Jürgen Kuczynski liest Heinrich Böll
Wenn ich gegen all meine Gewohnheit diesen Beitrag zum Böll-Jubiläum mit dem ersten Satz eines WIKIPEDIA-Eintrags beginne, hat das Sinn und Absicht. Also: „Jürgen Kuczynski (*17. September 1904 in Elberfeld (jetzt Wuppertal); † 6. August 1997 in Berlin) war ein deutscher Wirtschaftshistoriker und Wirtschaftswissenschaftler.“ Da steht ausdrücklich nicht: Jürgen Kuczynski war ein deutscher Soziologe. Dennoch gefiel es ihm, sich im Umgang mit Vertretern anderer Disziplinen Soziologe zu nennen und wenn die anderen genügend Takt hatten sowie dazu den nötigen Respekt, dann akzeptierten sie die Selbstbezeichnung. In der positiv unendlichen Reihe seiner Publikationen, zu der auch eine unfassbare Masse an Büchern gehört, gibt es ein Buch, fast 500 Seiten stark immerhin, das den Untertitel „Soziologische Studien zur deutschen Literatur“ trägt, Haupttitel „Gestalten und Werke“. Es erschien 1969 im Aufbau-Verlag und kombinierte eine Reihe von bereits veröffentlichten mit eigens für diesen Band geschriebenen Arbeiten. Darunter, um zwei herauszugreifen, „Diltheys Novalisbild und die Wirklichkeit“ und „Immermann und die Industrielle Revolution“. Man hat diese Arbeiten zu beachten, schon weil in der DDR weder Wilhelm Dilthey noch Karl Immermann je bevorzugte Forschungs- oder gar Publikationsgegenstände waren.
Manche von Kuczynskis Zwischenüberschriften machen regelrecht neugierig: „Vom möglichen Nutzen unschöner Literatur“ heißt eine, darunter geordnet die Namen Ernst Willkomm, Friedrich Spielhagen und Max Kretzer, auch diese drei eher Stiefkinder literaturwissenschaftlichen Eifers zwischen Fichtelberg und Rügen damals. Bricht also einer hier, ein fachfremder mit all seiner im eigentlichen Fach erworbenen Autorität sogar, etwa rein stoffliche Tabus gleich in Serie? Wenn ja, mit welcher Absicht in der genauen Mitte zwischen dem VII. und dem VIII. Parteitag der SED, zwischen Ulbricht und Honecker sozusagen? Wer sucht, wird finden. Dieses Buch enthält ganz zweifelsfrei mit dem Segen der Druckgenehmiger einige „Richtigstellungen“ besonders dummer Vulgarismen marxistisch-leninistischer Färbung, die als solche jene „Stellen“ bildeten, nach denen der kritische DDR-Leser suchte. Denn: Wer in der DDR Kritik üben wollte, die keineswegs per se verboten war, der musste sich idealerweise auf Autoritäten berufen können, die idealerweise über allen Zweifel erhaben waren. Marx, Engels, Lenin gingen am besten. Fand sich bei denen nichts, dann durften Klein- und Neben-Klassiker ran und fand sich bei denen nichts, dann wenigstens ausgewiesene parteitreue Kommunisten wie eben Jürgen Kuczynski. Der war schon problematisch.
Wenn also der Jürgen Kuczynski, der mit den Partei-Oberen auf Du und Du verkehrte, mal eben sagte: Also, so schlimm ist das Buch nicht, wie Ihr alle sagt, dann war es plötzlich tatsächlich nicht so schlimm, wie alle sagten, schöne DDR-Welt. Dieser Jürgen Kuczynski hatte, warum auch immer, ein Faible für Universalität, ihm ging ein Wort wie „Gelehrte“ in all seiner Altertümlichkeit auch locker aus Hand und Mund. Schließlich dilettierten auch Marx, Engels und Lenin als Literatur-Experten, zwei, drei Engels-Sätze über Realismus, da mal ein Marx über Balzac, dort mal ein Lenin über Tolstoi und dann noch Shakespeare gegen Schiller, da ließen sich ganze Vorlesungsreihen an marxistisch-leninistischen Lehrstühlen draus brühen. Aber immer blieben unangenehmen Stellen, wo alle Klassiker der Reihen 1 bis 7 sich ausschwiegen. Plötzlich gab es die extrem unangenehme Aufgabe, selbst denken zu müssen, das wohl Härteste, was die Partei ihren Entscheidern auferlegte. Ging es vielleicht nicht wenigstens über Umwege? Es ging. Kuczynski war da ein Umweg-Bauer. Der las, brav wenigstens dem Scheine nach, seinen Heinrich Böll erst, wenn es den in einer DDR-Ausgabe gab, also bisweilen mit recht herzlicher Verspätung. Da war jenseits der Barrikade, wie Kuczynski die Grenze vollen Ernstes nannte, die Debatte nicht nur geführt, sondern vergessen.
1962 veröffentlichte die NEUE DEUTSCHE LITERATUR (ndl) im Juli-Heft Kuczynskis Beitrag „Arbeitslosigkeit und Not bei Anna Seghers und Heinrich Böll“. Wer freilich erwartet, es würden hier die bis dahin erschienenen Gesamtwerke beider Autoren auf das selbst gestellte Thema hin ausgewertet und durchforscht, irrt. So würde vielleicht ein ahnungsloser Jung-Germanist an die Sache herangehen, der Wirtschaftshistoriker in seiner Nebenrolle als Soziologe greift zielstrebig und nach dem Prinzip der mexikanischen Würfelbude, wie wir früher sagten, nach dem Seghers-Roman „Die Rettung“, zuerst 1937 in einem Amsterdamer Exil-Verlag erschienen, und nach Bölls „Und sagte kein einziges Wort“, als Buch zuerst 1953 in Köln erschienen. Wobei Kuczynski beide Erstausgaben meidet, der Philologe müsste sich wohl da bereits von seiner befristeten Stelle verabschieden wegen Verletzung elementarer wissenschaftlicher Regeln, und munter heranzieht, was ihm eben in die Hände kommt, Seghers von 1947, Böll von 1960. Allein die Lektüre der Darstellung des Seghers-Romans von Heinz Neugebauer im vierbändigen DDR-Romanführer zeigt, wie unfassbar unbedacht Kuczynski für seine Zwecke „Die Rettung“ reduzierte mit dem sicher unbeabsichtigen Nebeneffekt, den Roman als geradezu abschreckend langweilig vorzuführen.
Hier wie immer arbeitet Kuczynski mit langen und überlangen Zitaten, die er entweder für sich sprechen lässt, gern aber und lieber knapp kommentiert. Wie charakteristisch die Stellen für das Buch, für Autor oder Autorin sind, interessiert ihn nicht, wenigstens lässt er es sich nicht anmerken. „An Hand des ersten Entwurfs der Arbeit über Anna Seghers und Heinrich Böll half mir Anna Seghers durch kritische Bemerkungen, die Konzeption Bölls besser zu begreifen.“ Woher Anna Seghers diese Konzeption kannte – kein Wort. Wir wissen heute, dass sie mit Böll in einem Briefwechsel stand, ihn auch gelegentlich traf. Wir wissen, dass Anna Seghers darauf hin wirkte, Böll den Lenin-Friedenspreis zu verschaffen, erfolglos. Noch die zweibändige Ausgabe mit Seghers-Briefen aus dem Jahr 2010 (Band V/1 und V/2 der großen Werkausgabe) bietet nur zwei Briefe an Böll, einer davon die arg verspätete Gratulation zum Nobelpreis. Kuczynski gibt sich gern als der Lernende: von Anna Seghers lernt er, von der sowjetischen Genossin Tamara Motyljowa lernt er (sie wurde DDR-Lesern 1981 mit einer Monographie über Romain Rolland bekannt), und er lernt auch von einem weiteren sowjetischen Genossen, dessen Namen er auffällig verschweigt. Es handelt sich ziemlich sicher um Lew Kopelew, das erklärt das Schweigen mehr als hinreichend.
Sowohl Motyljowa als auch der Anonymus Kopelew, mit dem Böll bis an sein Lebensende befreundet war (beider Briefwechsel erschien spät und umfasst alles in allem fast 800 Druckseiten), machten Kuczynski darauf aufmerksam, dass seine Lesart sehr problematisch sei. Das betrifft aber schon die eigens für den Band „Gestalten und Werke“ geschriebene Arbeit „Heinrich Böll: „Irisches Tagebuch“ - oder von der Tendenz, die man nicht merkt“. Wir sind vorerst noch bei „Und sagte kein einziges Wort“. Was kann man mit einem Anfang wie diesem anfangen: „Anna Seghers und Heinrich Böll sind große Künstler, denn sie sind gesellschaftlich bewusste Meister der Form.“ Den Terminus „gesellschaftlich bewusster Meister der Form“ hat sich Kuczynski selbst frei erfunden, Privatsprache aber ist keine Wissenschaftssprache, wobei man neue Termini natürlich immer einführen kann, man muss sie dann, trivial genug, das erwähnen zu müssen, nachvollziehbar definieren. „Stets handelt es sich bei beiden um gesellschaftlich bedeutsame Probleme. Natürlich kann man auch Individualprobleme … gestalten. Doch der Wert solcher Romane liegt dann vorwiegend im Artistischen – nicht in der Gestaltung eines allgemein interessierenden Inhalts.“ Was um alles in der Welt ist das für eine theoretische Ausgangsbasis? Nicht als Vor-Festlegungen!
Kuczynski braucht offenbar einen Gegensatz. Die Konstruktion dieses Gegensatzes zwischen den Arbeitslosen bei Seghers (vor 1933) und denen bei Böll (Nachkrieg) ist mehr als nur willkürlich, weil Kuczynski da eine Tendenz auf Kollektiv und gemeinsames klassenkämpferisches Handeln sehen will, wo sie vielleicht gar nicht ist, während bei Böll der einsame Alleinige gesehen wird, der einfach nicht auf eine Barrikade will. Dass es sich in beiden Romanen um sehr unterschiedliche Problemlagen handelt, will der Soziologe vernachlässigen. Den Katholizismus der schlesischen Bergarbeiter bei Seghers klammert er komplett aus und damit die beste Vergleichsmöglichkeit zu Böll. Die alles tatsächlich interessant machen würde. „Aber wir sehen bei Böll die Gesellschaft nicht vor uns wie bei Anna Seghers in der Gemeinschaft der Kumpel, einer Klasse oder Schicht. Alles ist individualisiert, und die Individuen erkennen sich und ihre Leiden nicht im anderen, sondern grübeln in sich selbst versenkt, oder gar häufig nur im Spiegel“. Aber: Literatur ist Individualisierung, gute Literatur weist im Individuellen über eben dieses Individuelle hinaus ins Allgemeine und Überzeitliche. Sollte das an Jürgen Kuczynski tatsächlich komplett vorbei gegangen sein? Oder hat er an der falschen Stelle gelernt? Wo zitiert Marx welches Werk warum?
Kann man von dieser Gebundenheit absehen, muss man es sogar, wenn man ein „guter“ Marxist sein will? Nein, es ist eine vollkommen sachfremde Logik, die auf Themenstellungen hinausläuft wie „Der rothaarige Frisör im Schwank der Spätaufklärung im mitteldeutschen Sprachraum“ oder „Das Bäckerhandwerk bei Erwin Strittmatter“. Kuczynski stößt immerhin auf mehrere Böll-Stellen, in denen Spiegel vorkommen. Folgt solchen Spuren aber nur wie zufällig. „Bogner geht nach Hause. Kein kleiner Mann, kein Pinneberg, den sein Lämmchen wärmen wird. Vielmehr ein leidgeprüfter Mensch, der einen anderen Menschen bei sich zu Hause weiß.“ Wieso ist nun dieser andere Mensch zu Hause weniger oder wertloser als das wärmende Lämmchen bei Hans Fallada in „Kleiner Mann – was nun?“ „Und Böll zeigt nicht, kann nicht zeigen – dazu ist er ein zu großer und zu ehrlicher Realist - , dass dies künftig anders wird. Dazu ist er auch ein zu guter Katholik, zu tief in einer Religion verankert, die ihren Sinn verlieren würde, wenn die Menschen nicht sündanfällig wären.“ Hätte er das künftig Andere im Sinn von Kuczynski gezeigt, stünde er heute da wie die, die sich über das Künftige lieber täuschten, statt es zu halten wie der Realist Böll. Die Sündanfälligkeit der Arbeiterklasse der DDR 1989/90: sie wollte Westgeld und freien Zugang zur Arbeitslosigkeit.
Kuczynski gab sich 1962 gegenüber Böll als Vertreter eines „Wir“: „... wir, denen es darauf ankommt, nicht nur das Sterben, sondern auch das Leben zu meistern, die wir eine Welt ohne Arbeitslosigkeit schaffen wollen, in der auch, ja auch ein frommer Mensch gesichert leben kann“. Ein paar Jahre später wandte er sich Bölls „Irischem Tagebuch“ zu. Es ist wiederum faszinierend im schlimmen Sinne, wie sehr er seine soziologische Sicht berechtigt fühlt, von allem, aber auch wirklich allem, was das bis heute erfolgreichste Buch Heinrichs Bölls tatsächlich ausmacht, abzusehen. Weder kennt er Umstände des Entstehens, noch überhaupt Umstände aus dem Leben Bölls. Das wäre zu individuell, ist zu vermuten. Stimmen zum Buch kennt er natürlich auch nicht oder sieht großzügig über sie hinweg. Dafür schwelgt er in Langzitaten, als müsste er DDR-Lesern den Text wenigstens in Teilen nahe bringen, der ihnen sonst vorenthalten bliebe. Das aber war vollkommen überflüssig. Denn als Band 498 der Insel-Bücherei erlebte das Büchlein immerhin zwei Auflagen mit 50.000 Exemplaren zum Preis von 1,25 DDR-Mark, da konnte nicht einmal die dtv-Ausgabe aus München mithalten, die bis 1991 allerdings schon eine ganze Million Auflage erreicht hatte, Bölls Witwe Annemarie bekam dafür so etwas wie die Goldene Schallplatte des Verlages.
„Böll gehört wie Thomas Mann, Dürrenmatt und Hochhuth zu den großen bürgerlichen Humanisten unter den Schriftstellern unserer Zeit.“ Auch hier beginnt Jürgen Kuczynski mit einer allgemeinen Vorfestlegung, bei der die Zusammenstellung der Namen insofern irritiert, als im Buch weder Dürrenmatt noch Hochhuth eine auch nur halbwegs nennenswerte Rolle spielen, Thomas Mann dagegen gelten immerhin etwa 50 Druckseiten. Man muss wissen, dass die NEUE DEUTSCHE LITERATUR 1964 in ihren Heften 8 und 9 zweiteilig „Friedrich Dürrenmatt – Humanist“ druckte, ebenfalls zusammen runde 50 Druckseiten, die aber in keinem der unendlich zahlreichen Bücher von Kuczynski je nachgedruckt wurden, was mehr als nachdenklich stimmt. Jetzt also hat er das Inselbuch gelesen und ist, man kann es kaum anders deuten, einigermaßen begeistert. Was aber begeistert einen soziologischen Leser? Vergleicht man die erst in diesem Jubiläums-Jahr wieder neu angelaufene Neugier auf das Tagebuch, das keines ist, mit dem, was dem DDR-Mann damals auffiel, dann sind es auffällig nicht die Schönheiten, die Böll sah und empfand. Genüssliche Reportagereisen auf Redaktionskosten an Bölls Schauplätze fanden zu allen Böll-Jubiläen seit seinem Tod reges Interesse, wir wissen alles über Schafe, Meer und Felsen, die Namen der Berge.
Was mich tief verblüffte, weil ich es tatsächlich nicht verstehe: Warum schrieb der Irland-Kenner und Liebhaber Heinrich Böll Whisky und nicht, was jeder Kenner des entsprechenden Getränks weltweit und darüber hinaus weiß: Whiskey, die irische Schreibweise des Getränks, das in Irland viel weicher schmeckt als bei den Schotten, die immer etwas Friedhofserde beibrennen oder Torf, was die Sache nicht besser macht. Gefiel sich Böll in der falschen Schreibweise wie ein kleiner Bub aus Köln, der als Ministrant vom Messwein nascht? Auch der West-Emigrant Kuczynski hätte es wissen können, Bölls Korrektoren, Lektoren sowieso. Und die Millionen westdeutscher Pfadfinder, die angeblich auf Bölls Spuren durch Irland wanderten? Wenn Kuczynski seine Arbeit mit einem Zitat von Günter Wirth beginnt, dann ist das wieder keine philologische Belesenheit, denn im Heft 3 1965 druckte NEUE DEUTSCHE LITERATUR mit dem wohl wichtigen Hinweis „Vollständiger Abdruck“ auf dem Titelblatt Bölls Erzählung „Entfernung von der Truppe“ nach, dazu eilfertig eine Besprechung von Werner Liersch im hinteren Teil. Kuczynski brauchte ein Weltanschauungs-Dossier zum aktuellen Böll, Günter Wirth, nach hauptamtlichen Funktionärsjahren für die DDR-CDU später Verfasser eines lesenswerten Buches über Böll, liefert es ihm gewissermaßen frei Haus.
Aus der Allerweltsaussage Wirths, der den Titel „Entfernung von der Truppe“ als Metapher für Böll selbst nimmt, folgert Kuczynski: „Das ist eine typische kritische Haltung eines Bürgers. Er entfernt sich vom Establishment“. Daran verblüfft nur die westlinke Kampf-Vokabel „Establishment“, die keineswegs alltagsgängig war im so genannten „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft“ in der DDR. Unmittelbar anschließend schreibt Kuczynski allen Ernstes: „... aktive Opposition, jedoch ohne Barrikadenbau, wie er zum Klassenkampf gehört“. Das kann man nicht einmal als besonders schlechten Witz gelten lassen: 1969 gehört Barrikadenbau zum Klassenkampf?? In Mitteleuropa?? Der Klassenkämpfer will jedoch auf eine begriffliche Differenzierung hinaus, wie sie zwar prinzipiell immer zu begrüßen ist, hier jedoch klar in die Irre führt: „Es ist genau diese „Opposition auf gleicher Ebene“, die den bürgerlichen Humanisten vom kleinbürgerlichen unterscheidet.“ Böll wird den Bürgern zugeschlagen, den Kleinbürgern im Kontrast dazu wenig später Günter Grass. Was für eine müßige Literatur-Soziologie wäre das, wenn es denn überhaupt eine wäre! Noch ist vom „Irischen Tagebuch“ kein Wort gefallen, da klebt das Etikett schon auf seinem Verfasser. Es wird Zeit, dass wir den Soziologen am Material sehen.
„Vielerlei lässt sich über dieses Erlebnisbüchlein einer Ferienreise nach Irland sagen, da man so vielerlei Seiten des Landes und des Lebens seiner Einwohner in so vielerlei Stimmungen und Situationen des Autors kennenlernt.“ Darf einer, nur weil er der hochberühmte Professor Jürgen Kuczynski ist, soviel herzige Ahnungslosigkeit an den Anfang von Ausführungen über genau dieses Büchlein stellen? Disqualifiziert ihn das nicht sofort und irreversibel? Er hilft sich mit seinen üblichen Lang- und Endloszitaten über die vermutlich selbst gar nicht empfundene Peinlichkeit hinweg. Er kommentiert: „Soziale Kritik? Sicherlich! aber nicht irgendwie kritisch vor- und aufgetragen. Das, was Engels schätzte: je weniger man von der Tendenz merkt, um so besser.“ Wen, um alles in der Welt, interessiert im Jahr 1969 ein Rückgriff auf die „Tendenzkunst-Debatte“, die die deutsche Sozialdemokratie um die Wende von 19. zum 20. Jahrhundert führte? Hat dieser Wirtschaftshistoriker tatsächlich alles verschlafen, was es an Entwicklung seither gab? Aus den Darstellungen Heinrich Bölls leitet er ab, es handle sich hier um Erscheinungsweisen von „Lumpenproletariat“ und wieder sind wir bei Begrifflichkeiten, deren Relevanz eben nicht einfach vorausgesetzt werden darf, selbst wenn vollkommen klar ist, aus welchen Quellen sie stammen.
Damit offenbart Kuczynski erst einmal nur, dass er fast ausschließlich mit Marx-Begriffen operiert, die keineswegs automatisch auch wissenschaftlich solide bestimmt sind. Aktuell würde schon aus Gründen des offiziösen Diskriminierungsverbots und der allgemeinen sprachlichen Euphemismus-Vorliebe der heutigen Deutschen ein solches Wort niemand mehr benutzen. Kuczynski zieht aber sogar in Erwägung, Böll könnte bestimmte Theorien besser beherrschen als mancher professionelle Wissenschaftler. Das folgt verfahrenstechnisch ebenso Marx, denn der zog ähnliche Folgerungen, wenn Goethe oder Shakespeare sich zu Geld oder Gold äußerten (ihre Figuren sich äußern ließen, genauer gesagt). „Vielleicht ist es aber auch so, dass seine wundervolle Beobachtungsgabe und sein gesunder gesellschaftlicher Menschenverstand völlig ausreichen, um ihn so erleben und schildern zu lassen.“ Ketzerisch könnte man fragen, ob die Beobachtungsgabe eines bürgerlichen Humanisten genau dann wundervoll ist, wenn sie etwas sieht, was Marxisten vorher schon wussten? Kuczynski hangelt sich von Leitbegriff zu Leitbegriff der Klassiker, nachfolgende Entwicklungen oder gar Ausarbeitungen von Theorie sind ihm gleichgültig. Dem Realismus mit seinen Wunderwirkungen selbst gegen eigene Klassenzugehörigkeit folgt deshalb auf dem Fuße nunmehr: das Typische.
Und hier bricht es plötzlich aus ihm heraus. Erst fragt er noch eher rhetorisch: „Vielleicht besuchen ihn im Durchschnitt eines Jahres nur 11,7 Prozent der Männer. Ist er deswegen weniger typisch?“ Dann aber kommt es hageldick: „Zum Teufel mit den korrekten Bildern, die eindruckslos an uns vorübergehen!“ War Jürgen Kuczynski etwa ein früher Gegner der „Political Correctness“ in ihrer nervenden Schnarchnasigkeit, wie wir sie heute kennen? Natürlich nicht. Aber er kannte die DDR-Debatten natürlich, die Typik an statistische Signifikanz binden wollten, was natürlich ganze DDR-Theorien hinfällig gemacht hätte, die sich an „Keime“ hielten, um Dinge für typisch erklären zu können, die es im Prinzip noch gar nicht gab. Diese seltsamen Problemlagen verstehen heute vermutlich nur noch winzige Minderheiten, dabei waren sie nun wirklich DDR-typisch. Und selbst in dieser Hinsicht verrät sich Tagebuch-Leser Kuczynski als urtypischer DDR-Bürger, Böll schreibt vom frischen Lachs, den es zur Begrüßung gab, er kommentiert: „frischer Lachs; frischen Seelachs natürlich meint Böll. So wie man den grauen Kaviar meint, wenn man einfach Kaviar meint“. In der DDR gab es hauptsächlich salzig schmeckenden Lachs-Ersatz, der feuerwehrrot aussah, wenn es ihn gab, was selten genug vorkam. Kaviar aber, den kannten die Oberen in Kombination mit Krimsekt.
Kuczynski hält sich an Bölls Bild vom verlassenen Dorf auf (durchweg alle Irland-Reisenden in redaktionellem Auftrag haben diese Häuseransammlung bedacht und sogar durchgezählt), weil er nun aus seiner vollen Vorratskammer schöpfen kann. Wer vierzig Bände „Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus“ füllte, kennt selbst die Quellen, die es gar nicht gibt, um so mehr aber Oliver Goldsmith, George Crabb, William Cobbett oder den überseeischen Bret Harte, die allesamt verlassene Dörfer oder Städte beschrieben. Das Wissen ehrt seinen Träger, zur Sache Böll trägt es freilich nichts bei. Der hat dann aber noch einen Abschnitt geschrieben, den sein Leser als stark politisch empfindet. Ästhetik, Sprache, Poesie, das alles nimmt der Soziologe, wenn es denn gar nicht anders geht, noch eben so mit, Hauptsache aber Politik, Klassenkampf, Verdacht auf Bündnisfähigkeit des Verfassers. Böll schildert ein Kneipengespräch, in dem ihm sein Gegenüber seine Deutschland-Sympathien versucht, nahe zu bringen. Dieser Paidrac dachte offenbar nach dem Ur-Motto: Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde. Da Hitler ein Feind der Engländer war, muss ich ein Freund Hitlers sein, wenigstens der Deutschen. Nachdem ihm Böll, seine tatsächlichen Argumente verschweigend, Hitler ausgeredet hat, ist der Ire stark verunsichert in seiner Liebe.
„Du musst sie, sagte ich leise, nicht wegen, sondern trotz Hitler gern haben.“ Und Kuczynski rafft sich zu einem gewagten Superlativ auf: „Eine der erstaunlichsten politischen Szenen in der Weltliteratur.“ Sagen aber will er und hier ist er wieder fast übergangslos systemkritisch gegen sein eigenes Land: „Jeder routinierte Propagandist hätte diese Sentenz bestimmt laut von sich gegeben, als starke Schlusspointe. Böll aber spricht leise und, wie wir meinen, um so wirksamer.“ Das ist, der Deutlichkeit halber sei es wiederholt, gegen routinierte Propaganda gesprochen, nicht gegen Propaganda. Als Propaganda wollte Jürgen Kuczynski Literatur durchaus nutzen, wenn es sich anbot. Wenn er aber Böll bei vermeintlicher Vorsicht ertappte, war er unnachsichtig. Böll wünschte sich, die Zerlumpten wären gefährlicher und sofort stehen alle Antennen des DDR-Lesers auf Empfang: „Das ist schon nicht mehr allgemeine Menschheitsphilosophie gegen Klassenphilosophie der Herrschenden. Das ist schon Klassenphilosophie der Unterdrückten gegen die Klassenphilosophie der Unterdrücker.“ Und weiter: „Der Tendenzunterstreicher hätte hier vielleicht weiter ausgeführt oder, wenn er geschickt gewesen wäre, wortlos mit drei Punkten geendet.Umgekehrt fühlt Böll wohl, dass er zu weit gegangen. Schließlich ist er kein Barrikadenstürmer.“
Die nun folgende Behauptung ist es, die ihm seine beiden sowjetischen Briefpartner einfach nicht abnehmen wollen, vollkommen zu Recht. „Er ist ein Großbourgeois in seiner Haltung, tief human im bürgerlichen Sinne“. Die Frage, ob das der eigenen Klassentheorie zufolge überhaupt geht, stellt sich Kuczynski nicht, er strebt, nach einem finalen Lob des von ihm höchst einseitig rezipierten Büchleins einer finalen Distanzierung zu. Zuerst das Lob: „Wunderbar ist die Kunst Bölls, mit der er uns die Welt des Unrechts, die ihn umgibt, erleben lässt.“ Dann die Distanzierung: „Und doch erkennen wir bisweilen nur allzu deutlich die Grenzen – auch diese feingezeichnet - , die Böll sich selbst setzt, setzen muss: als humaner, fein empfindender, edel denkender, antimonopolistischer, großbourgeoiser Bewohner des Landes jenseits der Barrikade, der bei uns nur zu Gast sein kann.“ Den Großbourgeois Böll wollte Tamara Motyljowa beim besten Willen nicht sehen, sie schrieb von plebejischen Zügen, was Kuczynski gleich zur bedeutsamen Unterscheidung von „proletarisch“ stilisierte. Schlussendlich versucht er sich herauszureden auf den faulen Kompromiss, es gäbe Zeiten, wo es auf Grundzüge, und Zeiten, wo es auf Spezifika ankäme. Verloren gegangen ist über allem die eigentliche und sehr lebendige Substanz von „Irisches Tagebuch“. Gewonnen ist die Erkenntnis, dass Kuczynskis Methode am einzelnen Autor, mehr noch am einzelnen Buch, versagt.