine fünfstellige Zahl von Bänden darf sicher angenommen werden. Wie viel kleiner die Wohnung am Lietzenseeufer im Vergleich zur Dahlmannstraße tatsächlich war, kann ich derzeit nicht mit Sicherheit sagen. Mir wurde aber bedeutet, auch die neue Wohnung sei auf keinen Fall klein gewesen, vier Zimmer auf alle Fälle. Der kleine Blumenthal, sechs, sieben Jahre alt, konnte mit Recht sehr beeindruckt sein. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass schon 2500 Bücher in der Wohnung meiner Eltern allen Besuchern Ver- und Bewunderung abnötigten. In Erinnerung blieb dem Enkel der Schwester von Arthur Eloesser auch, eine der vielen schönen Passagen im Film, dass er immer in bester Sonntagsausstattung zum Besuch gehen musste, ermahnt, sich gut zu benehmen.
Diese Schwester war Ida Johanna Eloesser (22. Mai 1866 – 10. April 1921), die am 25. März 1886 den Kaufmann, Bankier und Stadtrat in Oranienburg, Martin Blumenthal geheiratet hatte. Sie spielt im Film sonst keine Rolle, dafür aber ihre jüngere Schwester Fanny, geboren am 25. April 1869, also ein knappes Jahr älter als Bruder Arthur. Sie wurde, das genaue Datum ist unbekannt, im September 1942 in Treblinka ermordet. In der Berliner Flotowstraße ist für sie ein Stolperstein verlegt worden. Der Film zeigt den Künstler Gunter Demnig dabei (im Mai 2023 verlegte er bereits seinen 100.000. Stein) und gibt auch dem Mann das Wort, der dort die zugehörige Gedenkrede hielt: Horst Olbrich. Der darf, neben vielem, für sich in Anspruch nehmen, als erster und lange einziger den Kritiker und Literaturhistoriker Arthur Eloesser aus der völligen Vergessenheit geholt zu haben. Er selbst verweist dazu gern auf den Verlag Das Arsenal, der ihm mit einer verstümmelten Ausgabe von „Die Straße meiner Jugend“ voranging. Letztlich aber hat der Antiquar und Verleger Olbrich Material gesammelt über Jahre hin, hat ein Buch entworfen, das Eloesser von vielen Seiten vorstellen sollte, leider ist es nie erschienen und liefert bis heute nicht nur seine eigenen zu Eloesser verfassten Beiträge (für Lexika zum Beispiel), sondern bietet auch Hilfe, wenn wissenschaftlicher Nachwuchs bei ihm anfragt. Seiner Initiative verdankt Berlin den Park in Charlottenburg.
Bis heute ist Horst Olbrich Experte für das Transkribieren handschriftlicher Briefe aus dem Eloesser-Kontext und verfolgt Schreibpläne zum Thema. Die hier näher zu benennen, steht mir nicht zu. Im Film kommt er nicht nur mit seiner Rede für Fanny Levy zu Wort. Er ist auch in seinem (nicht mehr betriebenen) Antiquariat am Adenauerplatz zu sehen, wo er Eloesser zu Max Reinhardt vorträgt und über die Tätigkeit des Kritikers für die Vossische Zeitung referiert. Ein Film für Eloesser-Experten ist dennoch am Ende nicht entstanden. Ein solcher wäre auch keine gute Idee gewesen, denn selbst wenn sich die Zahl dieser Experten verzehnfachte, würde sich nicht mehr als die erste Reihe in einem Kino füllen. Was man keinem Film wünscht. Es sollten schon mehr Zuschauer etwas davon haben. Und genau dafür hat der Film auch gute Voraussetzungen, denn er führt nach Südamerika und nach Palästina und später Israel. Er hat einen Zeitzeugen dort ausgegraben, der sich noch an Max Eloesser erinnern konnte. Der nennt den Sohn Arthurs einen Playboy, was zu viel Heiterkeit im Kinosaal führt, und beschreibt seine nur sehr eingeschränkte Befähigung zu körperlicher Arbeit im Kibbuz. Palästina als Exil-Ort und neuer Lebensmittelpunkt kam für Arthur Eloesser nach seinen beiden Besuchen 1934 und 1937 dort nicht mehr in Frage. Was gewesen wäre, wenn, die berühmte spekulative Frage, verfolgt der Film zu Recht nicht weiter.
Wir sehen im Film, dessen Titel „Eloesser. Wege einer deutschen Familie“ natürlich sehr bewusst gewählt ist, nicht nur die Einweihung des Parks mit der Enthüllung der Tafel, die Urenkel Yoram kletternd vornimmt, wir sehen auch Irene Freudenheim auf dem Weg zum Grab Arthur Eloessers auf dem Wilmersdorfer Waldfriedhof in Stahnsdorf. Es ist ein Ehrengrab der Stadt Berlin. Obwohl es nicht zu jedem Zeitpunkt des Jahres auch so aussieht. Den 1998 errichteten Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof Weißensee zeigt er nicht. Dafür aber in eindrucksvollen Bildern das Jüdische Museum Berlin, dessen Gründungsdirektor W. Michael Blumenthal war. Der der Architektur eine gewichtige Rolle beimaß für den anhaltend großen Erfolg des neuen Museums, das auch international höchste Wertschätzung erfährt. Es wäre eine überhaupt nicht abwegige Idee, Arthur Eloesser dort etwa so in Erinnerung zu bringen (schwarzweiß gezeichnet) wie etliche andere namhafte jüdische Deutsche von Walther Rathenau über Leo Baeck, Else Lasker-Schüler bis hin eben zu Marcel Reich-Ranicki. Es gäbe sehr gute Gründe dafür und, nicht ganz unwichtig, es wäre für ihn dort auch noch gut Platz. Vorerst aber bleibt zu wünschen, dass dem Film über die Wege einer deutschen Familie, einmalig und exemplarisch zugleich, Wege zu einem deutschen Publikum geöffnet werden können. Vielleicht als Beitrag zu einer einschlägigen Filmwoche, einem Festival.