Reiner Kunze und Heinz Knobloch
Es war ein frommer Wunsch, den Reiner Kunze am Ende seines Vorworts zur ersten eigenen Feuilletonsammlung von Heinz Knobloch, „Herztöne und Zimmermannssplitter“ (Mitteldeutscher Verlag Halle/Saale 1962) vortrug. Demnach „hegen seine Freunde (es werden ihrer bald sehr viele sein) die berechtigte Hoffnung, dass er alt werden und der Mitteldeutsche Verlag noch manches Nachwort für Knoblochsche Feuilletonbände zu vergeben haben wird.“ Nun, Knobloch hat seinen 77. Geburtstag erlebt, Reiner Kunze, der sieben Jahre jüngere, erreicht heute sogar seinen 91. Geburtstag. Bezüglich der Nachworte hat es wenig geholfen. Eines durfte Kunze noch schreiben: für den Band 2 in der langen Reihe Knobloch-Bücher: „Die guten Sitten ...“ (Mitteldeutscher Verlag Halle 1964). Er schrieb es im März 1963 in Greiz, das erste war in Usti nad Labem entstanden im August 1961. Das zweite und letzte Nachwort aber erlitt Schicksal: irgendwann zwischen der ersten und der neunten Auflage, die sich als veränderte bezeichnete, verschwand es ins Nirwana, denn Kunze war eine Unperson geworden. Es verschwand auch ein ihm gewidmetes Feuilleton aus dem Buch: „Der fünfte Blumenstrauß“. Die diesem entnommene Kapitelüberschrift aber blieb und es darf gerätselt werden, ob das als stiller Protest zu gelten hatte oder doch nur Schlampigkeit war.
Reiner Kunze und Heinz Knobloch lernten sich kennen, als Knobloch im Auftrag der „Wochenpost“ nach Leipzig kam, wo Kunze, jung wie er war, Vorlesungen zum Thema Feuilleton an der Fakultät für Journalismus zu halten hatte. Das erste Nachwort von August 1961 gibt sogar eine präzise Zeit an dafür. Knobloch erschien am Morgen des allerersten Vorlesungstages, hatte ein Manuskript dabei, „das, weil es weder ein Kurzgeschichte noch ein Kommentar, noch eine Glosse sei, ein Feuilleton sein müsse.“ Wir dürfen davon ausgehen, dass hier doppelte Ironien wirksam waren, denn natürlich konnte Knobloch („ein junger Mann mit dem misszuverstehenden Namen“, so Kunze) einen Kommentar von einem Feuilleton unterscheiden und der deutlich jüngere Mann war, noch ehe er seine Vorlesung gehalten hatte, auch keineswegs schon eine Instanz für Grenzfall-Entscheidungen. In Redaktion wie Fakultät, um es abzukürzen, gingen die Meinungen auseinander und zwar diametral, was ein Feuilleton sei und zu sein habe. Denn darum ging es letztlich in der Hauptsache; man wollte eines, aber es sollte keines sein mit bürgerlichen Familienähnlichkeiten. „So wurden wir Freunde, im Frühjahr 1957.“ Etwas ausführlicher und etwas anders erzählt diese hübsche Geschichte Heinz Knobloch in „Das Lächeln der Wochenpost“ sehr viele Jahre später.
Demnach hatte er, Knobloch, im Kreise weiterer Fernstudenten, Kunze zum Thema „Reportage“ gehört und das sei beeindruckend gewesen. Bei Knobloch ist auch nicht ganz klar, ob es in Leipzig oder in Berlin war, wo offenbar ebenfalls Seminare der Fakultät abgehalten wurden. Immerhin will er den ihm bis dato Unbekannten in der Pause gefragt haben, ob er wisse, was ein Feuilleton sei: „Dieser vertrauenerweckende Mensch hieß Reiner Kunze.“ Der lud Knobloch für nächsten Monat zu seiner Vorlesung. Knobloch schrieb etwas mit dem Titel „Die Unscheinbaren“, dieses Manuskript war es dann wohl, von dem auch Kunze Jahre zuvor geschrieben hatte. „Ich nahm mein Manuskript mit nach Leipzig, lauschte aufmerksam Kunzes Vorlesung für seine Studenten und gab ihm, vorher erreichte ich ihn nicht, mein vermutliches Feuilleton auf der Toilette. Kann sein, dass er es dort überflog und zu einem Feuilleton erklärte; ich reiste jedenfalls froh nach Hause“. Das auf dem Herren-Klo geadelte Werk erschien in der Wochenpost Nummer 22 unter der Überschrift „Unser Feuilleton“. „Das nächste „Unser Feuilleton“ stammte von Reiner Kunze. Es ging also, wie man unter Brüdern und Schwestern sagen würde, wie das Brezelbacken. „Und so ging es weiter.“ Es entstand, was sehr viel später, ohne Substanz hinzuzufügen, Win-Win-Situation genannt wurde.
„Er freute sich über die Gelegenheit, seine und Texte seiner Studenten, die er dazu animierte, gedruckt zu sehen, was jene beflügelte. Ich wiederum brachte Redaktionskollegen und Schriftsteller in diese Reihe. Wobei wir nicht übersehen wollen die Macht eines Feuilletonchefs, sich selbst zu drucken!“ Ich habe einen Chefredakteur kennengelernt, der ließ im Wirtschaftsteil der von ihm geleiteten Zeitung komplette zwei Seiten mit Auszügen aus seinem ersten Buch füllen unter der Angabe, es sei die zweite Auflage in Vorbereitung, wobei in der Buchhandlung des Städtchens noch Jahre später eingeschweißte Exemplare der ersten Auflage verstaubten. Wer die Macht hat und sie nicht nutzt, ist wohl tatsächlich ein Trottel. „So entwickelte sich eine prächtige Zusammenarbeit, die zu einer zeitweilig engen Freundschaft führte. Reiner Kunze erlebte scheußliche Verfolgung in seiner Universität, nächtelange Versammlungen, Verdächtigungen, Bedrohungen, so dass er, dem Rat eines weisen Professors Budzislawski folgend, diese schändliche Fakultät verließ. Vielleicht hat er später darüber geschrieben, wer weiß.“ Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur, dass in Kunzes schmaler Dokumentation „Deckname „Lyrik““ (Sachbuch Fischer, Frankfurt am Main 1990) der Name Knobloch nirgends auftaucht, was mich enorm beruhigte. Hätte es anders sein können?
Ein frühes Produkt dieser prächtigen Zusammenarbeit bekam im Mitteldeutschen Verlag Halle 1960 den Titel „Mir gegenüber. Vierzig Feuilletons“ mit dem Vermerk: „Herausgegeben und bearbeitet von Heinz Knobloch / Reiner Kunze“. Das 150-Seiten-Bändchen hat ein Vorwort der Herausgeber, wir können also nicht sehen, was davon auf des einen, was auf des anderen Kappe geht. Immerhin: von den vierzig Feuilletons entfallen neun auf Reiner Kunze, sechs auf Heinz Knobloch. Diese sechs sind komplett in „Herztöne und Zimmermannssplitter“ nachgedruckt, welche von Kunze in welchem seiner Bände, weiß ich nicht zu sagen. Es käme aus den DDR-Jahren allenfalls in Frage „Aber die Nachtigall jubelt. Heitere Texte“ (Mitteldeutscher Verlag Halle 1962). So lange es irgend ging, hat Knobloch jede Chance genutzt, den Namen seines Freundes ins Spiel zu bringen. In „Herztöne und Zimmermannssplitter“ hat er dem Feuilleton „Das Gedicht“ ein nämliches von Milan Kundera eingefügt, dessen deutsche Fassung von Reiner Kunze stammt. Dass Kunze einer der bedeutendsten Nachdichter aus dem Tschechischen ist, bedarf eigentlich keiner besonderen Erwähnung, es neu zu hören, schadet allerdings auch nicht und niemandem sowieso. Ein kleines Beispiel liefert auch das weithin vergessene Knobloch-Buch „Rund um das Bett“.
Es erschien 1970 zuerst im Verlag der Frau Leipzig-Berlin als „Sibylles Kopfkissenbuch“ und hatte gleich auf der dritten und vierten Text-Seite ein Kindergedicht von Reiner Kunze „Ich muss schlafen gehn“. Kunze dort nach Shakespeare (im Motto) und vor dem sowjetischen Haupt- und Staatspädagogen Makarenko im Buch zwei Jahre nach Prag 1968, wenn das keine Botschaft war! „Er heiratete später eine tschechische Kieferorthopädin, die mir einen Weisheitszahn entfernte, wofür ich ihr ewig dankbar bleibe.“ Das Fazit 2002 lautete für Knobloch: „Jedenfalls gelang uns in der Wochenpost eine Zusammenarbeit. Und als er an den politischen Gemeinheiten der Leipziger Universität scheiterte und sie verließ, druckte die Wochenpost seine Seite „Ein Schriftsteller schlossert“. Kunze, zeitlebens ein erzgebirgischer Dickschädel, war ohne Grund in einen Betrieb gegangen, wo die größten Eisenbahnräder gerundet wurden.“ Schön wäre gewesen, wenn auch da die Ausgabe der Wochenpost genannt worden wäre wie beim eigenen frühen Text, aber man kann nicht alles haben. War Knobloch selbst auch ohne Grund in die Neptun-Werft Rostock gegangen, wie er es jetzt Kunze unterstellte? Oder war da am Ende doch Bitterfeld mit seinem Weg (ohne Ziel) im Untergrund seit 1957 wirksam? 1958 ging dann mit einer Weihnachtskantate zu Ende.
Deren Verfasser war Reiner Kunze, sie trug den Titel „Halm und Himmel steht im Schnee“. „Reiner Kunze, von der Journalistischen Fakultät der Leipziger Karl-Marx-Universität herausgewürgt, wurde vom Schriftstellerverband unterstützt, indem er Lehrgänge für den Nachwuchs und Schreibende Arbeiter betreuen konnte – als begabter Pädagoge, der er war.“ Und gegen Honorar natürlich, was auch begabte Pädagogen benötigen, falls sie keine gut dotierte Kieferorthopädin an der Seite haben, die für das Brot unter der Wurst sorgt. „Mich holte er dazu nebst anderen Autoren nach Cottbus. Und nach Kühlungsborn: Dort war eine wissbegierige Mannschaft versammelt, die sich über mich freute, weil der vorangegangene Referent mitten in seinem Vortrag eingeschlafen war.“ Das muss Professor Hastig gewesen sein aus der späteren Sesamstraße, falls es nicht Reiner Kunze höchstselbst war. Hier kam, was in „Herztöne und Zimmermannssplitter“ nicht deutlich wurde, der „Produktionseinsatz“ in der Neptunwerft zustande, dessen Darstellung Kunze in seinem Nachwort so besonders lobte. Nicht nur „Zimmermannssplitter“, weitere Texte verdanken sich diesen Wochen direkt auf dem Schiff, nicht nur in der Werkstatt. „Und du läuft die Buchhandlungen ab, ob es irgendwo ausliegt.“ Heute ist es selbst in Antiquariaten selten, es gab nie eine 2. Auflage.
Dafür aber die veränderte neunte von „Die guten Sitten ...“. Dort fehlte, siehe oben, nicht nur das Nachwort von Reiner Kunze, sondern auch das Feuilleton „Der fünfte Blumenstrauß“, der neunte Text des gleichnamigen Kapitels. Der Name Kunze kommt dort nur in der Widmung vor: Für Reiner Kunze. Es geht um die Aufführung einer Kantate, das verstanden viele in der jungen DDR, denn Kantaten schrieb man damals wie später Stellungnahmen zum jüngsten Interview des Genossen Erich Honecker. Also Kantate: gedichtet vom Dichter, in Töne gesetzt vom Komponisten, gesungen von Solisten und Chor, eine Solistin wurde damals genannt, wenn eine von der Partie war, aber nicht unter dem drohenden Genderschwert. Dann war da auch der Dirigent, der alles einstudierte, sich final verbeugte, das Orchester, den Chor und die Solisten ebenfalls zum Verbeugen animierte. Eine Dame mit vier Blumensträußen erschien, verteilte sie gerecht, nur, wir ahnen es, der Dichter ging leer aus. Mag sein, dass Knobloch von der erwähnten Weihnachtskantate handelte. Sein Fazit: „Aber mir genügt das nicht. Wie oft hat denn der Dichter uns bei der Hand genommen und uns ein paar Schritte hinauf an seine Seite gezogen ...“. Ein Feuilleton, so die kleine, aber feine Botschaft, kann auch ein Blumenstrauß sein, notfalls der fünfte, und nur gedruckt.
Von der Wochenpost 53/1960 berichtet Knobloch: „Wir hingegen mussten für diese Ausgabe Stoff bieten. Reiner Kunzes „Rezension über das Publikum“ bot Einblicke in das Erleben eines Dichters, der aus seinen Werken vorliest vor recht unterschiedlichen Zuhörern.“ Ein anderes Kunze-Feuilleton über das Vorlesen hieß „Das Tütendiktat“, es ist das vorletzte in „Mir gegenüber“, gefolgt nur noch von „Hatschepsut“ von Knobloch selbst. So darf auch die letzte Passage zu Kunze aus „Das Lächeln der Wochenpost“ hier nicht fehlen: „Von Ludvik Kundera erschien „Der Versuch, Charlie Chaplin zu loben“. Dazu muss erwähnt sein, dass Reiner Kunze, ehe er sich nach seiner Heirat in Greiz niederließ, oft bei uns übernachtete, um dann mit Visum in die ČSSR zu reisen, nach Usti nad Labem, wo er erwartet wurde von Eliška, einem liebenswerten Menschen. Wir bleiben ihr dankbar. Sie wurde Kunzes Frau; damals auch nicht einfach über die Grenze hinweg. So kam es, dass sich Kunze und Ludvik Kundera eines Abends bei uns trafen. Unvergessen Kunderas Satz mit bitterer Miene: „Vor einem Parteitag setzt bei vielen der Verstand aus.“ Das behielt ich im Sinn und für mich. Bis heute und ich ließ die beiden allein.“ Heinz Knobloch und seine Frau sind unter den Wenigen, die Kunze später für ihre Freundlichkeit und Hilfe in der DDR lobte (Interview 1991).
„Vom Wesen des Feuilletons“, Utz Riese hat den Titel Jahre später einmal „klassisch-hegelnd“ genannt, bleibt für immer das Basis-Dokument im Thema „Reiner Kunze und Heinz Knobloch“. Denn erstens ist es meiner Kenntnis nach das einzige Druckwerk, in dem nicht weniger als drei Auszüge aus dem Vorlesungsmanuskript von Reiner Kunze mit dem Titel „Das Genre „Feuilleton“ in der Presse der DDR“ nachgelesen werden können. Es enthält auch den Hinweis auf eine Arbeit Kunzes aus dem Jahr 1960: „Wesen und Bedeutung der Reportage“, herausgegeben vom Deutschen Schriftstellerverband. Es enthält drei Feuilleton von Kunze, von denen zwei wiedergegeben sind nach dem gemeinsamen Buch „Mir gegenüber“, eines, „Drei Minuten“ ist direkt der Wochenpost entnommen. Von Kunze stammt das Motto vor dem Kapitel „Das sozialistische Feuilleton und sein Autor“. Es lautet: „Vom Klassenbewusstsein des Feuilletonisten und von seiner Verwurzelung in der Zeit hängt es ab, ob er die feuilletonistischen Stoffe findet, die der Zeitung helfen, Politik zu machen.“ Man mag das rückblickend peinlich finden, ein Stalin-Gedicht ist es nicht. „Unser Feuilleton bemüht sich, den Menschen an unserer Seite spüren zu lassen, dass er in die sozialistischer Gemeinschaft hineinwächst.“ So Knobloch und Kunze im Januar 1960 gemeinsam. Überflüssig, daran zu erinnern, dass „Menschen an unserer Seite“ ein Roman-Titel war? Klar doch.