Vom Nachleben einer berühmten Goethe-Rede

Es ist nicht irgendeine Rede. Und es war nicht irgendein Datum, an dem sie gehalten wurde. Die Wahl war auf den 24. Februar 1784 gefallen, auf Fastnacht, weil das ein Traditionstag war. Wer den Wortlaut heute zur Kenntnis nimmt, meint, bestimmte Wendungen zu kennen, eine bestimmte Art herauszuhören, die bei Hellhörigen inzwischen gar nicht mehr so gut ankommt. Vor Wahlen wird so gesprochen, den künftigen Wählern wird Lob zuteil, ihr sicheres Urteil betreffend, ihr präzises Wissen, was nun und fortan zu tun sei. Dem Redner von vor 230 Jahren aber geschähe Unrecht, wollte man ihn an den Anfang solcher Rhetorik stellen. Und täte man es, hätte man ihm immer noch zugute zu halten, dass es seine erste und, wie wir längst wissen, auch einzige öffentliche politische Rede war, die er je vortrug.
 
„Im Posthause“, so die Ortsangabe, sprach Johann Wolfgang Goethe zur Eröffnung des neuen Bergbaues zu Ilmenau. Und im Zusammenhang mit dem Bergbau, mit der Geschichte des „amtlichen“ Goethe ist davon oft genug die Rede gewesen. Schon deutlich seltener stand sie im Blickpunkt als politische Rede und noch etwas seltener spielte sie eine Rolle im Bild Goethes als Naturwissenschaftler. Dennoch will dieser Beitrag keineswegs den falschen Eindruck erwecken, als erhelle er bisher verkannte Geheimnisse. Er will erinnern. Zunächst an die weniger bekannte Tatsache, dass Gottfried Benn, als er für „Die neue Rundschau“, Heft 4, 1932, seinen Essay „Goethe und die Naturwissenschaften“ zu Papier brachte, nicht nur viermal Ilmenau nannte, sondern eben auch und gerade der Rede vom 24. Februar 1784 viel Aufmerksamkeit schenkte.
 
Was Benn am Ende der gut 30 Druckseiten, die seine Arbeit in der Fischer-Werkausgabe der Erstdrucke umfasst, von dieser Rede aussagt, grenzt fast an kultische Goethe-Verehrung. Benn, dem man als Arzt überdurchschnittliche Kenntnis von Wissenschaftsgeschichte, speziell Geschichte der Naturwissenschaften natürlich zutrauen muss, überrascht über sein Faktenwissen hinaus vor allem mit der Art der Durchdringung seines Stoffes. Er versucht nicht mehr und nicht weniger als die Revision eines aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stammenden massiven Vorurteils gegen den Naturforscher und Naturdenker Goethe. Benn dreht den Spieß im Schwung seiner Argumentation gewissermaßen um und macht Goethe zum unerreichten Gegenbild gegen Positivismus, mechanistischen Materialismus, instrumentalisierte Wissenschaft.
 
Das liest sich aufregend, überzeugend und erklärt mit diesen seinen Eigenschaften, warum Benn wiederum bei dem sonst Benn wohl eher fern stehenden Ekkehart Krippendorff so etwas wie ein Kronzeuge sein kann. Die Ortsvereinigung Berlin der Goethegesellschaft in Weimar erfreute 1999, im großen Jubiläumsjahr des 250. Goethe-Geburtstages, ihre Mitglieder mit einer Jahresgabe, die wiederum Ilmenau in den Mittelpunkt stellte. „Die Stimme der Polis“ heißt der überarbeitete Kapitelauszug aus einem Buch Krippendorffs mit dem Titel „Goethes Politik gegen den Zeitgeist“, Untertitel „Goethes politische Rede Ilmenau 1784“. Die leserfreundlich gedruckte Gabe mit ihren Illustrationen, ihrer vollständigen Wiedergabe der Rede und einem sehr informativen Anhang ist  antiquarisch gar nicht so selten zu haben und rundum empfehlenswert.
 
Empfehlenswert insbesondere für jene Goethe-Freunde, die sich nicht abfinden wollen mit latenter oder exponierter Geringschätzung alles dessen, was Goethe vermeintlich von seinem vermeintlichen Hauptgeschäft, dem Dichten abhielt. Insbesondere die immer wieder thematisierten ersten zehn Weimarer Jahre wurden und werden gern auf Verlustlisten gesetzt, was Goethes eigener Sicht, die Flucht nach Italien spricht keineswegs dagegen, nie so gesehen hat. Man könnte sich mit dem Hinweis auf den „Wilhelm Meister“ begnügen, der in ein tätiges Leben mündet in ausdrückliche Abkehr von Theater und Literatur. Ekkehart Krippendorff nimmt den alten Goethe sehr ernst, der dem Kanzler Müller bekannte: „Ilmenau hat mir viel Zeit, Mühe und Geld gekostet, dafür habe ich aber auch etwas dabei gelernt und mir eine Anschauung der Natur erworben, die ich um keinen Preis umtauschen möchte.“
 
Wer es sonst gewohnt ist, jedem Semikolon in „Faust II“ höchste Bedeutung beizumessen, sollte das „um keinen Preis“ nicht vornehm überlesen. Goethe meinte es, wie er es sagte. Ilmenau ist demnach nicht nur in der Lesart Krippendorffs der Ausgangspunkt, der Urgrund für Goethes Naturanschauung. „Die Verkürzung des Themas Goethe und Ilmenau aufs Biographische oder auf den tatsächlichen Fehlschlag des Unternehmens würde dabei das Grundsätzliche und Paradigmatische völlig verfehlen.“ Das aber besteht in Krippendorffs Augen darin, dass man Ilmenau „als modellhaftes Projekt jener anderen Moderne“ sehen kann und sollte, die im 21. Jahrundert mehr Anhänger als je hat, man muss Stichworte wie Ganzheitlichkeit oder Nachhaltigkeit dazu nur erwähnen. Wenn Goethe den „anschauenden Begriff“ dem wissenschaftlichen vorzog, dann eben nicht in stupider Wissenschaftsfeindlichkeit, sondern im Wissen um eine andere Wissenschaft. Goethes Naturwissenschaft ging, so die knappe These in der Festgabe, aus dem Ilmenau-Erlebnis hervor. Was dann eben keinesfalls geringer veranschlagt werden sollte als das „Ilmenau“-Gedicht oder das berühmteste aller Goethe-Gedichte.
 
Der Krippendorff-Titel „Die Stimme der Polis“ ist direkt Gottfried Benn entnommen, der  Goethes vom 24. Februar 1784 so vernahm: „Das ist doch die Stimme des Erzvaters vor der Hütte, de rdie Herden ruft, die Silhouette des Hirten steht am Abendhimmel ... das ist noch einmal die Stimme der Polis, der Feste und der Epen, die Stimme der Stätten vor der Mauer, die Stimme der Quelle und des Grabes.“ Den Namen des Ilmenauer Knaben nennt Gottfried Benn natürlich nicht, den Goethe mit einer kostenlosen Kuxe, der Nummer 404, überraschte. Christoph Bernhard Friedrich Höhn durfte auch mit der Keilhaue ran am neuen Johannesschacht wie vor ihm Goethe und die Honoratioren. Goethes Rede aber, so Krippendorff, „spricht von der Anteilnahme, dem gemeinen Besten, vom Wohle der Stadt und des Landes, von unserem Betragen, der Vereinigung der Kräfte, der Beförderung, sie fordert auf zu schützen, aufzuklären, aufzuhelfen, mitzuwirken, zu ernähren, zu erziehen.“ Sie verdient es, nicht vergessen zu werden.
 Zuerst veröffentlicht in:  der NEUE Geheimrat, Ausgabe 60, 2014, S. 28/29


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