Jürgen Kuczynski: Meine Orte - mein Ort

So geht es manchmal: eines stürmischen Sonntags, den Herkommen und Kalender Totensonntag nennen, liegt auf meinem Lesetisch ein DDR-Buch aus dem Jahr 1989. Es ist ein seltsames Buch, was seine Äußerlichkeiten betrifft. Es hat kein Inhaltsverzeichnis, aber eins der beteiligten Autoren. Von wem was auf welcher Seite beginnt (und endet), muss sich der geneigte Leser erblättern, damals musste man seine geneigte Kollegin, die Leserin, noch nicht eigens erwähnen, sie fühlte sich, soweit ich einst Leserinnen kennenlernte, nicht diskriminiert. Soweit sie nicht las, war sie zwar eine Kollegin, sprach aber, die Deindustrialisierung der Eben-noch-DDR thematisierend, vor laufender Kamera solche Sätze: „Zum Schluss waren wir noch zwölf Mann. Alles Frauen.“ Ganze Dichter-Akademien, von denen der Wissenschaftler und ihrer Doppelgänger zu schweigen, wären nie auf eine solch herrliche Formulierung gekommen. Des Volkes Mund? Wie auch immer: das Verzeichnis der Autoren ist alphabetisch sortiert, beginnt in diesem Falle bei Johannes Arnold und endet bei Benito Wogatzki, einer/eine mit Z ist nicht dabei. Für alle sortierten Autoren ist das Geburtsjahr angegeben, es sind 28 an der Zahl, Frauen sind sieben darunter, was einer Quote von 25 Prozent entspricht, sehr deutlich über der Zahl der weiblichen Politbüromitglieder der SED.

Aber 1989, wir erinnern uns, war die Aufmerksamkeit für das Politbüro in einem Maße gesunken, wie es heute, freilich kaum jemanden wirklich erschreckend, der Beliebtheit des viertbesten SPD-Kanzlers aller Zeiten ergeht. Einen Dokumentarfilm „Das Schweigen der Rentner“ hat niemand über jenes Jahr gedreht, ich erinnere mich eigener Aktivitäten als Redner, Vortragender im Auftrage von URANIA und KULTURBUND, die etwas wie andernorts ein Metadon-Programm sein durften in Abwesenheit echter Verlautbarungen zur Lage der Teil-Nation von ganz oben. Ganz oben schwieg, posthum könnte man es Schreckstarre nennen, vermutlich haben auch diverse Ex- und Aktualperten das so genannt und Unten hatte dennoch Fragen, die nach Antwort hechelten. Doch zurück zum Buch, das mit einem Mann des Jahrgangs 1904 beginnt, und mit einer Frau des Jahrgangs 1961 endet. Letztere heißt Kerstin Hensel, die sich zu DDR-Zeiten unter anderem mit „Hallimasch“ befasste, ersterer war eben Jürgen Kuczynski. Der schrieb und schrieb und wurde ununterbrochen und überall veröffentlicht, der hielt auch Vorträge, von 50 im Jahr schreibt er selbst. Nur sechs der 28 Autoren sind in Berlin geboren, einer in Speyer, einer in Marburg und einer sogar in Elberfeld, just Jürgen Kuczynski, was halbwegs nahe bei Barmen lag: siehe Friedrich Engels.

Aus der Vorbemerkung des Herausgebers Walter Nowojski (12. November 1931 – 8. November 2012) geht hervor, dass die Autoren aus einem aktuellen Anlass angeschrieben wurden, aus dem sich erst danach eine Anthologie ergab, eben diese: „Mein Ort. Erinnerungen – Entdeckungen – Sehnsüchte“, gedruckt schließlich im Verlag Neues Leben Berlin 1989. Ein Jahr später wäre das Buch liegen geblieben wie fast alles aus dem letzten DDR-Buch-Jahrgang 1990, ich sah einmal in einigen Leipziger Schaufenstern nahe des Theaters eine ganze Ausstellung mit solchen 90er Büchern, vollkommen verblüfft, was da alles noch erschienen war. So aber kam es noch und mich interessierten zunächst drei Männer des Jahrgangs 1925: Herbert Otto, Benno Pludra und Horst Beseler, Männer, deren 100. Geburtstage kommendes Jahr sehr wahrscheinlich keinen Boom des Wieder- oder Neuentdeckens auslösen werden, weder Rüdiger Safranski noch die Decker-Biografien-Werke werden wohl mit opulenten Lebensbildern aus der versunkenen DDR den immer schon satten Buchmarkt beglücken. Nowojski übrigens, laut Wikipedia, flog 1974 beim Fernsehen der DDR mit Hausverbot raus, wurde Chefredakteur der Neuen Deutschen Literatur (NDL) für die nächsten 15 Jahre. Ich flog 1973 ohne Hausverbot bei Freies Wort Suhl raus, wurde Hilfsarbeiter.

Aber nur für vier Jahre, das ist weniger schlimm als Chefredakteur unter Kurt Hager und Joachim Herrmann und Margot Honecker und wer auch sonst noch seinen Bautzener Senf zu allem geben durfte. Um mich geht es außerdem nicht, es geht um Jürgen Kuczynski, den ich, als er schon die 80 hinter sich hatte, zweimal erlebte. Dazu schrieb ich vor mittlerweile auch schon wieder mehr als zwölf Jahren, man kann es in meiner Rubrik LOKAL-SPLITTER unterm Datum 23. Februar 2012 leicht nachlesen. Sein Eröffnungstext in der Anthologie muss 1985 entstanden sein, was dieser Schluss-Satz nahe legt: „Man kann sich vorstellen, wie gern ich auch noch mit einundachtzig Jahren an diesem Ort verweile.“ Da das Buch 1989 erschien, darf man vermuten, dass es lange brauchte, ehe es durch alle Detektoren geschoben war. Immerhin wurde es gedruckt, obwohl Sachen drin standen schon gleich auf den ersten vier Seiten, die wenige Jahre früher noch spastisches Zucken ausgelöst hätten auf den Korridoren der Zensurmacht. „Wir haben auch Fehlerdiskussionen, die Lenin für so notwendig hielt, um vorwärtszukommen und die Fehler nicht zu wiederholen.“ So durchaus spitzbübisch Kuczynski. Dabei war allein das Wort Fehlerdiskussion lange ein Unwort. Mitte der 50er Jahre galt es als schlimmer, denn die Fehler selbst, die bisweilen Verbrechen waren.

Heute wissen wir freilich, dass auch urdemokratische Fehlerdebatten vor Wiederholung allseits beliebter Fehler nicht schützen. Im Gegenteil: Politik erweist sich als noch deutlich weniger lernfähig als der Rest der Welt. Man muss nur einmal der Frage nachgehen, warum der zitierte Lenin nach der Oktoberrevolution auf gewaltige Territorien verzichtete, nur um Frieden zu haben. Heute belehren uns ehemalige Friedensbewegte, dass Frieden nicht mehr der höchste Wert ist, dass Außenpolitik jetzt wertebasiert sei und nicht mehr von Interessen gelenkt. Sie nennen dergleichen Blödsinn Zeitenwende, man fragt sich, an welchen gruseligen Klippschulen sie außer Gesang alles andere abwählen durften, um diese Höhen zu erklimmen, von denen Realität nicht mehr zu sehen ist. „Intelligente Fehler, meinen wir, können uns oft viel weiter bringen als kleine Richtigkeiten.“ Glaubte Kuczynski. Wir wären heute schon mit kleinen Richtigkeiten zufrieden. „An diesem Ort kennen wir auch keine Tabus, und wir bemühen uns, ehrlich zu diskutieren, ohne Hintergedanken.“ Die DDR kann dieser Ort dann doch nicht gewesen sein, auch wenn Kuczynski durchaus genauere Ortsangaben macht: die Akademie der Wissenschaften, die Parteigrundorganisation im Institut, die Kreisleitung der Partei, der Kulturbund. Selbsttäuschung ist eine intellektuelle Kernkompetenz.

Neben dem Schluss möchte ich sehr gern den Einstieg zitieren: „Mein Ort? Nicht besser meine Orte? Das Leben ist so vielschichtig. Arbeit am Schreibtisch, aber auch fünfzig Vorträge ihm Jahr, viele davon in allen Teilen unserer Republik oder auch im Ausland. Doch ist nicht auch die Familie mein Ort, an dem ich seit fast sechzig Jahren gemeinsam mit meiner Frau weile? Oder der Lehnstuhl, auf dem ich als Junge Karl May, später Karl Marx las, heute auch – es sei offen gestanden – Detektivromane. Sind nicht unsere Presse, unsere Zeitschriften, in denen so viele Artikel von mir erscheinen, auch mein Ort? Ist nicht auch das Alter ein Ort, insbesondere das hohe Alter mit seiner so oft besonderen Haltung zum Leben, zur Welt? Und die Partei vor allen anderen, ein Ort, den ich mit Millionen teile.“ Das ist herrlich: die Partei, vor allen anderen, wird zuletzt genannt. Das ist auch herrlich: er meint, sich entschuldigen zu müssen, dass er Detektivromane mag. Oder er kokettiert nur mit seinen soliden 81 Jahren? Es ist das ja tatsächlich ein Alter, in dem selbst eine lebenslange Haftstrafe keine fürchterliche Drohung mehr darstellt, da kann man schon mal Wahrheiten verlauten lassen, die einem früher nicht über die Lippen gekommen wären. Faszinierend ist, wenn gewollt, seine Unterscheidung zwischen Frankreich und der Sowjetunion.

„... die Sowjetunion mit so vielen wunderbaren Erinnerungen oder Frankreich und seine Kultur.“ Kultur war es also nicht, die Kuczynski in den Sinn kam, als er an Lenins und Stalins Land dachte. Oder meinte er das gar nicht so? Was aber ist nun der Ort, den er meint? Er zitiert zu diesem Zweck Klaus Vetter (15. Februar 1938 – 2. Januar 2023), einen ihn lobenden Historiker und schreibt: „Damit ist der Ort genannt, der mir lieber und lieber geworden ist: der Ort, an dem ein Meinungsstreit in kulturvoller Form uns … vorwärtsbringt.“ Wenn etwas lieber und lieber wird, ist es, ich hatte an der Humboldt-Universität zu Berlin vier volle Semester Logik, früher einmal nicht so lieb gewesen. In der Sowjetunion, die Kuczynski zu seinem Glück nicht als Emigrant erleben musste, hatte innerparteilicher Meinungsstreit nicht selten verheerende Folgen für Leib und Leben. Was er nun zu seiner Freude erlebt: „Nie wird mit dem Holzhammer losgeschlagen, keiner meint, dass der Marxismus eine Religion und er ihr Hohepriester sei – die ganze Atmosphäre verbietet das.“ Das mag für die Kreise, in denen Kuczynski verkehrte, wohl teilweise sogar gestimmt haben, aber es war ja auch nicht die Frage, ob einer meinte, Marxismus sei eine Religion. Es ging um die tatsächliche Handhabung von Aussagen, die im religiösen Sinne Dogmen genannt worden wären.

Das waren eher selten wissenschaftliche, höchst oft aber Parteidokumenten entstammende Aussagen. Nur ist das, wie wir wissen, nicht auf jene Parteien beschränkt, die sich marxistisch-leninistisch dünken. Man muss nur auf konstante Formeln achten, die die Kommunikation für bestimmte Zeiträume dominieren. Und auch Kuczynski war vor schlichtesten Irrtümern nicht gefeit: „Wie einfach ist die Theorie des Sozialismus und wie reich und kompliziert das praktische Werden des sich entwickelnden Sozialismus!“ Wie mag er auf die Idee verfallen sein, die Theorie des Sozialismus einfach zu nennen, wo doch berechtigte Zweifel bestehen (und schon bestanden), ob es überhaupt eine Theorie des Sozialismus gab, die diesen Namen verdiente? Ich erinnere mich sehr gut meiner Studenten- und Assistenten-Zeit, da niemand die Wissenschaftlichkeit des Dialektischen und Historischen Materialismus bezweifelte, niemand die Politische Ökonomie des Kapitalismus, viele aber schon bei der Politischen Ökonomie des Sozialismus ins gedankliche Straucheln gerieten, beim so genannten Wissenschaftlichen Kommunismus aber sicher waren, dies hätte nichts mit Wissenschaft zu tun. Ich kannte sogar Menschen, die ihre hausgemachte marxistisch-leninistische Ästhetik und Kulturtheorie für „Marxismus de luxe“ hielten, kopfschüttelndes Lachen im Gefolge.

Seinem Ruf als großer Zitierer wird Kuczynski auch hier gerecht. Er nimmt einen Brief von Eva Strittmatter her, in zwei Anläufen am 22. März 1972 geschrieben, veröffentlicht im ersten der am Ende drei Bände „Briefe aus Schulzenhof“, der nur leider die Adressaten verschweigt. Man darf an einen Schriftsteller aus dem Ausland denken, aber es ist im vorliegenden Zusammenhang nicht von größerem Interesse. Kuczynski: „So sieht im allgemeinen nur ein Schriftsteller die Welt; unsere Schriftsteller verstehen es gut, den Alltag, die Realität in all ihrem Reichtum an Widersprüchen zu schildern.“ Das ist mir doch viel zu viel Verallgemeinerung: als wären „unsere“ Schriftsteller aus einem Holz, obwohl doch manche nicht einmal aus Holz waren, höchstens aus Pappe, ohne schon Pappkameraden zu sein. Es schimmert noch die auch von Kuczynski thematisierte Debatte zu den Unterschieden von wissenschaftlicher und künstlerischer Aneignung der Welt durch, die bis in die sechziger Jahre rückverfolgbar ist (mindestens), es ist zugleich milde Provokation enthalten: die Realität in all ihrem Reichtum an Widersprüchen! Als wäre nicht geistige Energie in der DDR an unsinnige Differenzierungen verpulvert worden von antagonistischen und nichtantagonistischen Widersprüchen! Auch die tapfersten Dialektiker sahen Widersprüche kaum je als Reichtum.

Strittmatter hatte es als Schock bezeichnet, dass Vorstellung und Wirklichkeit nicht übereinstimmen. „Ja, alles, was Sie sehen und erleben, ist normal, was man lernt, ist immer das Allgemeine, auf das die Erlebnisse, die man hat, nicht zu passen scheinen.“ Eigentlich wäre das ein Vorwurf an Schule, Studium und was sonst den DDR-Leben auf die Sprünge helfen sollte. Eva Strittmatter spricht natürlich aus Erfahrung, Erleben und sie hat mütterlich-fraulichen Trost bei der Hand: „Später gleicht sich das aus ...“. Da will sich Jürgen Kuczynski dann auch nicht lumpen lassen: „Wovor wir uns hüten müssen, ist, Schwierigkeiten, Mängel und Fehler zu niedrig oder zu hoch zu bewerten und nicht zu unterscheiden zwischen solchen, die uns die Weltsituation aufzwingt, und anderen, an deren wir selber schuld sind.“ Da ist er von den Bergen des Widerspruchs-Reichtums ganz nach unten in die Ebenen gestiegen, wo sich das Allgemeine ins poplig Einzelne ergießt, als da Mängel, Fehler, Schwierigkeiten wären, denen auch noch mit einer Schuldfrage beizukommen sein soll. Was Eva Strittmatter im genannten Brief auch schrieb, sei hier ergänzt: „Was man dem einen Buch nicht entnehmen kann, kann man im anderen finden. Und ein einmal veröffentlichtes Buch ist ein Stück Wirklichkeit, auch für den, der es geschrieben hat.“ Es passt einfach, natürlich ganz unbeabsichtigt.


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