Goethe: Paläophron und Neoterpe

Es gibt Menschen, die nie auf die Idee kämen, Silvester in ein Theater zu gehen. Es gab Theater, die nie auf die Idee gekommen wären, das auf der roten Liste bedrohter Spielplan-Gewohnheiten sich findende Herkommen, gerade an diesem Abend etwas Neues zu bringen, einfach aufzugeben. So ging denn am 31. Dezember 1878 ein gesetzter Herr den Weg zum Theater, um zu schauen, was der Regisseur Arthur Deetz (18. Juni 1826 – 17. Juli 1897) aus einem Goethe und einem Shakespeare auf die königliche Bühne zauberte. Der Herr war nicht irgendein Theatergänger, er hieß Theodor Fontane und hatte einen Stammplatz im Schauspiel. Einen Goethe sah er dort wesentlich seltener als einen Schiller und auch deutlich seltener als einen Shakespeare. Wir müssen uns Fontane frohen Mutes vorstellen, denn angekündigt waren „Die Komödie der Irrungen“, seinerzeit nicht annähernd so oft und eifrig gezeigt wie die so genannten Königsdramen, und „Paläophron und Neoterpe“. Die kannten allenfalls solche Liebhaber Goethes, die ihr Selbstbewusstsein aus dem Umstand beziehen, eben alles zu kennen, was der Meister je zu Papier gebracht hat. In Berlin war das kleine Werk zuvor nie gespielt worden, das seine Uraufführung in Weimar am 31. Oktober 1800 erlebte.

So jedenfalls wusste es Fontane, der dann Karl Frenzels Kritik in der „National-Zeitung“ Nr. 3 vom 3. Januar 1879 entnehmen durfte, dass wiederum der „Berliner Börsen-Courier“ am 31. Dezember 1878, also am Premierentag, einen Beitrag gedruckt hatte, der davor bekannt gab, „daß die gefällige Dichtung schon einmal in dem Saaltheater des Schauspielhauses bei einer Privatfestlichkeit des Generalintendanten von Hülsen aufgeführt worden ist, bei der Frau Louise Erhartt die Neoterpe gespielt hat.“ Karl Frenzel (6. Dezember 1827 – 10. Juni 1914) erinnerte sich seinerseits: „Ich selbst habe das Festspiel 1857 in den Septembertagen in Weimar darstellen sehen, als die Standbilder Wieland's, Goethe's und Schiller's enthüllt wurden.“ Und zitierte anknüpfend aus den „Annalen“ für 1800, die heute meist „Tag- und Jahreshefte“ genannt werden: „Späterhin am 24. Oktober, als am Geburtstag der Herzogin Amalia, ward im engeren Kreise Paläophron und Neoterpe gegeben. Die Aufführung des kleinen Stücks durch junge Kunstfreunde war musterhaft zu nennen. Fünf Figuren spielten in Masken, der Dame allein war vergönnt, uns in der eigensten Anmut ihrer Gesichtszüge zu ergötzen.“ Bei Goethe folgt noch ein Satz, den Frenzel sich schenkt. Goethe irrt sich im Datum.

Dafür fügt Frenzel einen an, der weder in den „Annalen“ noch im „Tagebuch“ für 1800 zu finden ist. Der Kritiker muss eine andere Quelle benutzt haben. Bei Goethe hieß es noch: „Die Darstellung bereitete jene Maskenkomödien vor, die in der Folge eine ganz neue Unterhaltung jahrelang gewährten.“ Frenzel ergänzt die Zitate „Fünf Figuren ...“ und „der Dame allein...“ in Klammern so: „(Paläophron, Griesgram, Haberecht, Gelbschnabel und Naseweis)“ und „(Neoterpe: Fräulein Henriette von Wolfskehl)“. Dieses Fräulein war Henriette Antonia Albertine Freiin Wolfskeel von Reichenberg (1. Mai 1776 – 17. August 1859), die im Alter von 17 Jahren als Hofdame zur Herzogin Anna Amalia nach Weimar kam. Goethe hat sie, kann man nachlesen, gern „Kehlchen“ genannt. Doch lesen wir zunächst erst einmal bei Theodor Fontane, was der für die Vossische Zeitung geschrieben hatte: „Palaeophron und Neoterpe, ein Fest- und Huldigungsspiel, das der Verehrung gegen die Herzogin Amalie Ausdruck geben sollte, wurde vor beinahe achtzig Jahren gedichtet und aufgeführt und gilt seitdem als ein unbestrittenes Musterstück innerhalb der Gattung des „Gelegenheitlichen“. In der Tat besitzt es alle Zauber dessen, der es schuf: Empfindung und Lebensweisheit, Lieblichkeit und Klarheit des Ausdrucks, ächte Freiheit und ächte Loyalität.“

Für Fontane war es ein glücklicher Gedanke, „dieses kleine Stück am letzten Jahrestage zur Aufführung zu bringen, und durch eine kleine Variation das Festspiel in ein Sylvesterspiel zu verwandeln. Denn der letzte Tag im Jahr, wo sich Schwindendes und Kommendes die Hand reichen, ist so recht eigentlich der Schauplatz für „Paläophron und Neoterpe“. Wollen diese doch nichts anderes sein, als Verkörperungen des Alten und Neuen.“ Einem Brief Friedrich Schlegels an Bruder August Wilhelm vom 12. November 1800 ist zu entnehmen, dass er es war, der Goethe für dessen Kleinigkeit „Alte und neue Zeit“ den Titel „Paläophron und Neoterpe“ vorschlug, womit Goethe offenbar einverstanden war. Doch weiter Fontane: „Beide, mit gleichen Ansprüchen an das Leben ausgestattet, vermögen es auch gemeinschaftlich zu beherrschen, wenn es ihnen nur glückt, ihre den Frieden gefährdenden Begleiter von sich fern zu halten. Diese Begleiter heißen Griesgram und Haberecht auf Seiten des Alters, Gelbschnabel und Naseweis auf Seiten der Jugend. Altes und Neues, Paläophron und Neoterpe befehden sich untereinander, so lange das Cortége ihrer Fehler ihnen folgt, sie schließen aber Frieden von dem Augenblick an, wo sie sich ihres sie schädigenden Gefolges entäußert haben. Dies der sinnige Grundgedanke des kleinen Stückes.“

Als ein „Proverbe“, eine Plauderei, könne man es bezeichnen, schreibt der Kritiker und meldet seinen Lesern eine vollkommen geglückte Darstellung: „Herr Berndal gab den Paläophron, Fräulein Meyer die Neoterpe. Das Publikum war entzückt, und ich glaube die Kritik auch.“ Diese etwas seltsame Formulierung findet Erklärung in den Notizbüchern. Dort kann, wer kann, lesen: „Das Publikum entzückt; ich kann einfach nicht folgen.“ Fontane war, mit anderen Worten, nicht unter den entzückten Kritikern, obwohl er natürlich in etlichen anderen Kritiken Karl Gustav Berndal (2. November 1830 – 30. Juli 1885) und Clara Meyer (7. Oktober 1848 – 24. Juli 1922) mit hohem und höchstem Lob bedacht hatte. „Ein paar Stellen in der Rolle der Neoterpe konnten, nach meinem Gefühl, etwas heiterer und schelmischer genommen werden, aber dies kommt wenig in Betracht neben dem poetischen Zauber, der die ganze Gestalt umkleidete. Auch die begleitenden Charaktermasken waren vortrefflich; allem voran der „Griesegram“ des Herrn Krause. Man konnte von einer Klassicität der Verdießlichkeit sprechen.“ Wie es von Goethe sehr wahrscheinlich auch gedacht war. Gemeint war hier Ernst Krause (1842 – 1892, genauere Daten nicht ermittelt). Mit William Shakespeares früher „Komödie der Irrungen“ danach war Fontane weniger einverstanden.

Fünf Jahre später, am 31. Dezember 1883, sah Theodor Fontane „Paläophron und Neoterpe“ erneut, diesmal erschien seine Kritik schon am Neujahrstag in der Vossischen Zeitung und wer ein sehr gutes Gedächtnis oder ersatzweise ein gutes Archiv sein eigen nennen durfte, konnte bemerken, dass auch große Kritiker gelegentlich ihre eigenen Formulierungen wiederverwenden. Herr Berndal und Fräulein Meyer traten in ihren alten Rollen auf, jetzt nennt Fontane sie allerdings „eigentlich kleine Deklamationspiécen“ und ist damit, seltsam genug, näher am Goethe-Text als fünf Jahre früher. Denn zu spielen haben Schauspieler letztlich nichts in diesem Festspiel, zu sagen jedenfalls deutlich mehr und das fällt dann eben unter Deklamation. Wer den Kritiker Fontane kennt, weiß, wie großen Wert er auf Betonungen legte, wie oft er auch bedeutenden Schauspielerinnen (und Schauspielern selbstverständlich auch) falsche Betonungen ankreidete, bisweilen ließ er das in seinen Kritiken sogar durch gesperrten Druck kenntlich machen. Kollege Frenzel übrigens hatte es nicht ganz so eilig wie Fontane, seine Kritik erschien in der „National-Zeitung“, wie fünf Jahre vorher, erst am dritten Januar 1884, wir werden darauf schon aus reiner Neugier zurückkommen.

1883 kombinierte das Königliche Schauspielhaus den kleinen Goethe nicht mit dem frühen Shakespeare, sondern ließ „Der Winkelschreiber“ von Adolf von Winterfeld (9. Dezember 1824 – 8. November 1889) folgen, ein vieraktiges Lustspiel, keine Neueinstudierung, erst recht keine Erstaufführung. „Also nichts Neues, aber Hübsches und Heiteres“, resümierte Theodor Fontane, noch ehe er zur Sache kam. Am 18. November 1871 hatte er den „Winkelschreiber“ schon einmal gesehen und hatte sich wie Bolle amüsiert, wie man in Berlin angeblich so gern sagt: „Wir wären undankbar für die Thränen, die wir gelacht haben, wenn wir nicht aussprechen wollten, dass es uns sehr gefallen hat. Es ist derb, es streift hier und da an der Vorstadt-Posse nah vorbei; aber es ist keine.“ Goethe selbst kam in den Aufzeichnungen der „Tag- und Jahreshefte“ für 1803, immerhin dreizehn Druckseiten in meiner Ausgabe im Vergleich zu der reichlich einen Seite für 1800, auf sein kleines Spiel zurück: „Zum neuen Jahr gaben wir Paläophron und Neoterpe auf dem öffentlichen Theater. Schon war durch die Vorstellung der Terenzischen Brüder das Publikum an Masken gewöhnt, und nun konnte das eigentliche erste Musterstück seine gute Wirkung nicht verfehlen. Der frühere an die Herzogin Amalie gerichtete Schluß ward ins allgemeine gewendet, und die gute Aufnahme dieser Darstellung bereitete den besten Humor zu ernsteren Unternehmungen.“

Goethe hatte sich also selbst ermuntert, so darf man deuten. Karl Frenzel beklagte 1879 noch, dass der neue Schluss von 1803 in den Werken nicht zu finden sei, anders als ein dritter Schluss aus dem Jahr 1819. Diese Klage brauchen wir längst nicht mehr zu führen, in meiner Cotta-Dünndruck-Ausgabe beispielsweise sind beide Schlüsse im Anschluss an das Stückchen selbst nachgedruckt. Am 19. Dezember 1803 schrieb Goethe an Franz Kirms (21. Dezember 1750 – 3. Mai 1826), mit dem er gemeinsam das Weimarer Theater leitete: „Paläophron und Neoterpe kann recht gut wegbleiben, wenn etwas Brillantes an dessen Stelle tritt.“ Der ersten öffentlichen Aufführung vom Jahresbeginn sollte offenbar eine weitere folgen. Frenzel verrät in seiner Kritik auch, was Fontane nicht erwähnte: dass Gustav Berndal und Clara Meyer sich direkt ans Publikum wandten mit guten Wünschen für das neue Jahr, die ebenso herzlich erwidert wurden. „Das Stück, wechselnd in Trimetern, trochäischen und kürzeren jambischen Versen geschrieben ist eine gefällig sinnige Unterhaltung zwischen der alten und der neuen Zeit, die erst miteinander streiten, dann aber, nachdem sie ihre wenig angenehme Begleitung … fortgeschickt haben, sich versöhnen, ihre Kränze tauschen und zu gemeinsamem Thun die Hände ineinander legen.“ Gespielt wurde ohne Masken.

Auch Karl Frenzel konnte natürlich nichts Neues entdecken, als er am 31. Dezember 1883 der „ernsteren Feststimmung“ erneut begegnete, ehe er zum „Winkelschreiber“ überging. Immerhin fasste er noch einmal kurz zusammen, „in dem gefälligen, gut sich von einander abhebenden und zuletzt anmuthig zusammenstimmenden Vortrage des Frl. Meyer und des Hrn. Berndal mit den wohlgetroffenen Charaktermasken des Griesgram und des Haberecht, des Naseweis und Gelbschnabel, erregten die edeln und gedankenvollen Verse wieder die Theilnahme des Publikums.“ Und wir dürfen festhalten, dass es irgendwann zwischen Goethe und uns einen farblichen Übergang gegeben haben muss: sein Gelbschnabel hieße bei uns sicher Grünschnabel. Und wir dürfen uns freuen, dass auch Swetlana Geier im Ehrgeiz, einen neuen Dostojewski auf den Markt zu bringen, nicht bei Goethe verweilte, sondern aus „Der Jüngling“ flugs „Der grüne Junge“ machte. Wer hätte wohl „Der gelbe Junge“ verstanden, nicht einmal die beifallseifrigen Printkritiker vermutlich, die sich einmütig zum Geier-Fanclub formiert hatten. Womit wir zu Goethe zurückkehren können, den das Jahr 1819 noch einmal an „diese liebe kleine Produktion“ zurückführte, wie er sie am 14. Januar in einem Brief an Carl Friedrich Moritz Paul Graf von Brühl nannte. Und er schrieb noch mehr.

„Über Paläophron und Neoterpe wagte ich nichts zu fragen, denn mir war diese liebe kleine Production nicht mehr gegenwärtig. Vor wenig Tagen jedoch lasen mir zwei hübsche, verständige, gelehrige Kinder das Werkchen ganz anmuthig wieder vor dabey macht ich die Bemerkung, daß daran gar nichts weiter zu thun sey. Denn dieser Scherz, dessen unschuldigen Ursprung und heitere Wirkung Sie am besten kennen, gewinnt für den Augenblick etwas Bitteres, da Gelbschnabel und Haberecht, nicht etwa nur innerhalb kleinstädtischer Philisterey, sondern in Reichs- und Weltbezirken ihr Wesen treiben und, anstatt einander aus dem Wege zu gehen, ein Schutz- und Trutzbündniß mit Einschluß von Naseweis und Grießgram getroffen haben.“ Was nicht weniger bedeutet, als dass Goethe dem Werkchen nun eine fast tagespolitische Aktualität beimaß, wobei er empfahl, bei Bedarf den Schluss anzupassen: „Sollten Sie also auf irgend einer Privatbühne davon Gebrauch machen, so würde ich rathen, das Ganze zu lassen wie es ist und nur am Ende, da es denn doch wohl als gelegenheitlich irgend einer verehrten Person gebracht wird, die Züge mit wenig Pinselstrichen zu verändern.“ Für den 3. Februar plante er selbst in seinem Hause eine Aufführung „in meinem Saale, zu Ehren der Prinzeß Marie und zu Freuden anderer Zuschauer.“

So kündigte er es den Damen Julie von Egloffstein und Adele Schopenhauer am 28. Januar an. Und versicherte ihnen: „Für Altar, Mäuerchen, Sessel und schickliche Wändeverzierung ist gesorgt, nicht weniger für die Masken der vier stummen Personen. Wegen einiger Proben bereden wir uns noch.“ Die beiden jungen Damen waren es auch, die ihm am 8. Januar das Werkchen vorgetragen hatten. Am 22. Januar ging er dem Aufführungsplan schon praktisch nach, konsultierte Hofrath Meyer am 24. Januar, am 1. Februar stellte er das Mäuerchen bei sich auf, empfing zu Mittag das Personal und die Statisten. Am 3. Februar schließlich begann um 6 Uhr das Festspiel am Frauenplan. Es war der elfte Geburtstag von Maria Luise Alexandrina von Sachsen-Weimar-Eisenach, der Tochter des Erbprinzen Carl Friedrich und der Großherzogin Maria Pawlowna, der Ilmenau den (kürzlich sanierten) Kickelhahnturm verdankt. Sie starb am 18. Januar 1877, zwei Wochen vor ihrem 69. Geburtstag, in Berlin. „Zahlreiche Gesellschaft“, vermerkte Goethe in seinem Tagebuch. Und am 9. Februar hielt er fest, dass seine Kinder, also Sohn August und Schwiegertochter Ottilie, bei Johanna und Adele Schopenhauer noch einmal auf die Aufführung sechs Tage zuvor zurückgekommen sind.

Schon am 27. September 1816 war Goethe erstmals in einem Brief an Sulpiz Boisserée auf die politische Relevanz seines Werkchens zu sprechen gekommen: „Paläophron und Neoterpe lösen den Conflikt des Alten und Neuen auf eine heitere Weise, die freylich in dieser zerspalteten Welt nicht denkbar ist: denn nicht allein durch leidenschaftliches Widerstreben, sondern auch durch unzuläßiges Vereinen wird gefehlt und bey dem wunderlichsten Schwanken tritt in Deutschland ein sehr trauriges Phänomen hervor, daß nämlich jeder sich berechtigt glaubt, ohne irgend ein Fundament bejahen und verneinen zu können, wodurch denn ein Geist des Widerspruchs und ein Krieg aller gegen alle erregt wird. Ich halte mich beobachtend, meide die Menschen nicht und suche sie nicht. Wir müssen auf alle Fälle diese Dinge besprechen eh Sie Ihre neue Lebensbahn betreten.“ Ohne selbst je den Zusammenhang herzustellen, lieferte er, wenn wir seinen Überlegungen folgen, einen späten Beitrag zur lange geführten Debatte, die in Frankreich als „Querelle des anciens et des modernes“ in die Geschichte nicht nur der französischen Aufklärung eingegangen ist. Am 11. Juni 1823 bot ein Brief Goethes noch einmal Gelegenheit, an das Jahr 1800 zu erinnern, gerichtet an den befreundeten Christoph Ludwig Friedrich Schulz (31 Dezember 1781 – 19. Juni 1834).

„Das gleichgenannte Drama war im Jahre 1800 zum Geburtstage unserer hochgeliebten Herzogin Amalia aus dem Stegreif gedichtet und eingelernt, wie es vorschritt. Die Rolle des Alten für Graf Brühl, die der Neuen für das allergefälligste Wesen geschrieben, das ich je gekannt habe. Der Graf, vor etlich und zwanzig Jahren als trefflicher Jüngling durch die Maske des Bejahrten durchscheinend, und die junge frische Hebe paßten sehr gut zusammen, es waren schöne Tage und eine glückliche, dem Antiken sich annähernde Vorstellung. Zugleich erschien dieser Versuch als Ankündigung der Maskenspiele, die uns mehrere Jahre in Bewegung setzen und das Publicum unterhielten.“ Diese Schlussformulierung kennen wir schon aus den „Tag- und Jahresheften“. Nachzutragen ist, dass die Entscheidung gegen „Alte und neue Zeit“ für „Paläophron und Neoterpe“ sehr wahrscheinlich weniger mit gräzisierenden Vorlieben Goethes als der einfachen Tatsache zu tun hat, dass es von Iffland bereits ein mehraktiges Spiel dieses Titels gab (1795 gedruckt). Ludwig Geiger (5. Juni 1848 – 9. Februar 1919), unter anderem auch Goethe-Biograph, muss des Irrtums bezichtigt werden, wenn er dem Werkchen andere als die bisher referierten Absichten unterstellt.

„Das Stückchen „Paläophron und Neoterpe“, von Goethe zur Jahrhundertfeier 1800 bis 1801 gedichtet, behandelt in anmutigen Versen den Kampf der alten und neuen Zeit. Das seinem Untergang geweihte Jahrhundert muss vor dem neuanbrechenden zurückweichen. Das Stückchen schließt mit einer hübschen Huldigung für die Herzogin-Mutter Anna Amalia.“ Schwer vorstellbar, dass Goethe so gedacht haben könnte, denn die Folge der Jahre hat mit Kampf nicht das geringste zu tun. Was immer der Inhalt eines Jahres war, es wird vom nächsten abgelöst, das bisweilen auch nur die öde Fortsetzung alles Bisherigen wird. Dennoch meinte es Geiger sehr ernst: „Mochte Goethe nun auch die Feste feiern, wie sie fielen, manchmal beachtete er sie kaum. Dies war z.B. der Fall bei der Jahrhundertfeier, für die er das oben erwähnte Festspiel „Paläophron und Neoterpe“ dichtete.“ Quellen für seine Lesart gibt er keine an. Solches Verfahren bevorzugt auch Dietrich Fischer-Dieskau (28. Mai 1925 – 18. Mai 2012) in seinem leider nicht durchweg erfreulichen Buch „Goethe als Intendant“. Er kennt Details zum Festspiel, die ich sonst nirgends finden konnte und gerade da wäre es mehr als nur eine Forderung der Pingeligkeit, zu wissen, woher er sie kennt.

Auch Heinrich Franke, der vom Plan Goethes berichtet, das Stückchen 1817 im Februar in seinem Hause aufzuführen, hilft nicht weiter, soll aber trotzdem zitiert werden: „Im Februar 1817 wünschte Goethe meine Mitwirkung in »Paläophron und Neoterpe«, welches am 7. in seinem Hause aufgeführt werden sollte .... Goethe selbst leitete die beiden Proben und war dabei von einer außerordentlichen Liebenswürdigkeit. Er hatte Zeichnungen zur Hand, die genau Maske und Costüme jedes einzelnen angaben. Mich belehrte er über Haltung, Gang und Mimik und meinte, im Costüme und mit der Maske werde die Sache sich gut machen. Die Vorstellung in Gegenwart mehrerer fürstlichen und vieler andern distinguirten Personen verlief günstig. Nach derselben blieben wir Mitwirkenden zum Thee. Ich stand bescheiden an der Wand, als mir Goethe, den ich im Gespräch mit dem Kanzler v. Müller sah, winkte und mir sagte: »Nun, wir sind zufrieden! Es war zwar nur eine kleine Rolle, die Ihnen zugetheilt worden, aber auch die kleinste hat ihre Wichtigkeit. - Eigentliche Nebenrollen,« fuhr er mehr gegen Müller gewendet fort, »gibt es nicht; sie sind nothwendige Theile eines Ganzen.«“. Heinrich Franke (1800 – 1881), gelegentlich als „Goethes letzter Schüler“ apostrophiert, durfte so noch vor seinem 17. Geburtstag den Griesgram spielen.

Für sein Spiel schreibt Goethe eine Vorhalle vor, „an der Seite ein Altar, um denselben ein Asyl, durch eine niedrige Mauer bezeichnet; außerhalb, an dem Fortsatze der Mauer, ein steinerner Sessel“. Vom „Mäuerchen“ haben wir gehört, vom Sessel aus Stein nie. Woher hätte der auch geholt werden sollen für das Wittumspalais oder das Haus am Frauenplan. Diese Details kennt selbst der Sänger Fischer-Dieskau nicht. Und wenn er den Termin der Uraufführung um zehn Tage vorverlegt, ist das sicher nur ein ganz gewöhnlicher Druckfehler. Worauf „nachträglich zum Geburtstag der Herzogin-Mutter“ hindeutet, was beim 31. Oktober stimmen würde, beim 21. Oktober eben leider nicht. Das kurz zuvor sehr erfolgreich gespielte „Die stolze Vasthi“ wurde, Autor Friedrich Wilhelm Gotter (3. September 1746 – 18. März 1797), soll in Goethe den Ehrgeiz entfacht haben, „schnell noch ein neues Stück zu dichten, mit dem sie die geliebte Fürstin überraschen sollen.“ Derartige Schnellschüsse waren tatsächlich nicht nur eine Eigenart des ganz jungen Goethe. „Um die schwierige Aufgabe rasch zu lösen, greift Goethe zu einem heroischen Mittel: Er lädt sich selbst bei den Hofdamen zum Frühstück, versammelt die Personen um sich, denen er Rollen zudenkt, und diktiert dem Fräulein von Göchhausen, das mit vorsorglich bereitgestelltem Punsch belebt wird, die verschiedenen Rollen in die Feder, während er selbst gravitätisch im Zimmer auf- und abschreitet.“

Von der Punsch-Leidenschaft der Luise Ernestine Christiane Juliane von Göchhausen (13. Februar 1752 – 7. September 1807) wird in aller Regel geschwiegen, da sie doch der Nachwelt mit ihrer Abschrift den so genannten „Ur-Faust“ rettete und die Abschriften des Tiefurter Journals besorgte.
„Hat er eine Rolle bis zu einem gewissen Punkt diktiert, muss sie sofort memoriert – und sobald die entsprechende zweite Rolle auf dem Papier steht, mit dieser zusammen probiert werden, wobei Goethe lebhaft antreibt und vorspielt. So wird das Stück von 264 Zeilen „Alte und Neue Zeit“ an zwei Vormittagen fertig und kann nach einer Hauptprobe am dritten Tag zur Freude der Herzogin-Mutter in privater Festaufführung im Wittumspalais gespielt werden.“ Wie innerhalb dieser zweieinhalb Tage der erste Titel durch einen zweiten, dann endgültigen ersetzt wurde, weiß Fischer-Dieskau nicht. „Die Darstellerin der Neuen Zeit, eine Schönheit des Hofes, darf nach ihrem inständigen Bitten ohne Maske auftreten, während in der männlichen Hauptrolle der Alten Zeit der noch junge Graf Brühl brilliert, wiewohl er kaum den Vorstellungen eines altes Mannes entspricht.“ Dem aber wusste der alte Theaterfachmann Goethe offenbar wunderbar einfach abzuhelfen.

„Goethe bindet ihm einfach einen Maskenbart um und hüllt ihn in eine Toga. Beinahe scheitert noch im letzten Moment alles an den für diesen Abend angelernten Kindern, denn „Gelbschnabel“ und „Naseweis“ wollen sich hässliche Nasenmasken unter Geschrei durchaus nicht anhängen lassen. Goethe muss noch in größter Hast ein paar Kinder vom Theater auftreiben und einexerzieren, die ihre Aufgabe ganz leidlich absolvieren.“ Fischer-Dieskau kennt nicht nur diese, falls sie nicht frei erfunden sind, wunderschönen Einzelheiten, er hat auch eine höchsteigene Deutung zur Hand: „Zum Inhalt des Versstückes, das den Streit der alten mit der neuen literarischen Generation behandelt, deren Versöhnung der Intendant für möglich und nötig hält, bemerkt er Erstaunliches: „Wenn ich mein Herz an das Goldene Zeitalter der antiken Revolution verliere, so müsste ich, wenn ich mich mit der Kunst und Religion meiner Zeit befasse, zum Sauertopf und dogmatisch werden.“ Drei Jahre später wird Goethes Festspiel - ganz gegen die gesetzliche Unwiederholbarkeit fürstlicher Gelegenheitsarbeiten – auch öffentlich vorgeführt, natürlich mit der Veränderung aller anlassgebundenen Stellen.“ Welche außer dem Schluss wären das aber gewesen? Es gibt keine.

In meiner Dünndruckausgabe umfasst „Paläophron und Neoterpe“ bescheidene fünfzehn Seiten, davon sind den veränderten Schlüssen von 1803 und 1819 vier Seiten vorbehalten, nicht einmal zehn Seiten braucht das eigentliche Spiel. Und weil es so kurz ist, setzt es auch dramaturgisch auf Schnelldurchlauf. Der Konflikt zwischen den Hauptfiguren, wenn man ihn denn so nennen mag, ist schneller gelöst als exponiert, die Streitenden sind sich einig, ehe sie wirklich uneinig waren. Dergleichen für Laien entwerfen, von Dilettanten zu spielen, ist eben nicht der Griff zur höchsten Kunst. Man stelle sich vor, Goethe hätte tatsächlich noch Kinder austauschen müssen, die kein Wort zu sprechen hatten, nur im Kostüm herumstehen und auf Aufforderung gehen mussten. Vielleicht war es so, vielleicht auch nicht. „Gut ist der Vorsatz, aber die Erfüllung schwer.“ Sagt Paläophron und Neoterpe entgegnet: „Ein edles Beispiel macht die schweren Taten leicht.“ Paläophron weiß auch: „Die Tätigkeit ist, was den Menschen glücklich macht“. Sein „Es habe niemand recht, als wer den Widerspruch / Mit Geist zu lösen, andre zu verstehen weiß, / Wenn er auch gleich von andern nicht verstanden wird.“ Das dürfte Goethe heute so nicht mehr sagen, denn „andre zu verstehen“, geht einfach nicht mehr. Man muss wissen, welche anderen verstanden werden dürfen, welche nie.


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