Goethe 1771: "Zum Schäkespeares Tag"
Das Datum kennen wir nur aus dem Haushaltsbuch von Goethes Vater. Dieser Vater, dem gelegentlich gern allerlei nachgeredet wird, was bei näherer Betrachtung vielleicht doch nicht ganz zutreffend ist, hat wie ein braver und echter Hausvater die Ausgaben alle notiert, die getätigt wurden im Hauswesen Goethe und so sind bisweilen erfreuliche Dokumente seiner Großzügigkeit festgehalten, die zum Pedanten und Knicker nicht passen wollen, als der er rasch abgetan ist. Wir wissen nicht, was der eben seinen ersten Gerichtsprozess vorbereitende Jung-Advokat Goethe mit seinem Vater besprach, als er ihm seinen Plan vorstellte, eine private Feier zu Shakespeares Namenstag zu veranstalten. Wir wissen auch nicht, ob er die je nach Druck-Ausgabe um die vier Seiten lange Rede „Zum Schäkespears Tag“ tatsächlich vortrug. Wenn ja, ist das Publikum sehr klein gewesen. Der Anlass streng genommen auch.
Schon als der bis heute berühmte Shakespeare-Darsteller David Garrick (19. Februar 1717 – 20. Januar 1779) im Jahr 1769 in England plötzlich Shakespeare-Feiern auszurichten begann, konnte das Verwunderung auslösen, verfehlte der Termin doch den hundertsten Geburtstag Shakespeares einigermaßen deutlich um volle fünf Jahre. Dass der Ruhm Garricks zu Lebzeiten bereits riesig war, belegen ohne viel Worte die Namen der Maler, die Bildnisse von ihm fertigten: William Hogarth, Angelika Kauffmann, Thomas Gainsborough. So hatte er wohl das, was man Narrenfreiheit nennt. Seine am 29. Februar 1724 geborene Frau, die Wienerin Eva Maria Veigel, starb erst 1822 und zwar am 16. Oktober. Also fast auf den Tag 51 Jahre nach der Shakespeare-Feier in Goethes Elternhaus in Frankfurt am Main. Und genau an dem Tag, als eben 1771 Goethe seine erste Rechtsanwaltseingabe zu Papier brachte.
Für den jungen Goethe, dürfen wir vermuten, war das Bedürfnis riesig, seine in der Straßburger Zeit fast unermesslich gewachsene Hinneigung zu William Shakespeare, seiner über einen längeren, wenn auch nicht langen Zeitraum fast kultischen Verehrung für den Briten schriftlichen Ausdruck zu verleihen. Dass die Rede im Druck erst erschien, als Goethe schon mehr als zwanzig Jahre tot war, nämlich 1854 in der braunschweigischen „Monatsschrift für Wissenschaft und Literatur“, hat sicher auch damit zu tun, dass Goethe in seinen späten Jahren mit der dreiteiligen Schrift, die wir unter dem Sammeltitel „Shakespeare und kein Ende“ kennen, etwas wie eine Summe gezogen hat aus seinem lebenslangen Umgang mit dem Dichter des „Hamlet“. Die starke Distanz, die Goethe zu seinen eigenen jungen Jahren und deren Erzeugnissen und Dokumenten zeitig bekam und in manchmal kaum nachvollziehbaren Textrevisionen oder gar Verbrennungsorgien auslebte, lässt zusätzlich die Annahme nicht undenkbar scheinen, dass auch die euphorische Rede ihm eher als lässliche Sünde vorkam, wenn er sie denn überhaupt je wieder las.
Dem heutigen Leser freilich liefert die Rede Aufschlüsse wie Freuden, Einsichten wie Genüsse. Das beginnt gleich mit dem ersten Satz: „Mir kommt vor, als sei die edelste von unsern Empfindungen, die Hoffnung, auch dann zu bleiben, wenn das Schicksal uns zur allgemeinen Nonexistenz zurückgeführt zu haben scheint.“ Neigen wir nicht sofort dahin, jener Hoffnung alle nur denkbaren Attribute beizuordnen außer gerade der, die Goethe wählt? Goethe distanziert sich, und wohl ziemlich sicher sehr bewusst, von der breiten Masse, die natürlich alle Hoffnungen dieser Welt hegt, aber als letzte unter ihnen, wenn überhaupt, die zu bleiben. Der seiner selbst sehr bewusste Goethe freilich, der dachte schon an sein Nachleben, als sein Leben noch kaum in Bahnen gelangt war, denen er sich überlassen, die er selbst ausgestalten mochte. Und erstaunlich früh folgt sein Denken über den eigenen Tod einer Logik, die im Alter viel mehr Raum einnimmt und sogar die Form, ein Fortleben im irgendwie physischen Sinne nicht gänzlich auszuschließen.
Man höre die Ausrufezeichen: „Für nichts gerechnet! Ich! Da ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne!“ Auch hier ist ganzer Goethe, die vermeintliche spätere Sicherheit, ein Repräsentant zu sein, ein exemplarisches Leben geführt zu haben, sie ist ihm mit 22 Jahren schon eigen und ausformuliert. Ehe er, fast ein Viertel des Redetextes ist schon geschrieben, nun endlich auch namentlich auf Shakespeare kommt, wagt er einen in Frankfurt durchaus provokanten Vergleich. „... die Betrachtung so eines einzigen Tapfs macht unsre Seele feuriger und größer als das Angaffen eines tausendfüßigen königlichen Einzugs.“ Hier soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Goethe zuerst und vor allem an den Einzug der französischen Königin Marie Antoinette in Straßburg dachte. Die Verführung ist groß, des seltsamen Rituals zu gedenken, mit dem aus der Österreicherin Maria Antonia auf einer Rheininsel nahe Straßburg die Französin Marie Antoinette wurde, der Rückweg zu Shakespeare aber wäre zu weit.
Wichtiger ist und in Goethes eigenen Worten dokumentiert, dass er in seiner Vaterstadt selbst ja Gelegenheit nehmen durfte, Krönungsereignissen beizuwohnen. Am 3. April 1764 sah Frankfurt am Main die Krönung Josephs II. Im zweiten Buch von „Dichtung und Wahrheit“ ist nachzulesen, wie Goethe sehr viel später sein sehr frühes Erleben für die Nachwelt darstellte. Wenn er also nur gute sieben Jahre danach das Angaffen eines Haupt- und Staatsereignisses in den Schatten der Betrachtung auch nur eines Details aus dem Lebens- und Schaffensgang Shakespeares stellt, so wertet das den Status des großen Dichters nicht nur enorm auf, es formuliert auch ein Wunschbild für die eigene Bedeutung. Der nächste Satz lässt daran dann auch keinerlei Zweifel: „Wir ehren heute das Andenken des größten Wandrers und tun uns dadurch selbst eine Ehre an. Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns.“ Ist das nicht ein herrlicher Satz von köstlichster Unbescheidenheit? Dem eine Tücke inne wohnt, wenn sie in die Zitatenschätze wandert, von wo der findige Ghostwriter sie schadenfroh seinen meist eher keimfreien Auftraggebern in die Satzkaskaden appliziert.
„Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem
ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborner, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen.“ Das liest sich wie die knappe Beschreibung eines Erweckungserlebnisses religiöser Natur und ist so wohl auch gemeint. Goethe vermeidet in dieser Rede die Erwähnung auch nur eines einzigen Shakespeare-Stückes und die wenige Zeilen zuvor eingeräumte geringe Gesamtkenntnis lässt dies als kluge Entscheidung erscheinen. Der unmündige Student Goethe war bekanntlich in Leipzig über den Kompilator Dodd zu Shakespeare gekommen. William Dodd (29. Mai 1929 bis 27. Juni 1777) versammelte unter dem Titel „Beauties of Shakespeare“ Bruchstücke und Zitate, die einen ersten Überblick auf alle Fälle ermöglichten. Bis 1893 erschienen nicht weniger als 39 Auflagen davon in deutscher Sprache.
Im neunten Buch von „Dichtung und Wahrheit“ lesen wir: „Was man auch gegen solche Sammlungen sagen kann, welche die Autoren zerstückelt mitteilen, sie bringen doch manche gute Wirkung hervor. Sind wir doch nicht immer so gefaßt und so geistreich, daß wir ein ganzes Werk nach seinem Wert in uns aufzunehmen vermöchten. Streichen wir nicht in einem Buche Stellen an, die sich unmittelbar auf uns beziehen?“ William Dodd, im Hauptberuf anglikanischer Geistlicher, starb, als der immer noch junge Goethe bereits in Weimar lebte, in Tyburn am Galgen, weil er ein Fälscher war. Shakespeare freilich hat er nur insofern verfälscht, als er ihm Gemäßes aus dem Gesamtwerk entnahm ohne die ausgewiesene Kompetenz einer für die rechte Auswahl doch sehr nötigen Werkkenntnis. Goethes Rückerinnerung geht so weiter: „Junge Leute besonders, denen es an durchgreifender Bildung fehlt, werden von glänzenden Stellen gar löblich aufgeregt, und so erinnere ich mich noch als einer der schönsten Epochen meines Lebens derjenigen, welche gedachtes Werk bei mir bezeichnete. Jene herrlichen Eigenheiten, die großen Sprüche, die treffenden Schilderungen, die humoristischen Züge, alles traf mich einzeln und gewaltig.“
Wir können sicher sein, dass die Formulierung vom Mangel an durchgreifender Bildung ihn selbst einbezog. Es traf ihn „einzeln und gewaltig“ und davon war er 1771 auf keinen Fall bereits so weit entfernt, wie es nötig gewesen wäre, um mehr als pauschaler Begeisterung Ausdruck zu geben. Denn nach der Beschreibung der Initiation durch Shakespeare kommt Goethe rasch, zu rasch, zu einer sein eigenes Schreiben betreffenden Konsequenz: „Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft.“ Die erste Fassung des „Götz von Berlichingen“, der so genannte „Ur-Götz“, liefert das Anschauungsmaterial, wie der Regelbrecher Goethe schrieb. Wie es weiter ging, ist bekannt. Keines der Ur-Werke blieb von Umarbeitung verschont, manches blieb auf immer Fragment wie „Wilhelm Meister theatralische Sendung“ und gerade deshalb für Goethes Verhältnis zu Shakespeare von höchstem Interesse.
„Shakespeare, mein Freund, wenn du noch unter uns wärest“, lesen wir in der Rede, „ich könnte nirgend leben als mit dir, wie gern wollt ich die Nebenrolle eines Pylades spielen, wenn du Orest wärst...“. Haben wir nicht sofort den frühen Weimarer Goethe vor Augen, an dessen Brust sich Corona Schröter schmiegt, Goethe ist mit pathetisch ausholender Geste der Orest? Die Bescheidung des Zweiundzwanzigjährigen auf den Pylades war nicht viel mehr als eine Episode in seinem Leben und Selbstbild. Pylades, in der Überlieferung Freund und Gefährte des Orestes, später Gatte der Elektra, kommt bei Homer noch nicht vor, wohl aber bei Aischylos und Euripides, und, natürlich dann bei Goethe in der „Iphigenie auf Tauris“. Zunächst aber, das ist einzig wichtig, liefert Shakespeare dem nach Orientierung Suchenden ein Vorbild. Wie viel und wie wenig dieses Vorbild dem tatsächlichen Shakespeare und seinem Werk entspricht, steht auf einem anderen Blatt. Es ist keineswegs ein Geheimnis, dass Goethe beim Abfassen der Rede noch stark unter dem Eindruck und Einfluss Johann Gottfried Herders stand. Straßburg war die wichtigste Keimzelle jener Episode der deutschen Literaturgeschichte, die bis heute mit dem Namen Sturm und Drang bezeichnet wird. Herders Shakespeare-Verständnis, ebenfalls in einer Rede niedergelegt, hat in den Straßburger Disputen der beiden eine wichtige, kaum zu überschätzende Rolle gespielt, die an dieser Stelle ausgeklammert bleiben soll.
„Shakespeares Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt.“ Lautet einer der bevorzugt zitierten Sätze aus der Rede letztem Drittel. Man hat an diesen Satz geschichtsphilosophische Spekulationen der ungenießbarsten Art geknüpft, obwohl doch gerade der historische Sinn für die menschliche Geschichte bei Goethe dezente Behandlung verlangt. Nahe liegender wäre die Annahme, dass der junge Goethe zuerst und vorrangig von den Historien Shakespeares, also den Königsdramen, Notiz nahm, noch die Folge der Shakespeare-Inszenierungen unter Goethes Ägide als Theaterleiter in Weimar würde einen solchen Schluss zwanglos stützen. Wer sich heute Theaterspielpläne anschaut, stößt auf „König Johann“ kaum, auf den dreiteiligen „Heinrich IV.“ eigentlich nie, in Weimar aber waren drei der ersten vier Aufführungen ihnen gewidmet. Nur der „Hamlet“ schob sich dazwischen, der später zwei weitere Neu-Einstudierungen erlebte.
Zur Sturm- und Drang-Kühnheit gehört ganz sicher die sich unmittelbar anschließende Behauptung Goethes, die einem reflexartigen Einwand Raum gibt, um ihn im selben Moment noch abzuschwächen: „Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Willens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt.“ Hier artikuliert sich Unsicherheit, denn einem Vorrang der Idee wollte Goethe ziemlich sicher nicht das Wort reden, die spätere Differenz mit Schiller hätte sonst nie einen Urgrund gehabt. Ob eine so allgemeine Gemeinsamkeit vermeintlich aller Shakespeare-Stücke, die Goethe zu diesem Zeitpunkt mit absoluten Sicherheit noch gar nicht kannte, überhaupt formuliert werden müsse, hätte überlegt werden können. Goethe ließ seinem Übereifer freien Lauf und dem vorschnellen Gesamturteil sämtliche Zügel.
Vom großen Voltaire weiß der junge Festredner, dass der „von jeher Profession machte, alle Majestäten zu lästern“. Voltaire habe „sich auch hier als ein echter Thersit bewiesen“. Es versteht sich, dass der Shakespeare-Verehrer Goethe den Shakespeare-Lästerer Voltaire am liebsten, wenn auch sicher nur verbal, öffentlich gezüchtigt hätte. (Die Geschichte der Auseinandersetzung ist noch heute mit Gewinn nachzulesen in dem Fundus-Band 122 des Dresdner Verlags der Kunst aus dem Jahr 1989: Julij Kagarlizki: „Shakespeare und Voltaire“.) Goethes weitere Entwicklung zeigte dann nicht nur, wie sehr ihn, auf alle Fälle im Theaterpraktischen, die Dramaturgie des französischen Klassizismus doch beeinflusst und beeindruckt hatte, sie zeigte auch Nachsicht mit Voltaire selbst, dem die Weimarer Bühne keineswegs verschlossen gehalten wurde, im Gegenteil. Das lässt sich im Nachgang sehr bequem mit Goethes Begriff der Weltliteratur legitimieren, ist aber auch als Korrektur früher Meinungsstärke sicher kaum fehlinterpretiert.
„Und ich rufe: Natur! Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen!“ Das könnte von Herder sein. Wie auch der Vergleich mit Prometheus, dem Menschenformer. Den Gegensatz von Natur und Unnatur bindet Goethe an den Theatergegensatz zur französischen Bühne, zur Frankreich-Mode allgemein, hier durchaus noch auf der Linie, mit der Lessing die Corneille und Racine fast zum Popanz blähte, um sie zu stärkeren Kontrastfiguren seiner eigenen Dramaturgie zu machen. Die behauptete Unkenntnis des Jahrhunderts in Sachen Natur hat Goethe in der Tat motiviert, nur in eine 1771 noch nicht ansatzweise abzusehende Richtung. Er hat sich ihr vom Granit bis zur Urpflanze, vom Zwischenkieferknochen bis zum Licht in einem Maß zugewendet, dass nicht nur Freunde sich schon Sorgen machten, ob er es mit der Dichtung überhaupt noch ernst meine. Goethe lässt den sympathischsten Satz seine Rede jetzt folgen: „Ich schäme mich oft vor Shakespearen, denn es kommt manchmal vor, daß ich beim ersten Blick denke, das hätt ich anders gemacht!“ Goethe hat sich solcher Regungen, wir wollen ihm gern glauben, da noch geschämt. Heute schämt sich noch der bescheidenste Inszenator, wenn er nicht schon vor dem ersten Blick weiß, dass er es anders machen wird.
Goethe beendet sein Gedenken mit einer nun wirklich tiefen Einsicht in die Bedingtheiten der Welt und folglich ihres Bildes bei Shakespeare: „... das, was wir bös nennen, ist nur die andre Seite des Guten, die so notwendig zu seiner Existenz und in das Ganze gehört, als Zona torrida brennen und Lappland einfrieren muß, daß es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe.“ Goethe hat sich selbst ziemlich früh dafür entschieden, ein gemäßigter Himmelsstrich zu sein. Um es zu sein, musste er sich von Zeit zu Zeit dessen versichern, was ganz anders war. Und wenn er selbst in seiner Jugend, als Stürmer, als Dränger, sich später als Zona torrida erschrocken erkannte, dann war es ihm wichtig, den Weg davon weg als natürlichen, als seinen, als organischen Entwicklungsgang zu begreifen. Der 14. Oktober 1771 hat in der Tat Epoche gemacht.
(geschrieben im März 2014)