Goethe 1818

Das falsche Buch in der Hand, kann man schnell zu der Überzeugung gelangen, das Jahr 1818 habe in Goethes Leben keine oder fast keine nennenswerte Rolle gespielt. Es war halt da, es kam nach 1817 und vor 1819, wie es die Jahre eben so tun, sie fallen einfach nicht aus, nicht einmal teilweise. Bei Albert Meier (Goethe. Dichtung - Kunst – Natur, Stuttgart 2011) etwa springt der knappe Überblick „Goethes Leben in Daten“ von 1816 gleich zu 1819 über, bei Rüdiger Safranski (Goethe. Kunstwerk des Lebens, München 2013) taucht die Jahreszahl 1818, falls ich nichts übersah, nur ein einziges Mal auf: als Jahr, in dem Goethe die Korrekturbögen für den „West-östlichen Divan“ in die Hände bekam. Goethe selbst fand 1818 immerhin so wichtig, dass er ihm Text für etwas mehr als sieben Druckseiten der „Tag- und Jahreshefte“ (in der dtv Gesamtausgabe, Band 30) widmete, die, alles andere wäre überraschend, jene sehr seltsamen Wichtungen beibehalten, die der Leser dieser summarischen Bilanzen längst kennt und mit Verwunderung bis Ärger so hingenommen hat.

Wer alle oder auch nur einige der wichtigsten Zeugnisse für Goethes Liebe zu seinen drei Enkeln Walther, Wolfgang und Alma kennt, vermisst am schmerzlichsten in der Jahresrechenschaft für 1818 den Hinweis auf den 9. April, den Tag, da Schwiegertochter Ottilie im Haus am Frauenplan den ersten Enkel, den Stammhalter, den erwünschten Fortträger des Namens Goethe, zur Welt brachte. Dass es eine schwere Geburt war, ist überliefert, dass die Geburt des zweiten Sohnes noch schwieriger sich gestaltete, ebenfalls. Goethe selbst hatte sich scheinbar rechtzeitig aus dem Staub gemacht wie stets in vergleichbaren Fällen. Bei Dagmar von Gersdorff liest sich das so: „April 1818. Als feststand, dass die Geburt in den nächsten Tagen erfolgen würde, hatte es der Dichter allerdings eilig, aus dem Haus zu kommen. … Schwiegertochter Ottilie war von zarter Natur, kränkelte oft, und die ärztliche Kunst war begrenzt. Lieber floh Goethe nach Jena, überwachte den Ausbau der Universitätsbibliothek und verbrachte ruhige Abende bei Freund Knebel, der ihn in seinem Haus mit Blick über das Ziegenhainer Tal auf die anregendste Weise unterhielt.“

Bei Charlotte von Schiller erfahren wir von einem besonderen Wunsch: „Ich wollte, Goethe käme in das stille Haus an der Saale zurück, ehe die Niederkunft seiner Schwiegertochter erfolgt. Denn sie kann sehr hart werden, und die übrige Familie, die so laut handelt und empfindet, könnte in der Nähe seine Ruhe des Gemüts weit eher stören als besänftigen.“ Die Schiller-Witwe kannte die Zimmer gut, in denen Goethe in Jena logierte, sie hatte sie selbst bewohnt. Nach der Niederkunft dann beruhigte sie den Urfreund Knebel: „Es ist doch alles ganz natürlich gegangen, und die Angst der handelnden Personen hat die Begebenheit nur zu tragisch erwartet und zu tragisch genommen. Deswegen bin ich froh, dass der Großpapa kommt, wenn die Gemüter wieder das Gleichgewicht gefunden haben, damit er die Freude rein genieße.“ Zu denen, die das bevorstehende Ereignis tragisch nahmen, gehörte auch Karoline Gräfin von Egloffstein, die ihrer Mutter am 13. März mitteilte: „Goethe geht morgen würklich schon wieder, weil er sich die Angst um Ottiliens Niederkunft ersparen will; wir sind alle recht in Sorge für sie, weil sie so sehr schwach ist ...“.

In Jena hatte Goethe sein 1818 da begonnen, wo er sein 1817 beendete. Die Chronik seiner Jenaer Aufenthalte vermeldet eine zusammenhängende Zeit vom 21. November 1817 bis zum 20. Februar 1818. Die Geburt des Enkels Walther fällt in den zweiten längeren Aufenthalt des Jahres vom 14. März bis zum 15. April. Goethe wohnte im Gasthof „Zur Tanne“, wo vom 29. März bis zum 3. April der „Erste Burschentag“ mit Vertretern zahlreicher deutscher Hochschulen stattfand. Da vom 28. April bis zum 1. Juli eine dritte gut zweimonatige Jenaer Zeit anfiel, könnte man wie schon für 1817 von einem Jenaer Jahr in Goethes Leben sprechen. Jena war noch einmal Station auf der Reise nach Karlsbad, der ersten nach fünf Jahren Pause, und gegen Ende des Jahres Ziel einer Inspektion der Bibliothek. Die Fluchtthese von Dagmar von Gersdorff klingt besser, als sie sachlich belegt ist. Zur Taufe des Enkels am 21. April ist Goethe dann tatsächlich in Weimar und trifft dort auf die erstmals vollständig versammelte Familie der jungen Mutter. Ein Taufprotokoll hält fest, wer da war, darunter Schillers Sohn Ernst, Adele Schopenhauer und Rinaldo Vulpius, und wer nicht.

Herzog Karl Augusts erster Sohn Karl Friedrich argwöhnte schon im Februar 1818: „Mir ahndet, dass er sich wohl zuletzt ganz in seinem lieben Saal-Athen etablieren wird.“ Und wollte das dann durchaus nicht als Drama sehen: „Eigentlich würde doch sein Verlust mehr imaginär als reell sein, denn da er, als Schriftsteller, seine Rolle ziemlich ausgespielt hat und er seit seinem Abgang von der Theaterdirektion hier nicht mehr beschäftigt ist, er sich auch außerdem sehr wenig in der großen Welt zeigte, so genießen wir sein Hiersein beinahe gar nicht, und es ist uns schon lange zumute, als wenn er seit geraumer Zeit abwesend, ja bisweilen, als ob er gar nicht mehr in der Welt wäre.“ Diesen Eindruck auf andere hat Goethe wohl mehr als nur billigend in Kauf genommen. Dass eine solche Einschätzung ausgerechnet an Karl August Böttiger adressiert war, ist mehr als nur eine Fußnote und zugleich auch nicht mehr. Am 16. Februar gab es das traditionelle Maskenfest zum Geburtstag von Maria Pawlowna, zu dem Goethe sich mit „Der Abwesende dem Maskenfest“ entschuldigte. Sein „Maskenzug. Den 18. Dezember 1818“ warf noch keinen Schatten voraus.

Wenn die Geburt des Enkels während der Jenaer Tage in den „Tag- und Jahresheften“ schon keine Erwähnung findet, dann die Aktivitäten dort in ihrer durchaus großen Vielfalt noch weniger: „Mein Aufenthalt in Jena war diesmal auf mehr als eine Weise fruchtbar. Ich hatte mich im Erker der Tanne zu Kamsdorf einquartiert und genoss mit Bequemlichkeit, bei freier und schöner Aus- und Umsicht, besonders der charakteristischen Wolkenerscheinungen. Ich beachtete sie, nach Howard, in bezug auf den Barometer, und gewann mancherlei Einsicht.“ Luke Howard (28. November 1772 bis 21. März 1864) gilt als Begründer moderner Wolkenkunde, ihm verdanken wir die gängigen Bezeichnungen Cirrus, Stratus, Cumulus (Feder-, Schicht- und Haufenwolke). In Goethes Wissenschaftler-Leben markiert das Jahr 1818 den Beginn systematischer meteorologischer Beobachtungen, sie verdrängen andere Fachgebiete nicht, ergänzen seine Tätigkeiten aber wohl spürbar und wie immer in solchen Fällen war der Fach-Neuling rasch bereit, gewonnene Sichten auch schriftlich zu fixieren und in seinen ihm zur Verfügung stehenden Blättern drucken zu lassen.

52 Tage des Jahres 1818 verbringt Goethe in Karlsbad und Umgebung. Das ist, verglichen mit seinen Besuchen in den Jahren 1807 (105), 1808 (122), 1810 (122), 1812 (136), 1813 (107) wenig, auch seine beiden letzten Reisen nach Böhmen dauerten länger: 1822 (70), 1823 (75), für sich genommen bleibt es eine ausgedehnte Tour. Die ersten Gedanken an eine neue Karlsbad-Reise hatte er schon 1816, auch 1817 erwog er die Reise dorthin, tatsächlich aber dauerte es bis zum 23. Juli 1818, als er sich mit seinem Hausarzt, Hofmedikus Dr. Wilhelm Rehbein (1776 – 30. Dezember 1825), auf den Weg machte. In Franzensbad traf er auf die Gräfin Josephine O'Donnell, vormalige Hofdame der zwei Jahre zuvor verstorbenen jungen Kaiserin Maria Ludovica Beatrice, der dritten Gattin von Kaiser Franz. Johannes Urzidil nennt es ein „wehmütiges Wiedersehen“, bei ihm lesen wir über Teplitz 1812: „Goethe sah Maria Ludovica beinahe täglich, und wenn er sie nicht sah, sandte er ihr schriftliche Botschaften durch ihre Hofdame, die Gräfin O'Donnell oder durch Lichnowski.“ Das war der Fürst Karl von Lichnowski, Kammerherr der Kaiserin, der 1814 starb.

Klaus Seehafer zitiert in seiner Goethe-Biografie den Brief des Dichters an Sohn August vom 15. August 1818: „Alles ist ohnehin viel theurer als sonst und von Tag zu Tage durch den Curs noch theurer. … Die Billigkeit und Rechtlichkeit, die sonst in den Carlsbadern war ist gänzlich verschwunden, sie üben das Strandrecht gegen jeden aus den die Krankheit an ihre Ufer verschlägt.“ An Schwiegertochter Ottilie hatte Goethe schon vorher geschrieben: „Bey allem diesem Guten muß man die Theurung ertragen lernen. Sie haben die alten Zahlen der Preise beybehalten, und der Gulden steht beynahe 8 gute Groschen. Dagegen wird aber auch nichts gekauft, weil jeder sein Geld zur täglichen Ausgabe braucht, indessen folgt hier etwas Chokolade, Stecknadeln und dergleichen. Aufträge der Art, welche Stadelmann erhalten, kommen mit Deny etwa in vierzehn Tagen.“ Wie ernst man Goethes vermeintliche Klagen zu nehmen hat, verdeutlicht das klare Urteil von Johannes Urzidil: „Dass sich Goethes Laune zunehmend besserte, beweist seine Kauflust trotz gepfefferter Preise.“ Er sorgte für die Seinen zu Hause, den Enkel Walther bedachte er noch nicht.

Über die Jahre 1814 bis 1823 heißt es bei Klaus Seehafer: „Ein Hauptgeschäft jener Jahre besteht in Goethes Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit.“ Nichts anderes meint der etwas kryptisch klingende Satz in den „Tag- und Jahresheften“ dann auch: „... denn was kann erwünschter sein als entschiedenes Andenken des Höchsten aus einer Zeit, die nicht wieder kommt?“ Seehafer findet, man kann ihm uneingeschränkt zustimmen, die Jahresberichte geprägt von „beträchtlicher Breite und Unanschaulichkeit“: „Und allzuoft erinnert der Stil fatal an jenen, den ältere Herren pflegen, wenn sie Jahr für Jahr ihre Rundbriefe mit behaupteten Wichtigkeiten füllen.“ Ob das Folgende nur eine behauptete Wichtigkeit ist, scheint zweifelhaft: „Für die Einsicht in höhere bildende Kunst begann dieses Jahr eine neue Epoche.“ Denn Goethe ist hier durchaus anschaulich, wenn er sich auf Kupferstiche und Holzschnitte bezieht: „Eine jede Technik wird merkwürdig, wenn sie sich an vorzügliche Gegenstände, ja wohl gar an solche wagt, die über ihr Vermögen hinausreichen.“

Seinen 69. Geburtstag fasst das Tagebuch in diese Worte: „Zu Hause getruncken. Brief von Dorow wegen der Wiesbadner Ausgrabungen. Prof. Dietrich von Comotau. Graf Egloffstein. Dicktirt Anfang der Zinnformation. Briefe nach Hause. Mittag für uns. Prof. Weiß. v. Schütz. Franz Reupel, die geologische Karte von Böhmen bringend. Abends für uns. Nachtmusic.“ Den Brief von Wilhelm Dorow beantwortet Goethe am Folgetag, an August schreibt er noch am 28. August: „Einige schöne Geschencke sind mir geworden. Ein Apparat zu den Entoptischen Farbenerscheinungen höchst nett und bequem. Sehr willkommen weil mich eben diese Betrachtung beschäftigt.“ Der Schenkende war Professor Johann Salomo Christoph Schweigger (8. April 1779 – 6. September 1857), der 1819 aus Erlangen, wo er Physik und Chemie lehrte, an die Universität Halle wechselte. Franz Reupel ist der falsch geschriebene Franz Xaver Riepl (29. November 1790 – 25. April 1857), österreichischer Geologe, Eisenbahn- und Hüttenfachmann, ab 1819 Professor in Wien, er hat die farbige Karte für Goethe eigens angefertigt, der nennt ihn leicht seltsam: „ein junger, weitschreitender Bergfreund“.

Auch Bad Berka darf Goethes Jahr 1818 besonders im Gedächtnis behalten. Sein zweiter längerer Aufenthalt dort fällt in die Tage vom 17. November bis 6. Dezember. Zitiert sei, weil er einfach zu gern vergessen wird, Wolfgang Vulpius: „Goethes winterlicher Aufenthalt in Berka im Jahre 1818 war natürlich weit stiller als die Badewochen von 1814. Er wohnte diesmal nicht im „Edelhof“, sondern im 1. Stock der zweiten Schule, also bei Schütz. Das Haus steht noch, fast unverändert in seiner baulichen Gestalt und ausgezeichnet durch eine Gedenktafel. Leider hat sich nichts von seiner ehemaligen Einrichtung erhalten. Wieder wie vor viereinhalb Jahren war Goethe nach Berka gekommen, um sich eines dichterischen Auftrags zu entledigen. Diesmal hatte er als Weimarischer Hofpoet die Anwesenheit der Kaiserin Mutter von Russland zu feiern.“ Der Ilmenauer dictum verlag führt in seiner Backlist von Hans Gerhard Graef den Titel „Goethe in Berka an der Ilm. Mit ungedruckten Briefen des Badeinspektors Schütz an Goethe“ als Reprint. In Goethes Tagebuch steht zum 17. November: „Um eilf in Bercka. Einrichtung. Begonnen an der Bearbeitung des Aufzugs.“

Nach diesem schrieb Goethe keinen Maskenzug mehr. Adele Schopenhauer besuchte mit Julie von Egloffstein Goethe in Berka und notierte im Tagebuch: „Wir erhielten unsere Rollen bei seinem wunderbaren Festspiel. Wie begeistert kehrten wir zurück! Wie wunderbar ist die Gewalt dieses Mannes über die verschiedensten Gemüter!“ Wie entledigte sich nun Goethe seines Auftrages? Dazu noch einmal Wolfgang Vulpius: „Er tat es, indem er die „dichterischen Landeserzeugnisse“ sowie die Künste und Wissenschaften, die in Weimar gepflegt wurden, in einem wirkungsvoll gruppierten Festzug vorführte. Was Wieland, Herder, Schiller, die vor ihm Dahingeschiedenen, geschaffen hatten, was er selbst gedichtet und gefördert hatte, stellte sich hier selber vor, deutete und würdigte sich gruppenweis und gab in der Vereinigung ein farbenprächtiges Bild der Weimarer Klassik.“ Nach der Aufführung mäkelte Friedrich Wilhelm Riemer, Goethes vormaliger Sekretär und Hauslehrer Augusts, Goethe hätte die Proben nicht scheuen dürfen: „Das Ganze hatte etwas von einem Hasentreiben.“ Goethes Tagebuch 1818 schließt mit dem Satz: „Die Kinder waren auf den Sylvesterball gefahren, wo sie bis am Morgen verblieben.“


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