Arthur Eloesser sieht Goethes "Iphigenie"

An jenem 19. Januar 1802, es war ein Dienstag, saß Goethe in Knebels alter Stube in Jena. Er schrieb an Schiller, den er zu einer Inszenierung seiner „Iphigenie auf Tauris“ animieren wollte. Er sah in Schiller in dessen letzten, von Krankheit immer schwerer überschatteten Lebensjahren gern den allzeit bereiten Dramaturgen, Bearbeiter, Übersetzer, übersah großzügig, wie er dem „Freund“, der das im herkömmlichen Sinne ja niemals war, die verbleibende Lebens- und Arbeitszeit raubte. In diesem Brief steht die berühmteste Stelle, die Goethe je über sein eigenes Frühdrama hinterließ. Und sie steht da, ohne dass der Titel dieses Dramas aus der Übergangszeit vom Sturm und Drang in die Weimarer Klassik überhaupt fällt. „Hierbei kommt die Abschrift des gräzisierenden Schauspiels.“, lesen wir. „Ich bin neugierig, was Sie ihm abgewinnen werden. Ich habe hie und da hineingesehen, es ist ganz verteufelt human. Geht alles halbwegs, so wollen wirs versuchen: denn wir haben doch schon öfters gesehen, dass die Wirkungen eines solchen Wagestücks für uns und das Ganze inkalkulabel sind.“ Wie es weiter ging, kann und soll hier nicht interessieren, wiewohl natürlich alles, was der Theaterpraktiker Schiller anzumerken hatte, höchst interessant bleibt.

Johann Peter Eckermann, der die Ehre hatte, sich noch mehr als Schiller von Goethe ausnutzen zu lassen, notierte sich unter dem Datum des 18. September 1823, es war ein Donnerstag, unter anderem dies aus Goethes Mund: „Wie oft ist nicht die Iphigenie gemacht, und doch sind alle verschieden; denn jeder sieht und stellt die Sachen anders, eben nach seiner Weise.“ Auch wenn Goethe das drei Tage vor Eckermanns 31. Geburtstag auf die Bearbeitung des antiken Iphigenie-Stoffes durch verschiedene Autoren im Laufe der Jahrhunderte bezog, kann man es natürlich auch zwanglos auf die Inszenierungen beziehen, die im Lauf der mittlerweile auch schon fast 250 Jahre anhaltenden Rezeption der Goetheschen Fassung auf kaum noch zählbare Bühnen kamen. Womit wir bei Arthur Eloesser angelangt wären, der einige wenige dieser Inszenierungen erlebte, zur Zeit nachweislich zwischen 1905 und 1932, und darüber schrieb. Er schrieb als Theaterkritiker und als Literaturhistoriker und er ist bis heute vielleicht der einzige Theaterkritiker, der in einer seiner Kritiken auf eine eigene, in diesem Fall sogar zweibändige, Literaturgeschichte verweisen konnte, in der er sich unabhängig von einer konkreten Bühne zu Stoff und Stück und Goethe geäußert habe.

Im Anfang aber ist Josef Kainz. Jener großartige Darsteller, der kurz auch in Meiningen, später an der Burg in Wien engagiert war und mit einer Delegation von dort nach Berlin kam im Jahr 1905, um am Berliner Theater mit der Wiener Inszenierung von „Iphigenie auf Tauris“ zu gastieren. Der Kritiker Eloesser hat in seiner Laufbahn wohl niemanden so oft gesehen, gelobt, gefeiert wie eben Josef Kainz, was nach dem frühen Tod des Mimen, mit dem ihn auch eine persönlich sehr enge Freundschaft verband, dazu führte, dass er dessen Briefe an seine Eltern zu einem Buch machte (Der junge Kainz. Briefe an die Eltern; S. Fischer Berlin 1912). Eloessers einleitendes Vorwort ist auf April 1912 datiert, das führt in ein eigenes Thema. 1905 aber, die Kritik erschien am 5. Juli, Morgenausgabe der Vossischen Zeitung, erlebte der Kritiker im Berliner Theater eine vom Original abweichende Inszenierung, was vor allem daran lang, dass nicht das komplette Ensemble von der Donau an die Spree gereist war. Als Iphigenie sah Eloesser Hedwig Bleibtreu (23. Dezember 1868 – 24. Januar 1958), sie gehörte seit 1893 zum Burgtheater und verblieb dort bis zu ihrem Tod mit fast neunzig Jahren. 1944 nahmen Goebbels und Hitler sie in ihre „Gottbegnadeten-Liste“ auf.

In der authentischen Wiener Inszenierung spielte statt Bleibtreu Stella von Hohenfeld-Berger (15. April 1857 – 21. Februar 1920) die Iphigenie. Auch sie seit 1887 mit einem lebenslangen Vertrag an der Burg, dergleichen macht den Wienern bis heute niemand nach. Eloesser sah bei Bleibtreu „drei bedeutende Eigenschaften, Verstand, Reinheit und Kraft, die sie hier entwickeln konnte. Allerdings fehlt ihr, nicht das Herz, wohl aber eine angeborene Lieblichkeit und Innigkeit, die dem etwas dozierenden Wesen der Lehrerin der Barbaren zu Hilfe kommen muss. Mit welcher Beredsamkeit auch Goethe die Tochter Agamemnons ausgestattet haben mag, sie darf nie den Eindruck machen, als ob sie die Skythen durch ihre Gründe, nicht durch ihre Persönlichkeit als Frau überzeugt habe“. Denn: „Iphigenie in ihrer Reinheit, in ihrer schwesterlichen Helligkeit kann uninteressant werden ohne eine tiefe lyrische Note der Sehnsucht“. Josef Kainz gab bis zum dritten Akt Josef Kainz, ehe er begann, den Orest zu spielen, dann aber: „Er sah aus wie von einer antiken Vase genommen … Von diesem Orest hätte die Iphigenie zu ihrer außerordentlich gepflegten Diktion die große Kunst der Monologe lernen können … Von diesem Orest ist auch die Kunst der Geste zu lernen“.

Auch seine nächste „Iphigenie“ sah Eloesser im Berliner Theater an der Charlottenstraße in Berlin-Kreuzberg, nicht ahnend, dass ausgerechnet dieses Haus, das vornehmlich als Operettentheater diente, in den dreißiger Jahren (1933 – 1935) als Theater des Jüdischen Kulturbunds fungieren musste. Der Kritiker verließ die Vorführung vorzeitig und sehr verärgert, was zu einer ziemlich merkwürdigen Kritik führte, nachzulesen in der Sonntagsausgabe der Vossischen Zeitung vom 17. Juni 1906. Die Gastierende des Abends war Maria Pospischil (23. Januar 1862 – 28. Mai 1943), sie kehrte aus Hamburg an ihre ursprüngliche Wirkungsstätte in Berlin zurück und spielte dort an einem Abend zunächst die Elektra von Sophokles, danach die Iphigenie, von der der Kritiker wohl nicht mehr viel sah: „... so erlebte man das groteske Schauspiel eines höchst menschenähnlichen Mechanismus mit einer brennend roten Perücke, mit starr aufgerissenen Augen, eines Perpetuum mobile, das unablässig hin- und herflog, auf den Boden fiel, über die Bühne rollte, wieder aufstand, wieder hinfiel“. Arthur Eloesser „hielt sich für unschuldig und verfolgt genug, um aus diesen Worten eine göttliche Erlaubnis zur Flucht und Rettung zu entnehmen.“ Die er dann auch vollzog.

Was ihn besonders störte, sei nicht verheimlicht: „Das war die schlimmste Pose unter vielen schlimmen, und wenn es tragische Künstlerinnen gibt, die sich jeden Augenblick als Statue präsentieren möchten, als fertiges Modell für den Bildhauer, so scheint Frau Pospischil für den Photographen zu spielen und abwechselnd aufgereckt oder zusammengekauert bringt sie immer eine Stellung heraus, die sich dem Stil der illustrierten Postkarte vollkommen anpasst.“ Da war Freund Kainz, Josef Kainz, der leider nie die Iphigenie spielen durfte, was heutigen Regisseuren sämtlicher Geschlechtszuordnungen ein spezielles Vergnügen geworden wäre, ein anderes Kaliber. 1909 sah ihn Eloesser abermals in Berlin, diesmal im Lessing-Theater. Die am 24. Januar 1909 gedruckte Kritik (Sonntagsausgabe der Vossischen Zeitung) warb mit der kleinen Überschrift „Kainz als Orest“. Es wird ein Hymnus. Sage niemand, Kritiker wären dazu nicht in der Lage oder würden sich gar selbst verachten, schrieben sie einen. „Das war ein ganz großer Abend, einer von denen, die man auf der Gewinnseite des Lebens einträgt. Diesen Orest kenne ich wohl seit zwanzig Jahren, und er steht in meiner Erinnerung wie einer der Jünglinge auf griechischen Vasen“. Ähnlich schon 1905.

„Gestern kam dieser Jüngling wieder, so herrlich, wie ich ihn noch nie gesehen habe, er wurde Wirklichkeit, tönendes Wort und edle Bewegung, … Das Schönste darf nicht mit Händen gegriffen werden, es muss uns außer uns bringen und die Seele in die fernen Räume ziehen … Ich habe diese Leistung hier schon öfter geschildert und will nicht versuchen, meiner Bewunderung neue Superlative abzuringen“. Merke, lieber Leser, hätte in früheren Zeiten hier stehen dürfen: man kann eine Kritik zu einem inszenierten Stück schreiben, ohne ein Wort zum Stück zu verlieren. Ein gewisser Theodor Fontane tat das fast zwanzig Jahre lang, ohne dass ihn irgendein dahergelaufener stellvertretender Chefredakteur aus Ostwestfalen deshalb des Hauses oder wenigstens des Amtes verwiesen hätte. Fontane wird immer noch gelesen, auch seine Kritiken, den Stellvertreter kennt nicht einmal der Pförtner mehr mit Namen, an dem er täglich grußlos vorbei schritt. Die Iphigenie war dieses Mal Gertrud Arnold (3. März 1873 – 11. Januar 1931). „Sie kann zwar keine Sentenzen sprechen, worüber sie sich aus der Hamburgischen Dramaturgie Rat holen sollte, aber sie hatte eine angenehme Herzlichkeit und an den lyrischen Stellen sogar etwas Melodie.“ Immerhin etwas also.

Die erste (und einzige) ausführlichere „Iphigenie“-Kritik Arthur Eloessers stammt aus dem Jahr 1930, gespielt wurde in den Kammerspielen eine Inszenierung von Richard Beer-Hofmann (11. Juli 1866 – 25. September 1945), der als österreichischer Autor entschieden bekannter ist denn als Regisseur. Und dass, obwohl er immerhin einige Jahre (bis 1932) für keinen Geringeren als Max Reinhardt als Regisseur tätig war. Just diese Inszenierung von 1930 wurde 1932 erneut auf die Bühne geholt für das laufende Goethejahr 1932, weshalb der Kritiker 1932 nur noch kurz darauf zurückkam und sich auf seine Äußerungen von 1930 berief. Seine Kritik erschien im Druck am 30. Mai 1930 in der Morgenausgabe der Vossischen Zeitung. Und enthält sogleich eine ungewöhnlich deutliche politische Aussage: „Ein junger Zeitgenosse Goethes sagte, dass er sich die Iphigenie nicht ohne den Weimarer Park vorstellen könne. Dabei kommt mir die entsetzliche Vorstellung, dass Herr Frick mit seinen Barbaren sich dort ergehen könnte, noch dazu ohne jeden Nutzen.“ Gemeint ist Wilhelm Frick (12. März 1877 – 16. Oktober 1946 Nürnberg), 1930/31 Innen- und Volksbildungsminister in Thüringen, damit erster NS-Minister einer deutschen Landesregierung.

Von ihm erging am 5. April 1930 ein Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“. Als Reichsinnenminister gehörte er zu den Hauptkriegsverbrechern in Nürnberg, wurde dort zum Tode verurteilt und hingerichtet. Eine höchst klare Positionierung inmitten in einer Theaterkritik! „In unserer Technischen Hochschule, wenn ich mich recht erinnere, wird die Dekorationsskizze aufbewahrt, die Schinkel vor über hundert Jahren für das Schauspielhaus entworfen hat. Das ist reines Empire, eine schöne architektonisch geordnete Parklandschaft, an der nichts Wildes, nichts Barbarisches von Tauris' Felsenküste angedeutet wird. Also immer noch der alte Winckelmann mit seinem harmonischen Griechentum und der edlen Einfachheit. Auf der Bühne der Kammerspiele, enthaltsam gegen die Farbe und durchaus vegetationsfeindlich, stehen hölzerne Kästen, die im kleineren Format wohl an Säulen, im größeren mehr an Telefonzellen erinnern.“ So weit das Bühnenbild. „Das eine Kästchen gewann ich sogar lieb, als Helene Thimig die Arme darauf stützte, um das Parzenlied zu beginnen. Es war eine Kriegserklärung gegen die Götter, die von dem Menschengeschlecht aus guten Gründen wohl gefürchtet, aber nicht geliebt werden.“

Wundervoll machte die Thimig (5. Juni 1889 – 7. November 1974) alles, sie sah aus, „wie eine noch gotische Madonna. Die antikisierende Gouvernante der Ethik, zu der die früheren Iphigenien angestellt waren, kann nun meinetwegen aussterben.“ Den Regisseur Beer-Hofmann nimmt der Kritiker als einen, dem das eben nicht täglicher Dienst ist. „Ich muss wenigstens mit der Idee seiner Aufführung übereinstimmen, besonders, da ich mich in einem größeren Zusammenhang über die Iphigenie ähnlich geäußert habe: sie hat eine Zwienatur, von Goethe das erste klassische, aber auch das letzte Jugendwerk; sie entsprang noch aus seiner Liebe zu den Titanen, zu den groß leidenden Rebellen gegen die kalte Autokratie der Götter. In dieses zum Schulstück gewordene Drama führt noch eine Lavaspur, und Beer-Hofmann hat den alten Vulkan wieder arbeiten lassen.“ Eloesser meint seine Aussagen im ersten Band seiner Literaturgeschichte, die hier natürlich noch betrachtet werden. Zuvor noch: „Der Vers trug keine Schleppe, er wurde, wie zum erstenmal, rein aus der Empfindung, aus der Gelegenheit und Gegebenheit des Augenblicks gesprochen. Allerdings auch mit dem Ergebnis, dass der Vers nicht nur die Schleppe, sondern auch zuweilen die Füße verlor.“

„Von allen Darstellern hat nur Helene Thimig den bis zur Ketzerei kühnen und doch wieder frommen Ausdeuter gerechtfertigt; sie erhielt das Feuer des Erlebten, des Plötzlichen, des Erstmaligen, ohne an Sprachschönheit und an Bildschönheit zu verlieren. Nicht nur Priesterin, durchaus keine Gouvernante der Ethik, sondern ein Weib, das auch den Ton zärtlich zu biegen weiß, wenn es etwa die Neigung des Königs zu nutzen und zu leiten sucht. Die Iphigenie muss eben eine Frau sein, die man durchaus noch heiraten möchte, und nicht allein wegen ihrer Weisheit. Darauf kommt es an. Darauf kam es übrigens auch Goethe an, wie weit er sich im Alter von ihrer verteufelten Humanität entfremdete.“ Dass Arthur Eloesser sich in Sachen Gouvernante der Ethik wiederholt, ist eine Beschwörung: das möge für immer aus künftigen Inszenierungen verschwinden. Den Orest spielte immerhin Gustav Gründgens, doch allein seines Namens wegen lobte ihn der Kritiker nicht, im Gegenteil. Er „machte den Orest als ein Schauspieler von Verstand, der nie eine Mutter gemordet, noch weniger eine Erynnie gesehen hat. Immerhin übersetzte er in eine anständige Prosa, was man Günther Hadanks nachlässig flottem Pylades nicht nachsagen kann.“

Auch zur Rolle des Thoas sagt hat der Kritiker Prinzipielles: „Aber was soll König Thoas anderes als ein reifer Witwer sein? Matthias Wiemann hat seine redliche warme Männerbrust noch mit zu viel Jugend geheizt, in zwanzig Jahren wird er Friedrich Kayßler unserem besten Thoas sehr würdig nachfolgen. Es muss ein sehr reifer, der erkennenden Resignation fähiger Mann sein, der der Iphigenie übers Meer nachsieht. Sonst verstärkt sich der Eindruck, dass diese so zivilisierten Barbaren von ihren griechischen Erziehern bei allen Humanitätssprüchen doch etwas geneppt worden sind.“ Rund zwanzig Monate später sieht Eloesser die Inszenierung erneut, wieder mit Helene Thimig, wieder mit Gründgens, neu ist nur Paul Wagner als Pylades. Begeisterung noch einmal: „Wenn Helene Thimig das Parzenlied spricht, dann wird es eine Marseillaise gegen die alten Götter, die sich sozusagen vermenschlichen müssen. Also eine Weltwende, die von einer Frau herbeigeführt wird. Helene Thimig sieht aus wie eine gotische Madonna, aber sie ist auch aus Tantalus' Geschlecht, aus einem der großen leidenschaftlichen. Manches geht verloren in einem Presto, das der Regisseur möglichst unbetont haben wollte, aber wenn ihr Seelisches voll arbeitet, hat sie auch den vollen, ergreifenden Ton.“ Der Kritiker sähe sie gern dauerhaft in dieser Rolle.

Im ersten seiner beiden Bände „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ (Berlin 1930) referiert er auch Aufführungsgeschichte: „Die Humanität oder wenigstens das Lehrhafte in ihren Lektionen gegen die Männer hat das Stück zu einer Schullektüre gemacht, hat seiner Trägerin auf der Bühne jahrzehntelang den gefürchteten Ton der unversuchbaren Heiligkeit und des unwiderlegbaren Ethos gegeben.“ Als letzten Ausläufer der Goetheschen Genieperiode sieht Eloesser das Stück. „Die Lavaspur lässt sich noch erkennen; es ist die Tantalida aus dem verdammten Geschlecht der Auflehnung und des Frevels, die das Parzenlied singt von den unbarmherzigen Göttern. Es gibt nichts Schöneres als die Entrückung des Orest in den Hades und seine Verrückung, wenn seine gewaltigen Ahnen ihn unten empfangen. Es sind die Götter, die geändert oder belehrt werden müssen.“ Auch Thoas spielt seine Rolle im Überblick, der Goethe von 1802 kommt indirekt zu Wort: „Eine verteufelt humane Lösung, die immer ein kleines Bedauern für den König Thoas zurückbleiben lässt. Wenn er je so wild war, wie wir glauben sollen, scheint er ein loyaler Barbar, der von den klugen Griechen etwas billig abgefunden worden ist.“

„Das Stück hat einen ungeheuren Hintergrund, der sich nach vorne verengt und wenig Spielraum lässt; es ist ein Drama der aufgehaltenen und aufgefangenen Bewegung. Gezückte Schwerter fallen schnell wieder in die Scheide, und der mythische Konflikt, den die Schicksalsmächte unter den Menschen und gegen die Menschen anstiften, wird auf der Bühne mit Argumenten ausgetragen. Die Melodie des Stückes hat ihre mitreißende, unverlierbare Schönheit in den lyrisch aufschwebenden Monologen.“ Daran hat sich bis heute natürlich nichts geändert, nicht immer hat es sich bis auf die Regiestühle herumgesprochen. „Die Figur hält auf halbem Wege eine innerliche Erschwerung auf, weil sie, einmal aus einer Schwärmerei entstanden, auch nach dem letzten italienischen Schliff nicht völlig zur Kunstfigur werden wollte. Goethe feierte die Frauenmilde und Hoheit seiner Bändigerin, seiner Besänftigerin; Iphigenie hat die Mission der Frau von Stein erhalten gegen die Rauheit die Rohheit der Männer und auch gegen die Härte der alten göttlichen Gesetze.“ Aber: „Goethe liebte das Stück, solange er Frau von Stein liebte.“ Er war ein wenig Barbar, ein wenig junger Thoas, wenn er seine Augen schloss, könnte man meinen, gebändigt sah er seiner Iphigenie gerne nach.

„Die Griechin wird zur Christin, sie durfte sich mit der heiligen Agathe von Raffael vergleichen. Iphigenie gründet das Reich des Friedens, das der Humanität. Damit tritt sie, die manche Züge einer Tantalide behaupten konnte, aus ihrem Mythos, der dem Muttermörder Orest viel enger anhängt, in die Helle des 18. Jahrhunderts. Mit dieser Entwicklung konnte sie nur im Mythos bleiben, wenn sie wie ihre einfachere Schwester Antigone die Möglichkeit gehabt hätte, an ihrer Haltung und für ihre Gesinnung zu sterben.“ Dergleichen passt in die Literaturgeschichte, jede Theaterkritik hätte es an ihre Grenzen geführt. Dahinein passt auch das noch sehr gut: „Iphigenie selbst hat die Maler viel beschäftigt, die Frau mit dem wehenden Schleier, die über das Meer sieht, wurde zum Symbol aller der Künstler, die das Land der Griechen mit der Seele suchten.“ Arthur Eloesser erinnert schließlich daran, dass mit „Iphigenie auf Tauris“ eine spezielle Nebenwirkung verbunden war: „Es ist das erste Werk, mit dem Goethe sich zum Klassiker machte, mit dem seine erst durch Hermann und Dorothea wieder beschwichtigte Entfremdung von seinem Publikum und seiner Nation begann.“ Folgenlos für uns: „Iphigenie“ bleibt Herausforderung, „Hermann und Dorothea“ nur Stoff für Spezialisten.


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