Arthur Eloesser: Goethes "Pandora"
Herman Grimm ist als Vorbild ungeeignet. Der sehr gern als Vater der Goethe-Biographik gefeierte Mann (6. Januar 1828 – 16. Juni 1901), Sohn von Wilhelm Grimm, Neffe von Jacob Grimm, Schwiegersohn von Achim und Bettina von Arnim, vergaß Goethes „Pandora“ in seinem fast 600 Seiten umfassenden Goethe-Buch. Wilhelm Hansen (12. April 1911 – 21. Oktober 1986), der Herausgeber der vollständigen Ausgabe, hält in seinem Nachwort sehr rücksichtsvoll fest, Grimm habe die „Pandora“ „stillschweigend übergangen“, Hansen kam nach dem Zweiten Weltkrieg nach Detmold, war dort Dozent, Abteilungsleiter und später Leiter des Lippischen Landesmuseums. Kann man als ausgemachter, als ausgewiesener Goethe-Experte „Pandora“ vergessen, übergehen, ausklammern? Natürlich kann man. „Von allen Werken Goethes scheint die „Pandora“ am meisten einer abstrakten „philosophischen“ Auslegung fähig zu sein und ihrer, zum vollen Verständnis ihres Gehalts und Aufbaus, zu bedürfen.“ Mit diesem Satz leitete Ernst Cassirer seine Arbeit „Goethes Pandora“ ein, die wiederum sein Buch „Idee und Gestalt“ eröffnet. Dieser Satz hat abschreckendes Potential. Abschreckend wirken kann er natürlich nur auf jene, die ihn lesen. Und ihn abschmecken.
Nicht ohne Grund aber schrieb Cassirer „scheint“ statt „ist“. „Ist“ wäre eine Tatsachenbehauptung, die nur an der Probe aufs Gesamtwerk zu beweisen wäre. „Scheint“ erlaubt abstrakte Auslegung, die natürlich möglich ist, ihre Sinnhaftigkeit aber unter Beweis stellen müsste. Ob ein volles Verständnis der „Pandora“ überhaupt denkbar ist, hängt davon ab, was unter vollem Verständnis verstanden wird. Ich zitiere mein „Ernst Cassirer 150“: „Was eine abstrakte, eine philosophische Auslegung nötig hat zum vollen Verständnis, muss sich nicht schämen, darf aber auch herzliches Desinteresse nicht als Boshaftigkeit auslegen. Volles Verständnis scheint mir außerdem selbst eine
fragwürdige Vorstellung. Es ist hinsichtlich der Absichten eines Autors auch bei überragender Quellenlage kaum zu erzielen, in allen Leser-Kontexten aber bekanntlich in Raum und Zeit offen.“ Also: Man darf Stimmen sammeln, Goethe selbst lauschen, der aber gerade bezüglich der „Pandora“ sonstigen Gesprächseifer vermissen ließ. Die Literatur muss immer wieder auf dieselben, nicht nur quantitativ dürftigen Selbstaussagen zurückgreifen. Sie muss Quervergleiche anstellen, Zeitgeschichte befragen, biographische Details, und die Überlieferung des Mythos natürlich auch.
Noch einmal soll Ernst Cassirer zu Wort kommen: „Die Pandora bildet für Goethe die Grenzscheide zweier Epochen: sie bedeutet, rein formal betrachtet, den Höhepunkt seiner klassischen und klassizistischen Periode; aber sie weist anderseits ihrem Gesamtgehalt nach bereits deutlich über diese Periode hinaus. Die Offenbarung der Welt der reinen Gestalt, wie sie Epimetheus durch Pandora zuteil wird, hatte Goethe in Italien erlebt.“ Was für ein Goethe aber war dieser hier behauptete nachklassische Goethe? Der Boden unter den Füßen des fröhlich Fabulierenden geht rasch verloren. Arthur Eloesser stellt die „Pandora“ zunächst in einen Zusammenhang mit anderen Fragment gebliebenen Werken: mit „Elpenor“, mit „Nausikaa“. Schiller habe gar nicht glauben können, dass „Elpenor“ von Goethes Hand stamme. „Eine dramatische Dichtung „Nausikaa“, die ihm mit ihrem idyllisch elegischen Stoff viel näher liegen musste, war nach einer leichten Skizzierung im Stich gelassen worden. In die Antike griff er dann noch einmal 1800 mit der „Pandora“, die man als Paralipomenon zum Faust bezeichnen könnte.“ Die Jahreszahl 1800 ist wohl wieder einer der leider nicht seltenen Druckfehler im Buch, die „Pandora“ entstand 1807/1808.
„Neben Goethes alten Helden Prometheus tritt gleichen Rechtes Epimetheus, neben die Tat die Schönheit, neben die Macht das Sinnen; es ist eine Familie mit allegorisch erzeugten Kindern. Pandoras Töchter Epimeleia und Elpore vertreten ihre Namen, aus den Elementen gezeugt und jeden Augenblick bereit, wieder in sie zu zerfließen. Es ist alles so ineinandergekeilt, sagt Goethe von dem Werk, das er liebte.“ Dies ist eine der erwähnten stets neu zitierten Selbstaussagen. Sie findet sich in den Gesprächen mit Eckermann unterm Datum 21. Oktober 1823. Eckermann hatte Goethe auf seine Weise dadurch herausgefordert, dass er behauptete, den Text nun „fast auswendig“ zu wissen. Dass Epimeleia (Mitgefühl) und Elpore (Hoffnung) ihre Namen vertreten, ergibt sich aus der sinngemäßen Übertragung ins Deutsche, ist bei Lesern des Dramenfragmentes, das, so weit bekannt, nie aufgeführt wurde, aber keineswegs selbstverständlich vorausgesetzt werden darf. So dürfte auch die Aussage über die Versmaße, die Goethe verwendet, deren Vielfalt, deren Wechsel, die Eloesser trifft, nur mit viel Vorkenntnis oder Ergänzungsstudien zu verstehen sein. Der Literaturhistoriker wird selbst lyrisch, seinen Bezug zum Faust nimmt er natürlich beim Wort.
„Das Antike verschlingt sich mit dem Barbarischen, der strenge Trimeter, wie im Helenaakt, wechselt mit angesetzten Reimstrophen. Das Feste scheint erzhaft zu erstarren, das Flüssige leichter als die Luft, die ganze Vision wie durch eine Träne gesehen und auch die hart gemeißelte antikische Rede durch ein Schluchzen erschüttert.“ Dreizehn Jahre nach Veröffentlichung der „Pandora“, im genannten Gespräch mit Eckermann, neigte Goethe zur Ansicht, das Festspiel sei durchaus als Ganzes zu betrachten. Um so bedenklicher erscheint der Versuch, allein aus dem überlieferten Schema und verschiedenen Kontexten „Pandoras Wiederkehr“ zu rekonstruieren, wie ihn Cassirer unternahm und Eloesser gar nicht erst versuchte. Der zitierte acht Verszeilen des Epimetheus, ohne kenntlich zu machen, dass er nach den ersten Zeilen zwei Strophen komplett übersprang. „Der Seligkeit Fülle, die hab' ich empfunden! / Die Schönheit besaß ich, sie hat mich gebunden.“ Dann sofort: „Sie steigert hernieder in tausend Gebilden, / Sie schwebet auf Wassern, sie schreitet auf Gefilden, / Nach heiligen Maßen ergänzt sie und schallte / Und einzig veredelt die Form den Gehalt, / Verleiht ihm, verleiht sich die höchste Gewalt, / Mir erscheint sie in Jugend-, in Frauengestalt.“
Hier ist ein Bezug zum „Faust“ mit Händen zu greifen. „Das ist der Jubel- und Klagegesang des Epimetheus, der lieben muss und nicht altern kann; er hält die weichere und stärkere Stimme neben dem alten Kolonisator Prometheus, dem der Faust auch ein zu starker Bruder gewesen sein mag. Goethe sagt von dieser ungeheuer verwebten und verknoteten Weltdichtung, die aber nur einen allegorischen Gedankenschauplatz hat, dass sie wie die „Wahlverwandtschaften“ das schmerzliche Gefühl der Entbehrung ausdrücken sollte.“ Diese Aussage kann in den „Tag- und Jahresheften“, nicht selten auch nur als „Annalen“ zitiert, nachgelesen werden. Ein Lapsus Goethes sei dabei nicht verschwiegen. Die Herren „Leo von Seckendorf und Dr. Stoll“, gemeint ist Joseph Ludwig Stoll, erbaten seine Mitarbeit nicht etwa für einen Musenalmanach mit dem Titel „Pandora“, sondern für ein Periodikum mit dem Namen „Prometheus“. Warum Goethe im Rückblick auf das Jahr 1807 sich den Freudschen Versprecher leistete, lange bevor der entdeckt war, weiß ich nicht zu sagen, gedruckte Überlegungen dazu mag es geben, sind mir aber nicht bekannt. Der Erstdruck erschien als „Pandoras Wiederkehr“, obwohl Pandora selbst im Fragment gar nicht in Erscheinung tritt.
„Die unauflösbare Dichtung floß ihm aus demselben Erlebnis wie die gleichzeitigen Sonette, die an Minna Herzlieb, die Pflegetochter des Jenenser Buchhändlers Frommann, gerichtet sind. Die kunstvollste, vordenkendste, mit der Reflexion auf sich selbst zurückkehrende Form wird gebraucht, um die Wunden auszukühlen: Sonettenwut und Raserei der Liebe.“ Damit hat Arthur Eloesser genau die Kontexte herausgestellt, die auch andere Autoren später heraushoben. Und er hat, fast unauffällig, die „Pandora“ eine „unauflösbare Dichtung“ genannt. Genau deshalb ist, wie Gero von Wilpert schrieb, „von besonderer Attraktivität für die Interpreten.“ Karl Otto Conrady wusste: „Pandora erschwert dem Leser wie kaum ein anderes Drama Goethes den Zugang. Es ist mit einer Sinnbildlichkeit befrachtet, die nur eine langwierige und mühsame Interpretation auflichten könnte, für die hier kein Raum ist.“ Er selbst hat sich, so weit mir bekannt, diesen Raum auch später nie gegönnt. Eloesser aber schloss mit einem Ausblick in das Jahr, in dem Goethe mit Eckermann über die „Pandora“ sprach: „Das ist auch ein Vorklang zur Marienbader Elegie“. Mit den Worten des Prometheus gesagt: „Wer glücklich war, der wiederholt sein Glück im Schmerz.“