Charlottes Verlegung nach Straßburg
Ilmenau. Vielleicht ist es doch besser, wenn emeritierte Chemie-Professoren nicht über Goethe sprechen. Es sei, über „Goethe und die Chemie“, dann aber hart am Thema und mit einer automatischen Hupe für jede Stelle, die das Thema verlässt. Günter Marx, Experte für physikalische Chemie, versuchte sich an „Johann Wolfgang von Goethe und die Naturwissenschaften“ und es missriet erwartungsgemäß. Das Thema ist viel zu breit, um in sechzig oder siebzig Minuten auch nur die Idee zu erlauben, alles wenigstens ohne alle Vertiefung anzusprechen, geschweige, es halbwegs auf der Höhe eines akademischen Vortrages abzuhandeln.
Der Referent legte seine Plauderei von Beginn zu breit an, hielt sich viel zu lange pur an die Biographie, obwohl da von Naturwissenschaft noch wenig bis nichts zu berichten war. Leider und peinlicherweise unterliefen ihm nicht nur permanent Unschärfen und Oberflächlichkeiten, die kaum zu entschuldigen waren, sondern auch gröbste Fehler, die in einem Theater mit dem Verlassen das Saales unter Protest verbunden gewesen wären. So verlegte Marx Goethes Verhältnis zur Braut eines Freundes (er meinte offenbar die Wetzlarer Charlotte) unverdrossen nach Straßburg und behauptete, darüber habe Goethe dann den berühmten Roman geschrieben. So ließ er den Weimarer Minister Voigt zur Bergakademie Freiberg gehen, um sich in Sachen Ilmenauer Bergbau kundig zu machen, obwohl natürlich nicht Christian Gottlob derjenige Voigt ist, sondern Friedrich Siegmund, dem in Ilmenau eine Bergrat-Voigt-Straße gewidmet ist.
Anstatt den Ilmenauern Ausführungen über Goethe und den Bergbau einfach in der Annahme zu ersparen, das überrasche hier wirklich niemanden mehr, trug Marx die abenteuerliche Behauptung vor, der mit Goethes Hilfe beinahe neu belebte Bergbau wäre eingestellt worden, weil das geförderte Erz zu wenig Kupfer und Silber enthielt. Nach solchen Fehltritten überhaupt noch zuzuhören und bei den altbackenen Scherzen auch tapfer zu lachen, war eine Leistung, die den wieder überaus zahlreichen Hörern der Seniorenakademie hoch anzurechnen ist. Kann man von der Urpflanze reden und das Wort Italien nicht einmal in den Mund nehmen? Kann zur Farbenlehre kommen, wenn man eigentlich schon fertig ist mit seinem Lichtbildervortrag? Wieso war Urfreund Knebel bei Marx der ehemalige Freund? Das Wort Pantheismus fiel nie, die Zahlen der Reisen in die Schweiz und den Harz stimmten nicht, die damit verbundenen Faktenbehauptungen fast nie, Elefantenköpfe gab es im Plural, Gottfried Arnold verwandelte sich in Gottfried Arnolds.
Dass der Vortrag auch nicht einmal in der Nähe dessen stand, was die Literatur zu Goethe und den Naturwissenschaften seit Jahren hergäbe, kann an einer Unterschätzung des Publikums gelegen haben. Vielleicht aber gibt es auch andere Gründe. Günter Marx über den jungen Goethe in Weimar: „Goethe war ein Halbstarker, wie man heute sagen würde.“ Nein, Professor Marx, so hätte man es vielleicht zwischen 1955 und 1965 gesagt. Das war wohl genau das Problem.
Zuerst in: Thüringer Allgemeine, 14. März 2012 , Unterzeile: Ungewöhnlich viele
halbe und ganze Unwahrheiten zu Goethe; Manuskriptfassung