Paul Körner-Schrader: Die silbernen Kugeln

Liebesperlen, warum es verschweigen, gehörten bis vorgestern zu den Dingen, von denen ich nicht wusste, ob es sie überhaupt noch gibt. Ich hätte auch nie sagen können, aus welchen Gründen ich mit einem meiner Freunde vor langer, langer Zeit testete, wie ein Aluminium-Pfennig aussieht, wenn der Zug von Ilmenau nach Großbreitenbach darüber gefahren ist. Erinnern kann ich mich, so scheint es mir jetzt, nur daran, dass der Pfennig heiß war und natürlich nicht mehr brauchbar. Für einen einzigen Pfennig konnte man zu der Zeit, von der im Trompeterbuch „Die silbernen Kugeln“ erzählt wird, ein kleines Tütchen Liebesperlen kaufen, für zwei Pfennig schon eine Lakritzstange. Meine Erinnerungen reichen nur bis zu Zeiten, da ich für fünf Pfennig ein kleines Tütchen loses Sauerkraut kaufte auf dem Heimweg von der Schule. Die Tüte für fünf Pfennig war spitz, die für zehn Pfennige fasste so viel Sauerkraut, dass bis zu Hause nicht alles aufgegessen war. Nicht nur, dass ich bis vorgestern nicht hätte sagen können, ob es noch Liebesperlen gibt, noch weniger, dass unter ihnen früher silberne waren. Denn die kleine Nuckelflasche hatte ich schon noch vor Augen. Also aktivierte ich meine Standard-Suchmaschine und siehe: es gibt sie noch, sogar im Fläschchen.

Noch größer aber die Überraschung, als ich las, Liebesperlen würden immer noch dort hergestellt, wo sie einst erfunden wurden: in Görlitz. Erfinder war ein Rudolf Hoinkis, Großvater des jetzigen Inhabers Mathias Hoinkis, der ein enorm freundlicher Mann ist, auch wenn ein ihm völlig fremder Mensch ihn anruft, der nach silbernen Liebesperlen fragt. Der, während man mit ihm spricht, schon nach dem Buch sucht auf seinem PC, von dem ich rede und es schon vor Augen hat, während ich noch immer rede. Ja, die Trompeterbücher, von denen will heute kaum noch jemand etwas wissen, und es könnte auch tatsächlich schwierig werden, die Geschichten von Lenin, von hilfsbereiten Pionieren, netten NVA-Soldaten, Partisanen und Schäfern, von Bootsmännern auf Schollen den Kindern, die Kids genannt werden, nahe zu bringen. Tatsächlich, es gab silberne Liebesperlen, sie wurden am Anfang mit Aluminium umhüllt, was später verboten wurde aus lebensmittelchemischen Gründen. Das Silber der Gegenwart entsteht aus komplizierten Zutaten in komplizierten Prozessen, jedenfalls für mich kompliziert. Mathias Hoinkis kannte das Büchlein von Paul Körner-Schrader nicht, das ich ihm für die Firmenchronik empfohlen hatte, damit endet die Geschichte aber nicht.

Denn wenn ich Görlitz höre, klingelt es bei mir wie im Hirn von Pawlows Hund, ich denke an eine liebreizende Dame, mit der ich und die liebreizende Dame an meiner Seite sowie dem Gatten der liebreizenden Dame seit nahezu vierzig Jahren gemeinsam Silvester feiern. Also rufe ich an, man befindet sich im Home-Office, frage, ob ein eventuelles Erinnern an eine Süßwarenfirma in Görlitz vorhanden sei und nenne den Namen. Wunder, oh Wunder, man kennt die Firma nicht nur, die Firma saß vorn in dem Haus, in dessen hinterem Teil der eigene Vater seinerseits eine Firma betrieb. Diesen Vater wiederum kenne auch ich sehr gut, wir wohnten zwei-, dreimal in seinem Haus in Niederkassel. Er war der rüstigste Mann mit deutlich mehr als 90, den ich je kennenlernte. Nun blieb mir gar nichts, als abermals in Görlitz anzurufen, wo ich von der Firma im Hinterhaus sprach. Der Inhaber sagte ungläubig sinngemäß, das gebe es doch nicht, er habe kürzlich erst mit seiner Mutter darüber gesprochen, ob denn der alte XY noch lebe und ich erzählte ihm von ihm und von der Tochter und er kannte auch den Bruder der Tochter noch, der auch in einer Süßwarenfirma arbeitet, die unter anderem Lakritzstangen fertigt. Alles nur wegen eines 60 Jahre alten Büchleins.

Von Paul Körner-Schrader ist gar nicht so sehr viel zu sagen, was als ganz sicher anzusehen ist. Er hieß eigentlich Karl Schrader, lebte aber sieben Jahre illegal unter dem Namen Paul Körner, weil er einer Haftstrafe von sieben Jahren Zuchthaus entgehen wollte wegen Beteiligung an revolutionären Aktionen der Jahre 1920, 1921. Danach fängt es an, verwirrend zu werden. Er habe nach der Generalamnestie von 1928 als Redakteur bei der KPD-Zeitung „Die rote Fahne“ gearbeitet. Heißt es an mehreren Stellen, an einer aber auch, er habe 1926 dort angefangen. Drei Gerichtsverfahren habe er auf sich gezogen: 1929, 1930 und 1931, sie hätten ihm mehrjährige Haftstrafen eingetragen, die er in mehreren Gefängnissen auch absitzen musste. Eine Literaturstelle spricht von fünf Jahren insgesamt während der Weimarer Republik, die sehr kurze Zeit in der Festung Thorn bis zum Ende des Ersten Weltkrieges kann nicht mit gemeint sein, die Jahre von 1921 bis 1928 können ebenfalls nicht mit gemeint sein, es bliebe also leidglich der Rest von 1928 bis Ende Januar 1933, danach gab es keine Weimarer Republik mehr. Das wiederum würde bedeuten, dass Körner-Schrader nach der Amnestie ununterbrochen in Haft gewesen sein müsste, wogegen jede Wahrscheinlichkeit spricht.

Denn wie sollte er aus der Haft heraus zum II. Internationalen Kongress der revolutionären Schriftsteller 1930 in Charkow gelangt sein, wie sollte er einen Roman geschrieben haben, wie diverse andere Texte, wie in der Redaktion gearbeitet haben. Nebenher muss er auch verheiratet gewesen sein, ob er Kinder hatte, konnte ich nirgends erfahren. Ich stieß aber auf einen Brief von Johannes R. Becher an Willi Bredel vom 26. Februar 1935, in dem Becher Bredel die seltsame Mitteilung macht, Frau Ruth Körner-Schrader sei als seine, Bechers Frau, über die Grenze in die Sowjetunion gelangt. Das Personenverzeichnis der Briefausgabe nennt Ruth Körner-Schrader die Ehefrau Paul Körner-Schraders. Diese Lesart hat auch Alexander Behrens in seiner Becher-Biographie, bei ihm kann man zusätzlich erfahren, Bredel habe die Frau als politisch unzuverlässig eingestuft. Auf dem Friedhof in Berlin-Baumschulenweg aber liegt Paul-Körner Schrader im Doppelgrab mit Gertrud Körner-Schrader (1908 – 1984). Das müsste dann seine zweite Frau gewesen sein, wenn er vorher eine gehabt hätte, die Ruth hieß. DDR-Schriftsteller-Lexika kennen gar keine Frau, dafür seltsame Geschichten aus seiner Zeit als Soldat der Wehrmacht nach 1939.

Dass er ganz „normal“ 1939 einberufen worden sein soll, macht es sehr unwahrscheinlich, dass er den Machthabern als großer, gar illegaler Gegner gegolten haben kann, die waren entweder „wehrunwürdig“ oder kamen in Strafbataillone. Dass er als Soldat der Wehrmacht von 1939 bis 1945 Kontakte zu Partisanen in Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion gehabt haben soll, ohne jemals in Gefahr geraten zu sein, jemals Verdacht erregt zu haben, ist wiederum so extrem unwahrscheinlich, dass es ein lebendes Wunder gewesen wäre, wenn es denn nicht einfach eine Legende war, die nachträglich behauptet wurde. So weit, so schlecht. Paul Körner-Schrader war kein Stephan Hermlin. Er gehörte als Mitglied des Bundes Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller zu den Autoren, die 1932 in die später legendär gewordene Malik-Anthologie „30 neue Erzähler des neuen Deutschland“ aufgenommen wurden. Seine Erzählung „Da schlief ich auf Dynamit“ findet sich unter dem Titel „Ich schlief auf Dynamit“ auch in der 1960 noch zu seinen Lebzeiten erschienenen Sammlung „Brot für den großen Tisch“ und in der Reclam-Anthologie „Wir sind die Rote Garde“, dabei interessanterweise jeweils in einer leicht abgewandelter Textfassung.

Nachwirkungen kaum erwartbarer Art hat Paul Körner-Schrader, der nicht sehr alt wurde (25. April 1900 – 18. Mai 1962) ausgerechnet bei einem Mann gezeitigt, den man auf den ersten und sicher auch auf den zweiten Blick kaum mit ihm in Verbindung gebracht hätte: Heiner Müller. Sein Fragment „Traktor“, geschrieben laut der Ausgabe in der Reihe „dialog“ des Henschelverlags Kunst und Gesellschaft Berlin 1977 in den Jahren 1955/61, geht auf eine Reportage „Der Traktorist“ zurück, die Körner-Schrader für die Anthologie „Helden der Arbeit“ beisteuerte, die im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin 1951 erschien und heute aus mir nicht bekannten Gründen nur sehr schwer auf dem Antiquariatsmarkt zu finden ist. Auch Anna Seghers griff den Vorwurf auf, der Traktorist Paul Arndt, von dem die Reportage erzählt, ist bei ihr in der dritten der insgesamt sechs „Friedensgeschichten“ zu Hermann Geschke geworden. Der Vergleich der beiden Prosa-Arbeiten offenbart keineswegs überraschende Unterschiede hinsichtlich der rein literarischen Qualität. Beide sind dennoch sehr interessant für jene kurze frühe Entwicklungsphase der Landwirtschaft in der DDR, da die Kollektivierung noch keine oder jedenfalls keine öffentliche Rolle spielte.

„Die silbernen Kugeln“ finden sich in meinem vor den Sommerferien 1964 anlegten Leseregister, das ich bis heute führe, als Nr. 40 auf der zweiten Seite, was leider nichts darüber verrät, wann ich das Trompeterbuch Nummer 13 tatsächlich las, denn die ersten 98 Titel schrieb ich aus dem Gedächtnis hinein. Das anfangs noch separat geführte Register für Heftchen und Broschüren zeigt an, dass ich „Im Brunnenloch gefangen“, gedruckt in der Reihe „Das neue Abenteuer“ als Nummer 21 und in meinem Geburtsjahr erschienen (damals 25 Pfennig, jetzt antiquarisch 14 Euro, wenn es überhaupt zu haben ist) vor November 1968 gelesen haben muss. Ältere erinnern sich vielleicht der Hefte mit der gelben Ecke. Selbst Günter Kunert hat in dieser Reihe veröffentlicht, das rare Stück aus dem Jahr 1955 trägt die Nummer 72 und hieß „Jäger ohne Beute“. In „Die silbernen Kugeln“ erzählt eine Großmutter ihrer Enkelin, die gerade so alt ist, wie sie selbst war, als das Erzählte sich zutrug, aus einer Zeit, wo Grubenarbeiter das Petroleum für ihre Grubenlampen selbst bezahlen mussten, wo das Marktprinzip galt, vertreten durch zwei Läden, die sich Schritt für Schritt, Pfennig für Pfennig, gegenseitig unterboten, bis der Preis bei 15 Pfennig den tiefsten Stand erreichte.

Da gab es plötzlich die Verpflichtung für die Arbeiter, das Petroleum in der Grube selbst zu kaufen, der nunmehrige Monopolpreis war sofort deutlich höher und stieg weiter. Als er bei 27 Pfennig anlangte, gab es Widerstand, die Arbeiter wollten zurück auf 25 Pfennig, was immer noch volle 10 Pfennig mehr gewesen wären als der tiefste Preis. Langer Rede kurzer Sinn: Das Petroleum-Lager wird, absichtlich oder nicht, angezündet, der Vater der erzählenden Großmutter wird, weil er der Delegation beim Direktor angehörte, sozusagen als Anstifter und Rädelsführer verhaftet. Die kleine Elfriede und ihr Bruder sind deshalb, was man im Dorf Waisen nennt, obwohl der Vater lebt, wenn auch im Gefängnis, obwohl die Mutter lebt, wenn auch im Siechenhaus. So nannte man es damals noch, heute heißt es in Flandern immer noch so: Ziekenhuis. Nehmen wir die Firmengeschichte des Görlitzer Hauses zu Hilfe, der zufolge der Inhaber Rudolf Hoinkis mit den fertigen Perlen nach Hause kam, wo Frau und Sohn ihn erwarteten, es war Freitag, der 3. April 1908, und Gattin Emilie vorschlug, sie doch Liebesperlen zu nennen, nachdem er gesagt hatte: „Ich liebe euch wie diese Perlen, für die ich noch keinen Namen habe!“ Seither heißen sie so und silberne waren stets dabei.

Die Geschichte von Paul Körner-Schrader erweist sich somit als sehr gegenwärtig: das Büchlein erschien 1960, 50 Jahre vorher wäre 1910 gewesen, auf alle Fälle gab es schon eine kleine Legende um die silbernen Liebesperlen, die ihren Siegeszug ja erst noch anzutreten hatten nach jenem alles andere als schwarzen Freitag. Elfriede und ihr Bruder werden jedenfalls getrennt, kommen zu unterschiedlichen Zieheltern, Elfriede zu einem schlimmen, seine Lehrlinge prügelnden Schlosser, der Bruder zu einem Müller. Wie grausam die Zeiten waren, führt Körner-Schrader immer wieder vor, ohne überdeutlich den Zeigefinger zu heben: als die lungenkranke Mutter stirbt, darf der Vater aus dem Gefängnis zwar zur Beerdigung kommen, man löst ihm aber nicht die Handfesseln, damit er Erde auf den Sarg werfen kann, er muss es mit den Füßen tun. Eine der Strafen des Meisters für die Lehrlinge ist Wasserentzug und weil Elfriede den Jungen hilft, schenken sie ihr von ihrem Bringegeld insgesamt vier Pfennige. Die sie in Liebesperlen umsetzt, die ihr dann leider aus der Tasche fallen vor den Augen der Meisterin. Elfriede wird erst des Diebstahls verdächtigt, dann muss sie die Perlen auf den Mist werfen. Dann wird aber der Vater vorzeitig aus der Haft entlassen.

Die silbernen Kugeln, eben noch alles andere als Glück bringend, haben nun doch Glück gebracht. Die kleine Elfriede muss nicht zurück in die eiskalte Dachkammer bei dem bösen Schlosser-Paar, sie darf zum Onkel Otto und zur Tante Marie, bis der Vater wieder zu Hause ist. Das Buch erzählt außerdem von Mahlzeiten armer Leute, Brennnessel-Salat mit Sauerampfer, der den Essig ersetzen muss, zum Beispiel. Die Großmutter der Großmutter sagt: „Kann nur sein, dass der Teufel dem Herrgott die Augen ausgekratzt und die Nase abgebissen hat, dass er nicht merkt, was man mit uns treibt.“ Manchmal geht eine Idee auch in die Hose: „Wenn die Handschuhe billiger werden, kommen die armen Menschen sicher bald ohne Hände zur Welt.“ Sagt der Vater, der natürlich weiß, dass ohne Hände der Arbeiter gar nicht arbeiten kann, der böse Kapitalist hat also Interesse an gesunden und starken Händen. Muss man für Kinder vielleicht nicht so genau nehmen, könnte der Autor gedacht haben. Muss man aber, muss man gerade für Kinder. Auch dies klingt kaum besser: „Einmal wird es aber anders sein, genau umgekehrt wird es sein. Jeder wird das haben, was ihm zusteht.“ Kleine DDR-Bürger und auch größere lernten dagegen: Sozialismus hieße: jeder nach seinen Leistungen, Kommunismus: jeder nach seinen Bedürfnissen. Was aber steht einem zu?

Der Vater sagt zum Bahnarbeiter, bevor er von der Beerdigung zurück ins Gefängnis gebracht wird: „Und pass auf, Gustav, wenn das große Feuer im Bratofen der Welt einmal ordentlich knistert, dann werden die Teufel in Menschengestalt auch ganz saftig geschmort werden.“ Das klingt wie im Märchen, enthält aber sehr reale und sehr brutale Implikationen, die jeder, der die Geschichte der besseren Welt bis zu ihrem Ende 1989/90 kennt, nicht einfach ausklammern kann. Doch ist ein Büchlein für Leser von 8 Jahren an natürlich kein Lehrbuch für Klassenkampf-Vollzug, es enthält auch keine Anweisungen, Kulaken zu ermorden, verhungern zu lassen, Klassenfeinde an die Wand zu stellen. Es erzählt von einem Vater, der eine bessere Gesellschaft wollte, seiner Tochter, der er zum Vorbild wurde. Und die wiederum ihre Lebenserfahrungen weiter reichen will. Vorn auf dem Buch sieht man ein Mädchen an einem Seil hängen, es hat Schleifen an den Zöpfen, ist barfuß und trägt eine karierte Schürze. Aus dem Buch wissen wir, dass das der Vater nicht nur für seine Tochter baute, er hob die Kinder hoch, damit sie rollen konnten zwischen zwei Bäumen. Er war ein guter Vater, sagen Bild und Buch. Silberne Kugeln kommen nicht mehr nur aus Görlitz, aber immer noch.


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