Arthur Eloessers Goethejahr 1932

Das Jahr, in dem sich Goethes Todestag zum 100. Male jährte, bot gute Gelegenheit, im noch nicht dem Nationalsozialismus ausgelieferten Deutschland des größten deutschen Dichters zu gedenken, nach neuen Zugängen zu ihm zu suchen, alte zu überprüfen, womöglich auch, sich von solchen zu verabschieden. Arthur Eloesser (20. März 1870 – 14. Februar 1938) war gerade in beiden Vorjahren, 1930 und 1931, mit einer umfangreichen zweibändigen Literaturgeschichte hervorgetreten. Die „Weltbühne“ wählte 1929 für einen Vorabdruck aus Band 1 wohl kaum zufällig eine Passage über Goethe. Seine Kompetenz in Sachen des Klassikers musste freilich nicht erst durch die reichlich 250 Druckseiten erwiesen werden, die Goethe und Schiller im längsten Kapitel des ersten Bandes von 1930 gewidmet sind. Dennoch: nicht weniger als achtmal meldete sich der langjährige Autor der „Vossischen Zeitung“ 1932 zu Goethe zu Wort, darunter nur dreimal als Theaterkritiker. Das darf man auffällig finden. Er sah die „Iphigenie“ und er sah „Egmont“. Beide ganz sicher nicht zum ersten Male, frühere Kritiken finden sich allerdings nur zur „Iphigenie“ (1905, 1906, 1909 und 1930), zu „Egmont“ ist die Kritik vom 27. März 1932 die erste überlieferte, warum auch immer.

Den ersten Anlass des Jahres, sich zu Goethe zu äußern, fand Eloesser in einer umfangreichen Gesamtdarstellung mit dem schlichten Titel „Goethe“, erschienen schon 1930 im Leipziger Insel-Verlag. Ihr Verfasser: Eugen Kühnemann (28. Juli 1868 – 12. Mai 1946). 522 Seiten füllen Band 1, 594 Seiten Band 2. Begonnen hatte der im Riesengebirge geborene Kühnemann mit Arbeiten zu Turgenjew und Tolstoi, zu Herder, zu altgriechischen Philosophen und Spinoza. Über Fachkreise hinaus dürften ihn allenfalls Sammler der Insel-Bücherei kennen, denn dort erschien als Nummer 464 „Schiller und seine Welt“, knapp 80 Seiten stark. Seine beiden Goethe-Bände sind aktuell zum Preis von 15 bis 33 Euro plus Versandkosten in verschiedenen Antiquariaten zu haben. Ob es lohnt, nach ihnen zu greifen, dafür kann die Kritik Eloessers auf alle Fälle Fingerzeige liefern. Der auch das weiß: „Kühnemann ist ein hervorragender Redner, von einem Enthusiasmus, der ihn verführerisch macht und der viele festliche Versammlungen nach dem Glanz seines Wortes verlangen lässt.“ Sein zweibändiges Goethe-Werk nimmt den „Faust“ ins erzählerische Zentrum: „Goethes Persönlichkeit, Werk und Schicksal soll hier von seinem höchsten Gipfel übersehen werden; das ist der Faust. Dieser Standpunkt lässt sich annehmen.“

Auch die Ausgangsintention Kühnemanns nimmt Eloesser erst einmal beifällig hin: „Der Breslauer Professor will hier als Philosoph tätig sein, den philologischen Kleinkram verabschieden, an dem schon mehr als eine Generation müde wurde.“ Denn so ähnlich könnte er auch die eigene Position zu Goethe beschreiben, ohne sie sofort philosophisch zu nennen. Der Besonderheit des „Faust“ im Werk Goethes gibt der Kritiker mit einem Zitat noch eine spezielle Note: „Herman Grimm sagte einmal sehr fein, dass wohl alle Helden von Goethe etwas Passives, Weibliches haben, nur nicht der Faust; der ist zu ihrer beständigen Ergänzung aus den männlichen Zellen von Goethes Konstitution gebildet.“ Wie aber verfährt Kühnemann in seinem Werk? Er „umgibt sein Hauptthema mit den Betrachtungen der anderen Werke wie mit einem Nebengerank … Die italienische Reise wird sehr treffend gewürdigt als ein Abschluss der Renaissance, als Gipfelpunkt einer langen aristokratischen Entwicklung in Europa.“ Das Verhältnis Goethes mit Schiller nimmt Kühnemann als Höhepunkt in Goethes Leben, er bezieht, nicht ganz einsichtig auf den ersten und zweiten Blick, Kant ein in ein „Triumvirat“, das Eloesser aber klaglos toleriert, nur auf sprechende Art ergänzt: „Aber Goethe hat später auch gelächelt über ein ästhetisches Reich, das aus Luftmauern gegründet war“.

„Auch der Weg von Kühnemann geht hier etwas durch die Luft, und sein Goethe isoliert sich zuweilen, als ob er allein in der Welt gewesen wäre.“ Diese Aussage ist Eloesser so wichtig, dass er sie am Ende seiner Besprechung noch einmal wiederholt: „Aber wie gesagt, seine Größe scheint hier etwas isoliert, zuweilen einen leeren Raum übergipfelnd, statt des beständig erfüllten und höchst realen, in dem Goethe allseitig empfangend und zurückgebend geschaffen hat.“ Nimmt man noch dies hinzu, dann wird die Tendenz der Kritik mehr als deutlich: „Es ist wohl ein Mangel an Plastik, der Kühnemanns Darstellung bei aller großartigen Übersicht um die entsprechende Nachwirkung bringt; sie ist nach seinem Willen für voraussetzungslose Menschen bestimmt, aber ich fürchte, dass gerade diese nicht auf einen festen Boden gesetzt werden. … Der Philosoph Kühnemann hat sich auch nicht über tausend Seiten in der höchsten reinlichen Zelle halten können, er ist auch auf das Katheder heruntergestiegen, besonders mit einer Analyse des Faust, der Fassung für Fassung, Akt für Akt, doch wohl mehr für Studenten interpretiert wird.“ Und just die neigen in aller Regel nicht dazu, tausendseitige Bücher zu kaufen, die sie am Ende kaum wirklich brauchen.

Noch vor dem Todestag druckte das Unterhaltungsblatt der „Vossischen Zeitung“ Arthur Eloessers „Goethe in Tennstedt oder Die verunglückte Badereise“ in der Abendausgabe vom 18. März. Die Morgenausgabe hatte bereits einen Einspalter „Unterm Strich“ gebracht, in dem Eloesser über ein „Goethe-Festspiel“ im Kroll-Theater schrieb. Das 1844 erbaute Gebäude diente in den Jahren 1894 bis 1933 als Operntheater, 1933 zog der Reichstag ein, nachdem dessen Gebäude am 27. Februar 1933 dem „Reichstagsbrand“ zum Opfer gefallen war, der bis heute immer neue Forschungen zu den wahren Umständen und Beteiligten auslöst. 1932 aber erlebte das Haus das genannte Festspiel. Verantwortlich zeichnete Wilhelm Leyhausen (23. 8. 1887 – 7. 11. 1953), der 1923 an der Berliner Universität einen Sprech-Chor gegründet hatte, ab 1939 Sprecherziehung, ab 1943 Rhetorik als Fächer dort vertrat und auch nach 1945 dort noch drei Semester lang Übungen abhielt. Mit dem Sprech-Chor und einigen Darstellern wurden „Prometheus“ und „Pandora“ gegeben, später dirigierte Erich Orthmann (17. 8. 1894 – 1945) im musikalischen Teil Beethoven. Orthmann war schon 1931 der NSDAP beigetreten, was ihm sicher den Weg ebnete, von 1935 – 1945 Intendant der Volksoper (Theater des Westens) zu sein, 1945 nahm er sich in Bad Saarow das Leben.

Eloessers kurzer Text ist ein Musterstück vernichtend kritischer Ironie, er sei deshalb etwas ausführlicher zitiert: „Die beiden Dramolette, das des Titanentrotzes und das einer tiefen weisheitsvollen Besinnlichkeit, haben mit dem Theater nichts zu tun. Wenn sich ihrer noch ein Idealist annimmt, der sich gegen die Bühne schon des öfteren als hochgestimmter Dilettant bewährt hat, so wird nichts Gutes dabei herauskommen. Der Abend war kurz, aber schmerzhaft, er hat uns gegen alles gestählt, was noch kommen kann, und wir werden jeder Strapaze des Jubiläumsjahres gewachsen sein. Über den Sprechchor der Universität kann ich meine Meinung nicht ändern, allenfalls zugeben, dass er wohlgeschult von Deutlichkeit und Sprache und Gebärde nichts zu wünschen übrig lässt. Gehobene Arme sind Freude und niederhängende sind Trauer. Sprechchor ist Barbarei, und wenn er an etwas denken lässt, so ist es vielleicht der Schlachtgesang, mit dem die alten Germanen nach Tacitus ihre Feinde erschreckten.“ Zu den zum Einsatz gekommenen Schauspielern: „Ausnahmen bewilligt für Fritta Brod und Leopold Biberti, die wenigstens vom Bau sind, und für Erich Strömer, der allein Temperament und Talent andeutete. Die anderen Herren zeigten nur die Zähne.“

Die verunglückte Badereise, von der die Leser der „Vossischen Zeitung“ am selben Freitag noch in der Abendausgabe lesen konnten, ereignete sich 1816. Vgl. zu Goethes Jahr 1816 auch mein http://www.eckhard-ullrich.de/mein-goethe/2388-goethe-1816, dort ist Eloessers Beitrag von 1932 noch nicht berücksichtigt, dafür aber spätere Texte, die wiederum Eloesser noch nicht kennen konnte. Er erzählt die Geschichte in gut feuilletonistischem Plauderton, nennt den Ort, da die Kutsche stürzte, da „Kunscht-Meyer“ sich eine blutende Platzwunde an der Stirn zuzog, Münchenholzen, was man genau so lange als seltsamen Fehler ansehen darf, bis man die Quelle zu Rate zieht, die er benutzt. Und die ist ein Brief, den Goethe an seinen Freund Zelter schrieb unter dem Datum des 22. Juli 1816. Dort nennt Goethe den Ort des Ereignisses selbst Münchenholzen, was im Ort Mönchenholzhausen, denn um den handelt es sich, seine erste urkundliche Erwähnung fällt in das Jahr 876, mit ironischen Anführungsstrichen toleriert wird. Immerhin ist es in der Chronik des Ortes neben dem Abschied Napoleons vom Zaren Alexander an der heutigen B 7 in Richtung Utzberg im Jahre 1808 das Ereignis aller Ereignisse. Aus Goethes Brief geht hervor, dass der Entschluss, nach Bad Tennstedt zu gehen und nicht nach Baden zu Cotta oder Wiesbaden zu Zelter, einer Abwägung folgte.

Das Angebot des Freundes, ihm die Auslagen in Wiesbaden zu ersetzen, nimmt Zelter, ohne sich lange zu zieren, natürlich an, 13 Gulden hat er für das Quartier in der „Rose“ bezahlt, eine Reiserücktrittsversicherung gab es damals noch nicht. „Ich erzählte aktengetreu die Geschichte einer Badereise, die, glaube ich, als Symbol gelten kann für die unabsehbare Vielheit von Goethes Tätigkeit, die sich aber in der Einheit eines geheimnisvoll wirkenden Zentrums zusammenfasst, für die Freundschaft mit dem Leben, das er überall lebenswert fand oder dazu machte...“. So resümiert Eloesser seine Erzählung über die „verunglückte Badereise“, die sich letztlich als keineswegs unglücklich darstellte. Auch wenn zunächst schlechtes Wetter war, wenn man sich im Hause zu beschäftigen hatte, man konnte sogar der Tapete Aufmerksamkeit schenken und den Diener Carl das Manuskript des „Rochusfestes“ gleich mehrfach abschreiben lassen. Zu tun gab es schließlich auch draußen, als es sich aufheiterte: Schnecken sammeln mit Carl, 22 Bäder vermeldet die Statistik. Aus dem heimischen Weinkeller, frisch gefüllt, merkt Eloesser an, wurden zwei Dutzend Flaschen Burgunder geordert. Er entdeckt auch eine „Bemerkung, die jeden Grafiker entzücken muss: Hier ist noch keine Farbe; aber mehr als Farbe.“ „Goethe hat Tennstedt in seiner Farbenlehre wissenschaftlich geehrt wegen der schönen Farbenspiele auf seinen Schwefelwassern. Aber er hat es durch keine poetische Huldigung zu einem Hort des Goethekultus gemacht.“

Die „Vossische Zeitung“ erfreute ihre Leserschaft im Goethejahr mit gerahmten Goethe-Zitaten. Das Tennstedt-Feuilleton umrahmt dies: „Ihr müsst mich nicht durch Widerspruch verwirren! / Sobald man spricht, beginnt man schon zu irren.“ Eindeutig zu verstehen ist der Satz: „An diese Schwefelquelle hat er keine von seinen Frauengestalten gesetzt, und es gibt keine Tennstedter Elegie auf diese so glücklich verunglückte Badereise.“ Die nächsten Arbeiten im Jubiläumsjahr forderten den Theaterkritiker. Im Deutschen Theater sah er die „Iphigenie“, im Staatstheater den „Egmont“. Zur „Iphigenie“ hielt er sich knapp, zum „Egmont“ schrieb er mehr, aber auch nicht so viel wie zu manch anderem Theaterabend in seiner langen Kritiker-Laufbahn. Die Knappheit am 26. März hat eine einfache Erklärung: Eloesser kannte just diese Inszenierung in der Regie von Richard Beer-Hofmann bestens, eine Kritik zu ihr stand am 30. Mai 1930 in der „Vossischen Zeitung“. Dort wiederum hatte er auf seine ausführlichere Behandlung der „Iphigenie“ im ersten Band seiner Literaturgeschichte verwiesen, viel mehr glaubte er also nicht sagen zu müssen. Es soll deshalb auch nicht mehr dazu gesagt werden als: Helene Thimig (5. Juni 1889 – 7. November 1974) war die Iphigenie, Gustav Gründgens der Orest, Matthias Weimann ein für Eloesser noch zu junger Thoas. „Das war eine Goethe-Feier ohne die lärmenden Begleitumstände offizieller Feierlichkeit.“

Auch zum „Egmont“ hat Eloesser sich natürlich in seiner Literaturgeschichte ausführlich geäußert, auf eine eigene Theaterkritik aber konnte er 1932 nicht verweisen (Kenntnisstand jetzt, weitere Fundstellen jederzeit denkbar). Immerhin geht aus dem Text seiner Kritik eindeutig hervor, dass er den „Egmont“ selbstverständlich auch von der Bühne her kennt. Die Inszenierung im Goethejahr besorgte Jürgen Fehling (1. März 1885 – 14. Juni 1968). Da war er bereits zehn Jahre am Staatstheater, wohin ihn Leopold Jessner gerufen hatte. Am Staatstheater inszenierte er bis 1944 mehr als 100 Stücke. Auch er stand nach der Schließung aller deutschen Theater 1944 auf der bereits erwähnten „Gottbegnadeten-Liste“. Mit seinem „Egmont“ war Kritiker Eloesser jedoch höchst unzufrieden. Seine Sicht kommt am deutlichsten in dem Satz zum Ausdruck: „Der Regisseur scheint den Schauspielern gesagt zu haben: Kinder, vergesst nicht, es ist ein Trauerspiel!“ Schon die Bühne war nicht nach Eloessers Geschmack: „Ich weiß auch nicht, warum dieses lebenslustige Brüssel aus lauter grauen veralteten Klagemauern besteht und warum auch Egmont, Alba, die Regentin und selbst Clärchen dieselbe dunkle Mauer gemietet haben. Nur das Mobiliar ist etwas verschieden aber überall gleich dürftig.“ Hat die Musik den Regisseur so traurig gemacht?

Immerhin dirigierte Otto Klemperer (14. Mai 1885 – 6. Juli 1973) die Beethovensche „Egmont“-Musik. „Egmont mit der Musik von Beethoven ist immer Festvorstellung. Danken wir dem Meister, der mit Goethe, außer in der Kunst, nie recht zusammenkommen konnte, und seinem Interpreten Klemperer.“ So beginnt die Kritik in der Sonntagsausgabe der „Vossischen Zeitung“ vom 27. März 1932, die, was selten genug vorkam, noch einen zweiten Beitrag von Eloesser enthielt, unter der Überschrift „Katholische Literaturgeschichte“ zu lesen in der Beilage „Literarische Umschau“. Vielleicht hat den Kritiker auch die eigene intime Kenntnis Hollands und der Niederländer daran gehindert, die Inszenierung als eine mögliche hinzunehmen? „Diese Niederländer, die ein frohes, freies, gern genießendes Volk sein sollen, waren schon im Anfang so gedrückt, als ob Alba sie längst am Kragen hatte. Das Armbrustschießen war nicht lustiger als eine Beerdigung.“ Noch heute große Namen der Berliner und deutschen Schauspielgeschichte wirkten mit: Hertha Thiele, Rudolf Forster, Veit Harlan, Hans Leibelt, Maria Koppenhöfer, Aribert Wäscher, Elsa Wagner, Lothar Müthel. Ohne ihre Vornamen sind die Herrn Hans-Joachim Büttner, Fritz Genschow und Ludwig Donath genannt und mehr dann schon auch nicht. Wie sie sich nach dem 30. Januar 1933 und vor allem, wohin sie sich entwickelten, wäre ein Thema mit aufschlussreichen Perspektiven.

Manches davon durfte und musste der Theaterkritiker Eloesser noch erleben, bevor er nur noch das Jüdische Kulturbund-Theater besuchen durfte. Rudolf Forster als Egmont: „Dieser sehr langbeinige Herr trägt einen grauen Bart und einen wirren grauen Schopf. So stolziert er wie ein Don Quichote oder wie ein Philosoph, der sich vor lauter Eigensinn in der Welt nicht mehr zurechtfindet. … Dieser Egmont schien sich mit seiner letzten Eroberung, dem Ferdinand, viel wohler zu fühlen, wie Forster überhaupt erst kurz vor der Hinrichtung aufzuwachen schien, wenn er begeistert in den Tod für die Freiheit taumelt.“ Die Kritik endet in der Perspektive des Literarhistorikers: „Der junge und auf Goethe noch eifersüchtige Schiller wollte dem Grafen Egmont, weil er nur ein Lebemann ist, sein Mitleid nicht schenken. Wir hatten uns immerhin daran gewöhnt, es zu tun. Aber die Figur und ihre Tragödie ist gestern von einem Regisseur entzaubert worden, der offenbar zu viel gedacht und dem Jubilar Goethe, nein dem jungen Goethe, zu wenig vertraut hat.“ Der Kritik folgt eine offenbar von der Redaktion für wichtig gehaltene Protokoll-Notiz. Sie reiht illustre Namen aneinander, die als geladene Gäste im Theater saßen, den Abwesenden gilt die Pointe: „Die in Urlaub gegangenen Reichs- und Staatsminister waren durch ihre Staatssekretäre vertreten. Sie haben zu einer eigenen stillen Feier je einen Band Goethe mitgenommen. Der Kriegsminister liest Hermann und Dorothea, der Reichskanzler die Römischen Elegien.“ War das von Monty Jacobs? Es würde zu ihm passen.

Die weiteren Beiträge Eloessers zum Jubeljahr 1932 sind Buchkritiken, am Ende in „Schriften zum Goethe-Jahr“ fast nur noch Annotationen, auch von diversen Reden, die gehalten und gedruckt wurden. Zunächst aber wandte er sich Heinrich Hubert Houben zu und dessen Buch „Der polizeiwidrige Goethe“. Es erschien, versehen mit 14 Abbildungen, darunter 8 Tafeln, im Verlag G. Grote Berlin. Die knapp 200 Seiten gliedern sich in 16 Abschnitte, der elfte trägt übrigens den Titel „Egmont, der Aufwiegler“. Mein Exemplar des 90 Jahre alten Buches ist in bestem Zustand und also immer einladend. Houben (30. März 1875 – 27. Juli 1935), Altersgenosse von Thomas Mann und Rainer Maria Rilke also, ist am bekanntesten mit seinen Forschungen zur Zensur geworden. Noch 1990 erschien in der hinscheidenden DDR im Leipziger Reclam-Verlag als Nummer 1340 „Hier Zensur – wer dort?“ und „Der gefesselte Biedermeier“ in einem Band, zu spät als verdeckter Beitrag zur Zensur-Debatte dort, historisch interessant natürlich immer. Arthur Eloesser: „Das amüsante Buch könnte auch „Der polizeifreundliche Goethe“ heißen. Der Weimarer Minister war wenigstens in politischen Sachen durchaus für eine scharfe Tonart, die schließlich sein eigener Herzog mäßigen musste.“

Insgesamt las der Kritiker das Buch eher distanziert: „Die allgemeineren Urteile Houbens über den Politiker Goethe scheinen mir nicht immer vertretbar; er sieht etwa und immer noch vom Standpunkt der Jungdeutschen, die ihm teuer sind und denen er eine reiche lebenslängliche Bemühung gewidmet hat.“ Tatsächlich begann die Reihe der Houbenschen Bücher mit „Gutzkow-Funde“, er gab dessen Werke in zwölf, Heinrich Laubes Werke gar in fünfzig Bänden heraus, edierte aus Zeitschriften des Jungen Deutschland und kam fast unvermeidlich dabei auch auf die Thematik Zensur und Verbote in der deutschen Literaturgeschichte. „Der ungemein findige Houben, vor dem kein Aktenschrank sicher ist, hat übrigens die ihm gewiss wohlbekannte Tatsache nicht mitgeteilt, dass auch die Werthertracht bei Geldstrafe verboten war.“ Immerhin hat er sich, was im Festjahr ja eher unüblich ist, ein „unfeierliches Thema“ ausgesucht. Den Lesern der „Vossischen Zeitung“ bringt Eloesser speziell dies in Erinnerung: „Bekannter ist der scharfe Verweis an die Vossische Zeitung, weil sie über die Geburtstage von Hegel und Goethe mit einer Aufmerksamkeit berichtet hatte, die nur Souveränen zukam.“ Das ging an die Adresse von Friedrich Wilhelm III.

Diffiziler verhält es sich mit der Kritik unter der Überschrift „Goethe im XX. Jahrhundert“. Das ist zugleich der Titel des Buches, zudem sich Eloesser äußert. Geschrieben hat es Hugo Bieber (13. September 1883 – 30. September 1950), erschienen ist es im Wegweiser Verlag Berlin für den Volksverband der Bücherfreunde, es ist 283 Seiten stark. Hugo Bieber war es, der nach der Vorankündigung der „Vossischen Zeitung“ vom 12. Oktober bereits am 9. November 1929 dort eine Besprechung der Literaturgeschichte publizierte. Am 18. Dezember 1931 ließ Bieber dort seine Kritik zum zweiten Band erscheinen. Wenn sein eigenes Goethe-Buch nunmehr im Gegenzug von Arthur Eloesser besprochen wird, dann kann der Verdacht, es handele sich womöglich um eine Gefälligkeitsrezension, nicht ganz von der Hand gewiesen werden, zumal sich der Kritiker sehr im Allgemeinen bewegt und kritische Anmerkungen immer freundlich bleiben. Es ist ohnehin nicht treffend, auch nicht einmal schlau, Gefälligkeitskritiken unter Pauschalverdacht, unehrlich zu sein, zu stellen. Ganze Literaturmagazine leben vom gegenseitigen Lob ihrer Autoren, ich nenne als Thüringer absichtlich keine Namen, zumal Palmbäume hier eher als exotisch gelten müssen.
Eloesser sieht bei Bieber einige Jugendwerke Goethes „mit unverdienter Breite behandelt“.

Und er kritisiert etwas, was man besser versteht, wenn man seine zahlreichen eigenen Äußerungen zu Josef Kainz, dem Schauspieler und Freund, zur Kenntnis genommen hat. Eloesser schreibt, Bieber habe sich „vielleicht mit zu weit gehender Vorsicht aller pathetischen Liebeserklärungen enthalten. Die Liebe oder die leidenschaftliche Anhänglichkeit dürfte auch einmal ungestümer sprechen. Aber da die anderen davon meistens zu viel haben, so tut diese Sachlichkeit und Folgerichtigkeit wohl“. Deshalb: „Andere Erbauungsschriften aus dem Feierjahr versichern uns, dass der Jubilar ein großer Mann war; aus dieser können wir etwas lernen, und so ist sie in ihrer ruhigen denkerischen Spannung um so Goethischer.“ Ein abschließende Hinweis des Kritikers gilt der Betrachtung, die Bieber dem der bildenden Kunst entsagenden Goethe widmet. Das wäre ein Tipp, falls dort oder da doch noch einmal jemand einen Blick in diesen Hugo Bieber werfen mag. Was noch bleibt, sind die „Schriften zum Goethe-Jahr“, am 9. August 1932 im Unterhaltungsblatt der „Vossischen Zeitung“ zu lesen, das mit einer kleinen Erzählung von Marieluise Fleißer aufmachte, Titel „Der gute Zweck“. Allein die Namen der Goethe-Autoren, die Arthur Eloesser aufzählt, bedürfen der Aufklärung, sind sie doch heute fast durchgängig vollkommen vergessen.

Oder eben in engen Fachkreisen noch ebenso hinreichend für eine Fußnote oder eine Nennung im Literaturverzeichnis am Ende einer Publikation. Nicht weniger als 19 Titel führt Eloesser zusammen und er liefert nicht nur Belege seiner großartigen Belesenheit, sondern auch seiner nicht selten, auf alle Fälle aber zu selten blitzenden Fähigkeit, einen vernichtenden Schlag zu führen. Zum Buch von Heinz Kindermann (8. Oktober 1894 – 3. Oktober 1985), der 1933 nicht nur der NSDAP beitrat, sondern auch „förderndes Mitglied“ der SS wurde, schreibt Eloesser: „Wenn er in der Dichtung des jungen Goethe schaufelt – es ist aber schon ein Bagger unter Dampf und mit kreischenden Ketten -, so sind wir unfroh, nicht einmal Regenwürmer zu finden.“ 1954 durfte der eben noch bekennende Nazi Kindermann wieder Professor in Wien sein, das Buch „Goethes Menschengestaltung“, erster Band, muss man nicht nur aus diesem eklen Grunde nicht kennen. Wolfgang Martini steuerte sein Buch „Die Technik der Jugenddramen Goethes. Ein Beitrag zur Psychologie der Entwicklung des Dichters“ im Weimarer Böhlau-Verlag bei und 310 Seiten stark: „Eine umständliche Seminararbeit, sogar mit statistischen Erhebungen“, fand Eloesser.

Um dann zu ätzen: „Mehrere Seiten des Buches sind aus Versehen unbedruckt geblieben; zwischen diesen und den bedruckten finde ich in bezug auf den Nutzen nicht viel Unterschied.“ Hohes Lob findet ein Buch von Heinrich Rickert (25. Mai 1863 – 25. Juli 1936), höchstes Lob aber trifft, wen wundert es wirklich, Thomas Mann mit seiner Akademie-Rede „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“, die nach 1932, und wen wundert das, vielfach allein und in diversen Sammlungen nachgedruckt wurde. Hier erlaubt sich Eloesser, der Thomas-Mann-Biograph des Jahres 1925, sogar eine mild kritische Anmerkung: „Das Ironische, Zynische, Nihilistische an Goethe wird nicht verschwiegen; aber warum gehört das auch zum Bürgerlichen?“ Sonst aber gilt für diese Rede: „Man nimmt sich die Freiheit, auch von Hammelbraten mit Gurkensalat zu sprechen, um seine Betrachtung auf eine Höhe herauf zu schrauben, wo das Bürgerliche sich wieder entbürgerlicht.“ Im Detail müsste man das nachlesen, auch die Reden von Albert Schweitzer, von Julius Petersen und Herbert Cysarz, die des Kritikers Wohlwollen erregen. Gundolf konnte seine Rede nicht mehr selbst halten in Paris, denn er war schon tot, gedruckt aber kam sie rechtzeitig.

Nach dem 9. August 1932 erschien der Name Eloesser zwar noch etliche Male in der „Vossischen Zeitung“, als Theaterkritiker wie auch mit sonstigen Beiträgen, Goethe als Gegenstand aber mied er vorerst. Auch damals summierte sich das Viele zu einem Zuviel, Sättigung ging nahtlos über in Übersättigung. Ein Buch erwähnt der Kritiker erst zum Schluss und man muss suchen, um es zu identifizieren: „Dieser Band Goethe vereinigt die nach dem Tode zuerst erschienenen Nachrufe von Schelling, Carlyle, Saint-Marc Girardin und dem russischen Unterrichtsminister Uwarow vor der Petersburger Akademie. Also die ersten Huldigungen der Weltliteratur an seine Unsterblichkeit.“ Es ist da ein seltenes Buch gemeint, Herausgeber Arthur Meiner (28. Juni 1865 – 23. Dezember 1952), der Verleger und Halbbruder des berühmteren Verlegers Felix Meiner. Genauer Titel: „Goethe. Gedenkworte von Schelling, Carlyle, Girardin, Uwarow“, verlegt in Leipzig von den Werkstätten der Staatlichen Akademie für graphische Künste für den Leipziger Bibliophilen Abend 1932. Eine Rarität auch im Antiquariatsmarkt. Außer den Nachworten enthält es Begleitworte von Hermann Michel, Richard Schmidt, Levin L. Schücking und Georg Witkowski. Es gab nur 200 Exemplare im Quartformat, „eine Veröffentlichung von hervorragend schönem Druckbild“. So Arthur Eloesser.


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