Werner Bräunig 80

Klar war sofort: Ich werde nicht über „Rummelplatz“ schreiben. Und auch nicht über den Rummel um „Rummelplatz“. Ich hätte sonst über das schlechte Gewissen des gesamtwestdeutschen Feuilletons mutmaßen müssen und seine leicht posaunenchorhafte Art. Auch habe ich mir den sehr dicken „Rummelplatz“ erst als Taschenbuch gekauft und das auch erst dann, als es mit dem Stempel Mängelexemplar auf dem Markt erschien. Das ist die gehobene Form der Verramschung respektive die legale Umgehungsstraße gegen die deutsche Buchpreisbindung. Mein Archiv wäre selten ergiebig gewesen, ein reichliches Dutzend an Lobeshymnen stecken friedlich vereint in ihrer Klarsichthülle. Werner Bräunig, der heute seinen 80. Geburtstag feiern könnte, wenn er sich nicht totgesoffen hätte, stand kurzzeitig, also genau gesagt, nur 2007, im Ruf, zu einer Art von Ost-GrassBöllWalser das Zeug gehabt zu haben, wenn er denn nicht, siehe eben.

Klar war bald, dass ich mir aus der so genannten „Mülltonnenfassung“ des zu Lebzeiten Bräunigs unveröffentlichten Großromans das Stück „Stalins Blick“ herausgreifen  werde und zwar auch, weil dort eine kranke Mutter ihre keineswegs übertrieben lebenshungrige Tochter anschreit: „Da möchte man wirklich wissen, was sie an dir haben, an so einem Dürrwanst! Machst ihm die Beine besonders breit, was?“ Es wäre meine Affinität zu solch herrlichen Wörtern wie Dürrwanst gewesen, die mich auf elegisch-elogische Pfade gelockt hätte. Stalin als Zugabe hätte ich natürlich sehr absichtsvoll in Kauf genommen, denn fein ist geschildert der Kinoabend zu Ehren des 70. Geburtstages des Generalissimus Josef Wissarionowitsch Dshugashwili, zielsicher sind herausgegriffen die unsäglichen Verse des Dichters Johannes R. Becher und des Pseudo-Dichters Kurt Barthel, genannt KuBa. Ich hätte mich an die Freuden meiner eigenen Revolutionsfilm-Stunden erinnern können, in denen ich den Siegen der Guten über die Bösen zusah, die guten setzten im entscheidenden Moment des Kampfes von Pferden gezogene zweirädige Wagen ein, auf denen ein schweres Maschinengewehr montiert war, das pausenlos feuerte, es musste gar nicht geladen werden, und die Weißen fielen und fielen.

Doch dann tat ich, was ich immer tue, wenn der Blick ins Papier-Archiv fündig wurde, ich setzte die zweite Suche an, die in meinem virtuellen Archiv. Und siehe, die entsprechende, ziemlich dürftige Datei, am 13. April 2011 letztmalig aufgerufen, lud mich zur Lektüre einer Reportage ein, im Jahr 1966 von Werner Bräunig geschrieben, von dem ich längst wusste, dass er eine ganze Anzahl von Reportagen schrieb für jene SED-Bezirkszeitung in Halle, in der der sich selbst gern Arbeiterjunge nennende Beinahe-Balzac der anhaltinischen DDR-Literatur, Erik Neutsch, sein Wesen trieb und seine Sporen sich verdiente. Die nämliche Reportage trägt den Titel „Soviel Sand hat nicht mal die Sahara“, sie erschien in der erwähnten „Freiheit“, so lustige Namen trugen damals die exemplarisch unfreien Zeitungen, meine hiesige hieß „Freies Wort“ (und heißt so immer fort und weiter, bis der letzte Leser gestorben ist), am 17. August 1966. Schon zehn Jahre später, am Todestag Brechts und Geburtstag Erwin Strittmatters, starb Bräunig. Ich werde, wenn ich es nicht vergesse, seines vierzigsten Todestages gedenken 2016, etwas mit einer 40 feiere ich dann selbst ein paar Tage vorher. Und fahre zu diesem Zweck eigens nach Venedig.

Die Reportage aber, das überrascht uns in Kenntnis der Geschichte der DDR-Literatur nicht sonderlich, schreitet auf dem 1966 schon einigermaßen ausgetretenen Pfad des „Bitterfelder Weges“ zügig voran, Werner Bräunig war es selbst, der dazu den berühmt-berüchtigten Aufruf „Greif zur Feder, Kumpel!“ hatte verfassen müssen dürfen. Er war, lax gesprochen, so etwas wie die/eine große Hoffnung der jungen Autorengeneration, bis er während des noch viel berühmt-berüchtigteren 11. ZK-Plenums der SED Mitte Dezember 1965 so durch den politisch-ideologischen Fleischwolf gedreht wurde, dass er sich nie wieder davon erholte. Man könnte an der Geschichte seiner letzten Lebensjahre manche DDR-Geschichte neu oder gar erstmals erzählen, die Herausgeberin Angela Drescher hat in der „Rummelplatz“-Ausgabe ebenso wie in der Neu-Ausgabe der Erzählsammlung „Gewöhnliche Leute“ mit ihren ausführlichen Nachworten weit mehr als nur Vorarbeit geleistet. Besonders reizvoll wäre vielleicht das Verhältnis der SED-Bezirksfürsten untereinander, in Bräunigs Fall das von Horst Sindermann (Halle) zu Paul Fröhlich (Leipzig). Unter den vollkommen Kulturblinden gab es selten einen Einäugigen, so dass bisweilen derjenige, der Hell und Dunkel noch schwach zu unterscheiden vermochte, schon locker als Adlerauge durchging.

Die Reportage „Soviel Sand hat nicht mal die Sahara“ führte den aus Leipzig nach Halle exilierten Bräunig, man hatte ihm natürlich auch seinen Job als Dozent am Literaturinstitut kalt entzogen, nach Halle-West, wo gebaut wurde. Er sollte, so beginnt er seinen Text, ohne darin „ich“ zu sagen, einen Maurer-Polier porträtieren. Ich erinnere mich sehr gut, wie das Verfahren noch Jahre später war in so einer Bezirkszeitung. Der Betriebsparteisekretär erhielt einen Anruf, der einen Reporterbesuch ankündigte. Der Betriebsparteisekretär rief den BGLer an, also den Betriebsgewerkschaftssekretär des FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund, der DGB des Ostens - für West-Leser) und dann wurde gemeinsam überlegt, welcher verdienstvolle Arbeiter erkoren werden könnte, dem Reporter Rede und Antwort zu stehen. Ob das für Werner Bräunig so lief bei seinem Meister Michel Herale, weiß ich natürlich nicht.

Ich habe auch die verschärftere Variante selbst  noch in Suhl kennengelernt, wo der Reporter mit einem fertigen Statement in den Betrieb schritt und dann dazu die passende Person erwählt wurde, die sich dazu hergab, der mitgebrachten Meinung zu sein. Das Verfahren zu vereinfachen, hatte in meiner Abteilung NIP (Nachrichten und Informationspolitik) jeder länger gediente Mitarbeiter einen Stamm potentieller Ansprechpartner, sonst hätte es bisweilen ewig gedauert, wenn die Stimme einer parteilosen Hausfrau mit mindesten vier Kinder gesucht worden wäre. Wenn späten DDR-Forschern nichts mehr einfällt, könnten sie sich dem Thema widmen, wieviele Ordensträger/innen der kleinen Republik auf ähnlichem Weg zu ihrem Erstruhm kamen, dem dann der Folgeruhm der jeweils nächsthöheren Orden anhaftete allein deshalb, weil die vielen zuständigen Kaderkommissionen bei einem/einer Ausgezeichneten nicht noch einmal alles prüfen mussten. Eine liberaldemokratische Chemielehrerin mit drei eigenen Söhnen, die einmal „Verdiente Lehrerin des Volkes“ geworden war, lief Gefahr, irgendwann noch „Held der DDR“ zu werden.

In Halle-West nun verblüffte der Polier den Reporter Bräunig mit einer doch ziemlich schrägen Selbstbezichtigung, er nannte sich Lügenbaron und ließ sich dann freilich nicht übertrieben lange bitten, das zu begründen. Die Begründung enthält das ganze komplette Elend der sozialistischen Planwirtschaft, es braucht (scheinbar) kaum mehr als die reichlich vier Druckseiten der Reportage in der Buchausgabe „DDR-Reportagen“ des Leipziger Reclam-Verlages, um das durchsichtig zu machen. Und deshalb, hier kann man Angela Drescher auch einmal widersprechen, die die Reporter-Tätigkeit wie auch die späten Erzählungen Bräunigs sehr abschätzig charakterisiert, ist für den Wissenden alles gesagt, was freilich zugleich eine Eigenart eines großen Teils der kritischeren DDR-Literatur ausmacht. Unwissende, die in diesem Fall von Reiner Kunze abweichend nicht geschult werden müssen, um unwissend zu bleiben, waren in der etwas dümmeren Lage, dass mit ihnen kein Einverständnis herzustellen war. West-Leser haben ohnehin für alles, was in Fabrik und Baugewerbe handelt, die auf die Gruppe 61 zurückgehende Formel „Literatur der Arbeitswelt“ bei der Hand, von der man sich distanzieren kann wie von der Literatur über Hundewelpenzucht oder über das Anlegen von Steingärten in Nordhanglagen.

Der Lügenbaron fälscht Abrechnungen und ist damit keineswegs allein. Normalerweise wäre das ein Gegenstand für das Eingreifen eines gut funktionierenden, also vorauseilend gehorsamen Chefredakteurs, doch hatte die kleine Republik tatsächlich bisweilen Anfälle, in denen der Grad öffentlicher Verlogenheit jäh und begrenzt gesenkt wurde und dann ging plötzlich durch, was eben noch Verbannung bedeutet hätte und drei Monate später auch bereits wieder Verbannung bedeutete. Wobei, siehe oben, die Hell-Dunkel-Wahrnehmung des in der jeweiligen Bezirksleitung der SED agierenden Propaganda-Sekretärs, der die einschlägigen Vor- und Nachlieben seines Ersten Sekretärs arbeitsteilig bedienen musste, von hoch dimensionierter Bedeutung war. Noch gegen Ende der DDR ging unter Kulturmenschen die Furcht um, der Berliner Konrad Naumann könne den Saarländer Honecker beerben und bei dem Gedanken allein verwandelten sich die potentiell gehandelten anderen Kandidaten Schabowski und sogar Krenz in erträglichere Gestalten.

Der Titel der Reportage, um das rasch für alle zu verraten, die nicht nur wegen dieser vier Seiten ein Antiquariats-Netzwerk kontaktieren wollen, bezieht sich auf die abgerechnete Menge Sandes in Halle-West. Der Lügenbaron ergänzt, das verhalte sich beim abgerechneten Bau-Holz ganz ähnlich: „Also, meine Lieben, das ist so ungefähr die Menge, die in ganz Sibirien seit der Oktoberrevolution gewachsen ist, eher ein bißchen mehr.“ Das klingt nur lustig, lustig war das keineswegs. Wer als gelernter DDR-Bürger einmal erlebt hat, dass ein gelernter Heizungsmonteur tagelang lieber Ausfallgeld kassierte als das Loch für seine Rohre selbst zu stemmen, weil der Tarif dafür schlechter war als der eigene für nichts, der findet das auch ein Vierteljahrhundert nach dem Hinscheiden der kleinen Republik bestenfalls haarsträubend. Eine so verfasste Wirtschaft musste scheitern und das auf ihr fußende System mit in den Abgrund reißen. Der Schriftsteller Werner Bräunig aber, der sich zu bewähren hatte und dennoch dem Alkohol verfiel, der konnte gar nicht anders, als selbst dann, wenn er als schwer gebranntes Kind sehr brav sein wollte, wenigstens nicht vollkommen brav zu sein.


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