Goethes Totenrede auf Wieland

Wer Goethes Verhältnis zu Tod und Sterben kennt, ist nicht überrascht, dass weder am Sterbetag Wielands noch am Tag danach das Ereignis für notierenswert befunden wurde im Tagebuch. Erst am 22. Januar 1813 hält Goethe fest: „ Geheimer Kammerrath Ridel, wegen der Wielandischen Todtenfeyer. Blieb für mich und dachte die Sache durch.“ Und am 25. Januar 1813 schreibt er in einem Brief an Carl Friedrich von Reinhard: „Unser guter Wieland hat uns in diesen Tagen verlassen, nachdem es nur kurze Zeit sich mehr matt und schwach als krank befunden. Am dritten September ward sein achtziger Geburstag noch feyerlich begangen. Geistesruhe und Thätigkeit hielten sich bey ihm so schön das Gleichgewicht, und so hat er, mit der größten Gelassenheit und ohne das mindeste leidenschaftliche Streben, unendlich viel auf geistige Bildung der Nation gewirkt. Ich habe mir in diesen tagen sein Wesen und Thun recapitulirt; es ist höchst merkwürdig und in Deutschland einzig in seiner Art. Die Franzosen haben eher ähnliche Männer aufzuweisen.“ (Alle vermeintlichen Fehler sind Original-Text Goethe).

Der 25. Januar 1813 war der Tag, an dem in Oßmannstedt Wielands Beerdigung erfolgte, im Auftrag seines Vaters nahm Goethes Sohn August daran teil und erstattete danach Bericht. Weil an diesem Tag auch Johannes Daniel Falk bei Goethe zu Gast war, dessen Wirken als Sozialreformer momentan sogar in Regionalzeitungen Beachtung findet, und Falk den Ehrgeiz hatte, seine Gespräche mit Goethe wie später Eckermann und andere möglichst protokollarisch aufzuzeichnen, besitzen wir nicht nur einen der umfangreichsten Belege zu Goethes Verhältnis zu Wieland damit, sondern eben auch Text, der sich mit dem jener Rede in Beziehung setzen lässt, die Goethe am 18. Februar 1813 in der Loge „Anna Amalia“ hielt. Dem Weimarer Taschenbuchverlag ist zu danken, dass er Falks „Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt“ in einer preiswerten Ausgabe, (erschienen 2010) wieder allgemein zugänglich gemacht hat, die Einführung schrieb Gerhard Heufert, der Falk im selben Verlag auch eine umfangreichere Gesamtdarstellung widmete.

Gegenüber Falk begründete Goethe seine Abneigung, aufgebahrte Tote zu betrachten: „Der Tod ist ein sehr mittelmäßiger Portraitmaler“, soll er gesagt haben, und: „Die Paraden im Tode sind nicht das, was ich liebe.“ „Ich meinerseits will ein seelenvolleres Bild als seine Masken von meinen sämtlichen Freunden im Gedächtnis aufbewahren.“ Vom 23. bis 28. Januar hält das Tagebuch tägliches Nachdenken für die Totenrede fest, am 30. Januar war Goethe dann offenbar nach allen Vorarbeiten am Schema so weit, dass er den Toten auch in seine geistigen Zusammenhänge einzuordnen begann, genannt ist der Name Shaftesbury, der für Wieland in der Tat außerordentlich wichtig war. Am fünften Februar war Goethe erstmals fertig mit seinem Aufsatz, schon am folgenden Tag aber begann er mit dem Anfang neu. Vom achten bis elften Februar feilte er am Text, am dreizehnten ist die endgültige Abschrift vermerkt. Den 18. Februar 1813 hat übrigens Jutta Hecker in ihrem Buch „Wieland“ (1984 in dritter veränderter Auflage im Verlag der Nation Berlin) als Erzähleinstieg gewählt.

Was Goethe in diesen Tagen nach der Todesnachricht tatsächlich durch den Kopf ging, welche Bilder, welche Gefühle ihn bewegten, geht weder aus den knappen Notizen noch aus den Briefen hervor, zur Formulierung reifen nur Ergebnisse, nicht Anfechtungen, die niedergekämpft werden müssen. Dass solche tief in Goethe auf den äußeren Anlass warteten, um aufzutauchen, belegt, was Eckermann unter dem fünften Juli 1827 notiert hat. Da ging der Gedanke direkt von Napoleon zu Wieland und es ist ein mehr als offenes Geheimnis, dass Goethe, so stolz er noch Jahre später auf seinen Orden aus den Händen des Kaisers war, insgeheim Neid empfand auf Wieland, dem sich Napoleon viel länger widmete. Goethe hat sich laut Eckermann Gedanken gemacht, dass die Ilm sich bis zur Grabstätte vorarbeiten könnte im Verlauf von kaum einhundert Jahren und auch künftige Krieger sah er vor seinem geistigen Auge, die die Bildsäule umwerfen könnten. Am 25. Januar 1813 aber, als August nach Hause kam, freute sich Goethe darüber, dass mehr als 500 Menschen freiwillig zum Begräbnis gekommen waren.

Manches, was Goethe Falk anvertraute, erstaunt: „Er änderte sich auch wohl dem Publikum zu Gefallen ab, welches ich da, wo das Werk aus einem Gusse ist, am wenigsten gutheißen kann.“ So reden Leute, die fremden Erfolg nicht ungeschehen machen können, sich aber wenigstens über ihn erheben möchten. Außerdem ist Goethe mit eigenen Werkes aus einem Guss, welche Rechenschaft er sich selbst davon auch immer ablegte, keineswegs zimperlich umgegangen. Dann: „... es war Wieland in allen Stücken weniger um einen festen Standpunkt als um eine geistreiche Debatte zu tun.“ Da scheint Wieland Goethe doch sehr verstimmt zu haben und uns wiederum hat Goethe, ohne es ahnen zu können, eine Linie von Wieland zu Heine angedeutet und Wieland damit fast moderner gezeigt als er selbst war. Immerhin auch dies: „Dieselbe Eigenschaft, die ihn in der Prosa zuweilen beschwerlich macht, ist es, die ihn in der Poesie höchst liebenswürdig erscheinen läßt.“

Weder vor Falk noch in der Loge am 18. Februar aber erwähnte Goethe auch nur mit einer Silbe seine eigene frühe Attacke gegen den Wieland der „Alceste“ (siehe mein Text zu „Götter, Helden und Wieland“ in dieser Rubrik heute). Späte Reue, auch nur vorsichtigste Andeutung einer Korrektur der Sicht: Fehlanzeige. Freilich macht das die Rede selbst kaum weniger bewundernswert als sie sonst ist. Man muss sich nur die genannten Tage in ihrer Tagebuch-Widerspiegelung anschauen, um ansatzweise ermessen zu können, wie souverän Goethe mit dem Gegenstand Wieland umzugehen in der Lage war, obwohl er sich keineswegs ausschließlich darauf konzentrierte. Täglich war er mit anderen Dingen befasst. Er hatte Besuche, Debatten, Briefe, die beantwortet werden wollten, und bei allem ist am Ende ein Redetext entstanden, der kaum zwölf Druckseiten umfasst (in der von mir benutzten Form) und von manchem noch heute für das Nonplusultra an komprimierter Aussage über Wieland gehalten wird. Wobei es natürlich selbst bei größter Skepsis immer dumm wäre, Goethes Meinen snobistisch zu ignorieren und in den bisweilen doch etwas nervigen Altersstil kann man sich immer einlesen.

Ganz plötzlich, das eben zeichnet Goethe neben anderem aus, gerinnt in einem einzigen Wort eine Aussage von epochalem Umfang. Man lese: „Die Wirkungen Wielands auf das Publikum waren ununterbrochen und dauernd. Er hat sein Zeitalter sich zugebildet, dem Geschmack seiner Jahresgenossen sowie ihrem Urteil entschiedene Richtung gegeben...“. Wir müssen nur die einfache Frage stellen, wer in unserer Zeit ein Urteil verdient haben könnte, sich sein Zeitalter zugebildet zu haben und dann wissen wir, wie sehr wir Wieland unterschätzen, wenn wir ihn so ausgeblendet halten, wir wir es alle tun. Plötzlich Shaftesbury, siehe oben das Tagebuch: „Haben wir jedoch, insofern von Ansicht, Gesinnung, Übersicht die Rede sein kann, Shaftesbury und Wieland vollkommen ähnlich gefunden, so war doch dieser jenem an Talent weit überlegen, denn was der Engländer verständig lehrt und wünscht, das weiß der Deutsche, in Versen und Prosa, dichterisch und rednerisch auszuführen.“ In nuce gleich ein Theorem, was wen wem überlegen macht.

Manche Sätze Goethes, und alles andere wäre verwunderlich, lesen sich wie Sätze pro domo: „Wieland fürchtete nicht, durch Studien seiner Originalität Eintrag zutun...“. Oder: „Ein Mann von solchen Talenten aber, predige er auch noch so sehr das Gebührende, wird sich doch manchmal versucht fühlen, die Linie des Anständigen und Schicklichen zu überschreiten, da von jeher das Genie solche Wagstücke unter seine Gerechtsame gezählt hat.“ Fast jedes dieser Wörter verdiente auf der letzten Seite der ZEIT spezifische Hervorhebung, denn man kann das Vorrecht des Genies auch deutlich trivialer behaupten, wobei auch dies eine von den Stellen ist, die, ich schrieb es schon, von manchen als im Umkehrschluss geltend verstanden werden. Nicht das Produzieren eines Wagstücks macht das Genie, auch wenn eine hysterisierte Öffentlichkeit das anhand eines hüpfenden und kreischenden Mädchentrios aus Russland aktuell gerade einmal wieder glauben soll.
Goethe hätte hüpfen dürfen oder eben auch Wieland.

Das Nachdenken über Wieland hat Goethe eine Problematik knapp und extrem prägnant behandeln lassen, die an Aktualität nichts verloren, vielleicht sogar bis heute noch gewonnen hat. „Gar viele Menschen sind noch jetzt an ihm irre, weil sie sich vorstellen, der Vielseitige müsse gleichgültig und der Bewegliche wankelmütig sein. Man bedenkt nicht, daß der Charakter sich nur dadurch aufs Praktische beziehe. Nur in dem, was der Mensch tut, zu tun fortfährt, worauf er beharrt, darin zeigt er Charakter, und in diesem Sinne hat es keinen festeren, sich selbst immer gleichen Mann gegeben als Wieland.“ Dagegen fällt auf, dass sich Goethe mit dem Eingehen auf einzelne Werke Wielands zurückhält. Nur ganz wenige Titel von den überaus vielen, die Wieland hinterließ, werden namentlich genannt. Auch deshalb sprach Goethe nicht aus Koketterie seine Überzeugung aus, „daß nicht eine flüchtige Stunde, leichte, unzusammenhängende Blätter, sondern ganze Jahre, ja manche wohlüberdachte und geordnete Bände nötig sind, um sein Andenken rühmlich zu feiern...“.
Dem ist nun wirklich nichts hinzuzufügen.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround