Martin Walser: In Goethes Hand
So spielen Zufälle: die Nähe des neunzigsten Geburtstages von Martin Walser zum 285. Todestag Goethes am 22. März 2017 bringt mich auf die nachvollziehbare Idee, doch den einen mit dem anderen zu verbinden. Das zweiaktige Spiel aus dem Jahr 1982, wir ahnen, dass auch da ein Jubiläum still im Hintergrund lauerte, bietet sich an, es enthält, wie der Untertitel verrät, „Szenen aus dem 19. Jahrhundert“. Die Ausgabe, in der ich es las, ist der Band 1062 aus der Insel-Bücherei, Leipziger Zählart, und in diesem Buch steckt immer noch jene Benachrichtigungskarte der Ilmenauer Volksbuchhandlung „Karl Marx“, die mich aufforderte, das Bestellte bis spätestens 30. Oktober 1985 abzuholen, andernfalls drohte Zusendung per Nachnahme oder der Weiterverkauf an einen anderen Kunden. Mich Insel-Sammler musste man nicht bedrohen, ich hätte das Buch um Mitternacht geholt, wenn es nicht anders möglich gewesen wäre. Noch frisch ist die Nachricht, dass die Buchhandlung Grimm, Nachfolgerin der Volksbuchhandlung „Karl Marx“, für immer schließt. Meine Fotos aus der Wendezeit, die Demontage des Namens „Karl Marx“ an der Fassade für die Nachwelt festhaltend, gewinnen unerwartet zusätzliche Historizität. Den Buchhandel soll es weiter geben, wenngleich auf reduzierter Fläche mit reduziertem Personal, und zwar in der Marktstraße.
Ich hätte „In Goethes Hand“ auch in dem dicken Suhrkamp-Taschenbuch 1309 lesen können, das vorn ein Umschlagbild von Alissa Walser zeigt und darin das vorletzte der „Stücke“ ist. Ich griff aber, ein paar Jahre ist es her, zum Inselbuch. Das Stück beginnt mit einer Szene, in der Goethe nackt und tot unter einem weißen Laken liegt, es folgt dann der Rückblick in die Zeit, als Goethe die Verbindung mit Eckermann knüpft und gerade die Ulrike-Episode zu Marienbad hinter sich hat beziehungsweise noch nicht hundertprozentig sicher ist, sie bereits hinter sich zu haben. Bis Ende der vierten Szene jedenfalls, das spielt alles in Jena, ist es noch nicht sicher, ob er überhaupt nach Weimar zurück möchte, oder nicht umkehren gen Böhmen. Es vereinen sich jedoch Kräfte und Motive, ihn nach Weimar zu befördern und am Ende jener vierten Szene zieht ihn eine junge Dame, die unbedingt Schauspielerin werden will in Weimar, sanft in die vorbereitete Kutsche gen Weimar. Wer den späteren Schreibweg von Martin Walser kennt, weiß, dass die Ulrike-Episode ihm einen ganzen Roman entlocken wird, „Ein liebender Mann“. Wer den Roman und Martin Walsers Lebensweg ein wenig kennt, weiß auch, dass da Projektionen sich finden: alter Mann im Spiegel. „In Goethes Hand“ schwimmt kaum verhüllt auch auf der einst modischen Demontage-Welle.
Nur geht das Stück nicht darin auf, denn es zeigt am Schluss einen Goethe in all seiner überlegenen Souveränität. Und es zeigt einen Eckermann, der genau das erkennt und anerkennt, der das letztlich brutale Urteil seines Herrn und Meisters über sich anerkennt. Und Goethe resümiert die gesamte Eckermann-Geschichte in seinem Leben: „Na ja. Ein schmeichlerisches Büchelchen eingereicht, sich eine Stelle als Mitarbeiter am größten Literaturwerk der Epoche erschmeichelt. Zwar nichts verdient, aber ein Ansehen ergattert, das mit eigener Schreibe nie und nimmt zu ergattern war. Und ein Leben lang die köstliche Ausrede: Weil man für Goethe rackern muss, kommt man nicht dazu, die eigenen Gedichte zu schreiben. Die schlechten.“ Das ist nicht mehr und nicht weniger als die Zusammenfassung dessen, was das Stück mit seinen zwei Akten und zwölf Szenen vorführt. Die Szenerien nach Goethes Tod natürlich ausgeklammert. Dort bringt Walser Eckermann noch mit Ferdinand Freiligrath in Kontakt und lässt es zu einem Dialog über Karl Marx kommen, von dem Eckermann nichts gehört hat, ihn allenfalls für einen Lyriker hält, was nicht einmal ganz falsch ist. Walser setzt seinen Goethe, seinen Eckermann 1982 natürlich in die Kontexte dieser Zeit. Walser ist da 55 Jahre alt und hat seine Links-Periode mit forcierter DKP-Nähe hinter sich.
Die Handlung der dritten und auch vierten Szene ereignet sich am 13. September 1823. Sohn August will natürlich verhindern, dass sein Vater sich mit der Ulrike-Geschichte blamiert und lächerlich macht. August argumentiert, Goethe will nicht hören, die Geschichte mit dem Sturz seiner Schwiegertochter vom Pferd schon gar nicht. „Macht euch das klar: Alte! Das ist keine andere Sorte Mensch. Alte wollen, was Jüngere wollen. Kriegen's nur nicht.“ Sagt Walsers Goethe und wenn Walser im Gegensatz zu Goethe kriegt, was Junge auch wollen, dann darf er sich sogar dem Geheimrat überlegen fühlen und hat es wohl auch. Auf „Ein liebender Mann“ ist hinreichend vorausgedeutet. Spätere SPIEGEL-Interviews mit junger Partnerin haben dann auch etwas Triumphierendes, selbst wenn im Text Gegenteiliges stünde. Wohl war Eckermann „In Goethes Hand“, doch an jeder anderen Stelle wäre er nicht der geworden und geblieben, der er wurde und blieb. Und die „Gespräche mit Eckermann“, das legt Martin Walser nun höchst genüsslich nahe, enthalten manchen Goethe-Satz, der nie ein Goethe-Satz war, wohl aber ein Eckermann-Satz in vollendeter Goethe-Mimikry. Diese Deutung hat vermutlich nicht einmal 1982 jemanden wirklich überrascht, dennoch ist sie nett und ein bisschen diabolisch und macht sicher sogar neugierig.
Was mir mein DDR-Inselbuch nicht verriet, war das Datum der Uraufführung am Wiener Burgtheater, Regie Karl Fruchtmann: 18. Dezember 1982. Karl Fruchtmann, den thüringischen Lokalpatrioten sei es besonders herausgestrichen, stammt aus Meuselwitz, wo er am 10. Dezember 1915 geboren wurde, er starb am 10. Juni 2003 in Bremen. Die bei Suhrkamp abgedruckte Stückfassung fußt auf der Bonner Inszenierung von Peter Eschberg am 9. März 1983. Eschberg, am 20. Oktober 1936 in Wien geboren, hatte als Darsteller in seiner Zeit an den Münchner Kammerspielen (1959 – 1965) eine frühe Walser-Erfahrung in dessen Stück „Der Abstecher“ (Premiere am 28. November 1961). Den Eckermann spielte in Bonn Gottfried John. Neben Eschberg und John habe auch Bazon Brock Einfluss auf die Textfassung gehabt, verrät Walser in einer Fußnote. Brock, dem seine bürgerlichen Vornamen Jürgen Johannes Hermann offenbar nicht behagten (am 2. Juni 2016 feierte er seinen 80. Geburtstag), steht auf der Liste meiner 16 beliebtesten Ästhetik-Professoren auf Platz 53, weshalb ich seinen Namen hier lediglich der puren Gerechtigkeit wegen erwähne. Also Eckermann. Gleich in der ersten Szene steht er mit Ottilie an der Leiche und es juckt ihn, dem Goethe eine Locke abzuschneiden. Was er dann doch nicht tut.
Später verrät uns Walser, dass der ewig versoffene Goethe-Sohn August gemeinsam mit Diener Stadelmann eine Art Haar-Reliquien-Geschäft betrieb. August provozierte seinen alten Herrn in der Lesart Martin Walsers gern durch die Nennung des Namens Schiller. August sagt eingangs von seinem Vater: „Er muss nach Weimar. Er braucht Aufmunterung. Immer, wenn er Böhmen verlässt. In diesem Jahr besonders.“ August weiß, wovon er redet und hat Eigeninteresse. Goethe selbst schwärmt dem aufstrebenden Schauspielsternchen Gustchen gegenüber: „In Böhmen, Gustchen, ist der Mensch noch frei. Böhmen rauscht. In jedem Haus in Weimar wohnt ein Sterbender. Die Häuser in Weimar sind Särge.“ Wir wissen: mit Ulrike ist es nichts geworden. Wir wissen, dass Goethe nach seiner siebzehnten Böhmen-Reise 1823 nie wieder dorthin kam. Goethe kennt allerdings auch seinen August genau. Walser lässt ihn sagen: „Sobald er Schiller zitiert, weiß man, er ist voll.“ Und wenig später: „Wer weiß, was Humanismus ist, hat keinen.“ Goethe beginnt somit schon hier (bei Walser) damit, zu Eckermann in Spruchweisheiten zu reden, damit der das immer brav speichere für die Nachwelt, später entlockte Eckermann seinem Meister diese Weisheiten wahrscheinlich nach einem inneren Fehlstellen-Katalog. Für den er tatsächlich eine eminente Spezialbegabung besaß.
Die fünfte Szene spielt sechs Jahre später, Hannchen ist zu Gast bei ihrem Eckermann, den sie „Ecker“ nennt, man ist nunmehr rund elf Jahre verlobt. Sie schneidet ihm die Haare nach der neuesten Mode sehr kurz, Ottilie mag das so, bekennt Eckermann in aller Unschuld und das Gespräch geht um die Zukunft beider. Eckermann wird von Goethe ganz offenbar im klassischen Sinne ausgebeutet, er zahlt ihm nichts. Eckermann muss sich mit Stundengeben durchschlagen. Jetzt macht er sich Hoffnungen, dass Goethe endlich einmal etwas für ihn tut, aber am Ende tut der wieder nichts, weil er nur mit sich beschäftigt ist und Eckermann wagt nicht, etwas zu sagen. Hannchen verlässt fluchtartig den Ort. „Ich bin voller Gedichte, Hannchen. Napoleon wurde gut, als er Josephine hatte. Schiller schrieb das Beste, sobald er verheiratet war. Als Eckermann sein Hannchen hatte, wird es heißen, da fing er an, er selbst zu werden.“ Er bekommt zwar sehr spät noch sein Hannchen, doch es stirbt bald und mit seinen Gedichten hat sein Ruhm jetzt und nie etwas zu tun. Weil sich diverse Maler angesagt haben, bekommt Eckermann einen großen Auftritt. Er wird eine Rede halten an diese Maler, in der er ihnen sagen wird, was sie zu beachten haben im Angesicht des Meisters. Walser bietet den Entwurf der Rede bei der Abnahme durch Goethe.
Als die Rede vor den Malern dann tatsächlich gehalten wird, wird sie nicht noch einmal wiederholt.
Ein überlanges, in sich gekürztes Zitat sei ausnahmsweise erlaubt: „Wie malt man den? Malt Goethe schön, würde ich sagen. Dann malt ihr ihn nicht nur, wie er gemalt werden will, sondern wie er gemalt werden muss. Er ist nämlich schön. Er ist schön geworden durch seine Lebensarbeit. Seine Bildnisse aus fünfzig Jahren beweisen das. … Wer Goethe nicht schön darstellen kann, kann ihn nicht darstellen. Der Verzweiflungsvirtuose muß die Finger lassen von diesem Lebensmann. … So käme ich zum Hauptsatz für diese Sitzung: Wer mich nicht liebt, darf mich auch nicht beurteilen. Unter den Verzweifelten liebt jeder nur sich und seine Verzweiflung. … Solche wie Victor Hugo und Kleist meinten, sie müssten nichts zeigen, als wie man sich krümmt unter den Schlägen des Schicksals, die Verzweiflung feiert und so Gewalt legitimiert. Leiden können wir auch ohne Kunst.“ Da hat Walser eine ganze Philosophie verpackt, einen Rundumschlag, könnte man auch sagen, einen Rundumschlag im Land der Verzweiflungsvirtuosen, der Name Victor Hugos ist nur eine falsch gelegte, eine absichtlich falsch gelegte Spur. Worauf es hinausläuft, bleibt offen, denn eine Literatur der auch nur halbwegs ausdauernd Glücklichen ist nie geschrieben worden.
Immer noch in der sechsten Szene legt Walser seinem Goethe dies in den Mund: „Heute gilt schon als Talent, ewig schussfertig auf die Mängel und Gebrechen der Mitmenschen zu lauern. Beschimpf die ganze Menschheit pauschal, und du bist ein Genie.“ Wir ahnen, was Johann Wolfgang Walser gemeint haben könnte. Was er Sohn August in der achten und letzten Szene des ersten Aktes sagen lässt, spricht für sich selbst: „Sagen Sie meinem Vater: Ich habe vierzig Jahre lang ohne ihn geschissen, ich kann auch sterben ohne ihn. … Er hält es nicht aus, Gedichte von mir. Die besser sind als seine. Viel besser. Mehr Natur. Nicht soviel Schnörkel. Mein Vater ist Rokoko. Immer gewesen. Ich bin 19. Jahrhundert.“ Im zweiten Akt führt die zweite Szene ins Jahr 1848, Eckermann hat vor 14 Jahren sein erst 1831 geheiratetes Hannchen verloren und meint zu Freiligrath: „Es gibt Leute, die können etwas im richtigen Augenblick tun. Das ist Genialität.“ Freiligrath ist kein Freund Goethes und auch kein Freund von Marx (mehr). „Der Bürger Marx reagiert auf das Elend der Elenden mit Selbstauslöschungswut. Wir nicht. Aber wir zaudern. Wir mögen nicht nach Herrschaft greifen. Wir leiden lieber und fühlen uns dem überlegen, der uns leiden macht. … Goethe hat immer nur der Selbstsucht, der Lieblosigkeit geschmeichelt; darum lieben ihn die Lieblosen.“
Das Stück endet mit einem Traum Eckermanns von Goethe, nachdem es vorher noch ins Jahr 1853 geführt hatte. In diesem Traum vernimmt der Getreue: „Sogar politisch kommt man in Betracht! Ein Goethe-Opfer! Opfer des Fürstenknechts! Nicht nur den Fortschritt hat er verhindert, dieser Goethe, sondern auch noch Eckermann. Der allerdings nicht gerade ein Fortschritt gewesen wäre, ha, ha ha.“ Das Stück schließt mit einem Eckermann-Wort, das sehr verdächtig nach Schiller klingt: „Goethe hassen, ich! Man kann ihn nur lieben, lieben, lieben.“ Vielleicht hat sich Martin Walser hinter Ferdinand Freiligrath versteckt, als er den sagen ließ: „Der große Dichter ist kein Vorbild für das richtige Leben und Handeln.“ Denn das war kein Plädoyer für den kleinen Dichter, sondern eine Bitte um Entlassung aus einer Verantwortung, die zu tragen auch der größte Dichter nicht groß genug ist. Martin Walser hat, es sei nicht vergessen und verschwiegen, in Konstanz 1982 auch eine der dort eine Reihe bildenden Universitätsreden gehalten mit dem Titel „Goethes Anziehungskraft“ und für seine „Liebeserklärungen“ 1985 einen „Versuch über Goethe“ verfasst mit dem Titel „Hilfe vom Selbsthelfer“. Dort findet sich der schöne Satz: „Goethe baute sich in Weimar ein grandioses Schneckenhaus, das den Namen Kosmos verdient.“ Sage einer noch etwas gegen Martin Walser.